Herbert Hönigsberger

 

Gespräch mit Anthony Giddens

 

 (unredigierte Fassung eines Gespräches von Herbert Hönigsberger mit Anthony Giddens, Frühjahr 2005)

 

Die Mitte-Links-Regierungen werden immer weniger – und die verbliebenen verbreiten keinen Glanz. Hat das Konzept des Dritten Weges eine strategische Niederlage erlitten?

Der Ausdruck „Dritter Weg“ bezeichnet den Versuch, das sozialdemokratische Denken im Lichte der Veränderungen in der Welt zu aktualisieren und anzupassen. Ich bin Wissenschaftler und begleite die Politik mit meiner Arbeit. ich versuche dabei, Ideen zu verschmelzen, die ich in der Debatte für wichtig halte. In diesem Sinn ist der Dritte Weg eine fortlaufende Diskussion, wie man das Mitte-Links-Denken auf den neuesten Stand bringt, um den laufenden Entwicklungen auf der Spur zu bleiben. Für mich stand oder fiel der Dritte Weg nie mit irgendeiner Regierung. Es besteht ein großer Unterschied zwischen einem Ideengebäude und der Politik einzelner Regierungen. Regierungen sind immer Gefangene ihrer Umstände, sie machen Fehler und müssen Kompromisse eingehen. Deshalb denke ich nicht, dass das Schicksal irgendeiner Regierung, einschließlich der von Blair die allgemeine Idee des Dritten Weges in irgendeiner Weise diskreditiert. Erneut möchte ich betonen: Wir brauchen mehr Revisionismus und nicht weniger, wenn wir das sozialdemokratische politische Denken erneuern wollen. Wenn wir nun die Positionen dieser Regierungen betrachten, ist zu berücksichtigen, dass es nicht eine Ursache gibt, sondern ganz unterschiedliche Muster in Europa. Eine Reihe der größeren Regierungen stehen vor unvorhersehbaren, zufällig Ereignisse und offene Entwicklungen. Unter anderen Umständen hätten wir einen weiteren demokratischen Präsidenten in Amerika haben können, denn Gore gewann seinerzeit mehr Wähler als Busch. Und in Italien spaltete sich die Linke und konnte sich nicht auf ein Programm verständigen. In Frankreich wäre Jospin ein ernsthafter Anwärter auf die Präsidentschaft gewesen, aber die Linke macht im ersten Wahlgang eine Masse Fehler. Ich denke nicht, dass es eine allgemeine und unspezifische Erklärung oder einen Trend gibt, obwohl es einige allgemeine Faktoren gibt. Insbesondere haben einige Parteien, Autoren und Multiplikatoren, die die Botschaften des Dritten Weges aufgenommen haben, versäumt, Verbrechen und innere Sicherheit und die Besorgnisse der Leute in diesem Bereich ernst zu nehmen. Einige Partien haben diese Themen zu spät aufgegriffen. Andererseits hat es einige Erfolge in Osteuropa gegeben: wenn man sich das erweiterte Europa anschaut gibt es eine ganze Reihe sozialdemokratischer Regierungen. Auf der anderen Seite kann man die Offenheit, ja Zufälligkeit von Politik am Fall Spanien studieren. Deshalb muss man meiner Meinung nach eine deutliche Unterscheidungen treffen zwischen, dem, was mit einzelnen Regierungen passiert, und einer gedanklichen Konzeption. Aus meiner Sicht haben einige dieser Regierungen – wie ich schon auf der Konferenz der Mitte-Links-Regierungen 2003 gesagt habe – Probleme bekommen, weil sie es nicht geschafft haben, ihre Politik ausreichend zu verändern, nicht weil sie sie zu viel verändert hätten. Das trifft auch auf Herrn Schröder zu, der sich sehr schwer tat, sein Programm durchzusetzen als er sein Amt antrat. Und obwohl das originäre Schöder-Blair-Manifest eine ganze Menge Schwächen aufwies, steht es in gewisser Hinsicht der Agenda 2010 recht nahe. Und sie wissen, die erblickte viel später das Licht der Öffentlichkeit als das Manifest. In einigen europäischen Ländern können wir den Umstand beobachten, dass Programme die notwendig sind – die ich jedenfalls für notwendig halte – nicht durchgesetzt werden konnten

 

Blair und Schröder sind beide genuine Praktiker des Dritten Weges. Sie selbst haben Schröder in unserem Interview 1999 als Aktivposten des Dritten Weges bezeichnet. Aber was läuft falsch in Großbritannien und Deutschland?

Ich sehe mich besser imstande, über Großbritannien zu reden als über Deutschland. Was bei uns schief läuft hat wenig mit dem innenpolitischen Programm der Labour Party zu tun. Selbst wenn man sich die letzten Wahlen anschaut, ist es den Konservativen schlecht ergangen. Im Augenblick ist der Irak der wichtigste Faktor, der die politische Stimmung beeinflusst. Aber ich habe den Eindruck, die Agenda könnte wieder in Richtung Innenpolitik zurück schwingen. Und die Labour Party könnte sogar ein drittes Mal an die Macht kommen, was ein historischer Vorgang wäre. Aber ich wiederhole, weder steht noch fällt die Debatte um den Dritten Weg mit der einen oder andern Regierung. Soweit es Herrn Schröder betrifft: Er kam als eingeschworener Revisionist an die Macht, aber einige gesellschaftliche Gruppen konnten die Reformen nur schwer akzeptieren, die einem Außenstehenden wegen der Wachstumsschwäche und der hohen Arbeitslosigkeit besonders in Ostdeutschland unausweichlich und notwendig erschienen. Diese Probleme hat man sich nicht so recht bewusst gemacht. Und vielfach wurde vorgeschlagen, zu altlinken Programmen zurückzukehren. Aber das ist natürlich nicht richtig. Wir haben hier aus meiner Sicht dieselben Probleme. Unser Gesundheitssystem muss umgebaut werden und das Bildungssystem auch. Interessant ist aber, wer wogegen opponiert.

 

Weder wollen behaupten, dass die deutsche Bundesregierung noch andere sozialdemokratische Regierungen gescheitert sind. Aber Probleme, Schwächen ja Krisen werden immer wieder offenbar. Ist dieses ernüchternde Bild eher zu viel oder eher zu wenig Drittem Weg geschuldet?

Erneut unterscheide ich zwischen Analyse und praktischer Politik. Die analytische Antwort ist klar: zu wenig. Das originäre Schröder-Blair-Manifest verlangte eine Art Liberalisierung, die unbestreitbar mit einer dynamischeren Ökonomie verbunden ist, wenn man sich Länder anschaut, die so gehandelt haben, wie die skandinavischen beispielsweise. Sicherlich ist es leichter, kleinere Gesellschaften zu reformieren als größere. Aber die skandinavische Sozialdemokratie haben die Dinge nach dem Muster des Dritten Weges geordnet. Dort ist die sozialdemokratische Vision am weitesten fortgeschritten, sind ein hohes Niveau an Liberalisierung und ein tragfähigen Niveau sozialer Gerechtigkeit vernünftig ausbalanziert worden, aber in einem praktischen Reformprozess und nicht durch Festhalten an Originalrezepturen. Die haben sehr viel herumexperimentiert, Aber im deutschen Kontext erscheint es sehr schwer, derartige Veränderungen zustande zu bringen. Die Bevölkerung mag sie nicht besonders – aber wenn Sie sich die CDU anschauen, die – soweit ich sehe – keine Alternative ist, haben sie dasselbe Programm, vielleicht ein bisschen radikaler. Ich erinnere mich, als Frau Merkel an die London School of Economics kam, propagierte sie dieselbe Form von Studiengebühren wie sie die Labourregierung ihr nahe gelegt hatte. Ich kann deshalb nicht sehen, auf welche Alternative die Wähler hoffen könnten. Und ich sehe nicht, was die analytische und konzeptionelle Alternative ist. Ich wiederhole aber auch: Ich kann nicht sehen, wie die aktuellen Probleme mit einer traditionellen linken Position gelöst werden können. Denn ein zentraler Kern der Konzeption des Dritten Weges ist der Wunsch, eine dynamische Volkswirtschaft zu schaffen, die mit der sich massiv verändernden Welt fertig wird, und gleichzeitig die Systeme der Alterssicherung zu erneuern. Überall ist der Umbau der Altersversorgung außerordentlich schwierig. Meines Wissens gibt es kein Land, das das Pensionsproblem gelöst hat. Auch das Vereinigte Königreich hat das nicht. Wir dachten, wir hätten es, aber so war es nicht. Wir dachten wir hätten die Mischung aus privater und öffentlicher Vorsorge ausbalanciert, aber der private Teile hat sich komplett fehl entwickelt. Deshalb glaube ich, eine Menge Probleme sind Probleme des politischen und institutionellen Wandels. Und wenn sich die Leute dem Prozess widersetzen, was passiert dann? Man wird unpopulär und die CDU kommt an die Macht – und folgt demselben Pfad.

 

In den letzten Jahren haben Sie immer wieder die Notwendigkeit einer Selbstkritik des Dritten Weges reklamiert und eine Reihe von konzeptionellen Weiterungen vorgenommen. Wo liegt der Unterschied von Konzeptelementen wir „civil economy“, „embedded markets“, „ensuring state“ und „co-production of public goods“ zu der Urfassung des Dritten Weges?

Es gibt zwei Unterschiede. Das eine ist, über die ursprüngliche Debatte über den Dritten Weg nachzudenken. Ich denke man sollte den Dritten Weg nicht als geschlossen Sache, als endgültige Konzeption ansehen. Es ist einfach eine Bezeichnung für den sozialdemokratischen Revisionismus, der überall auf der Welt vonstatten geht und nicht auf das ein oder andere Land beschränkt ist. Früher wurde die Debatte durch die Notwendigkeit angetrieben, dem vorherrschenden neoliberalen und thatcheristischen Positionen etwas entgegenzusetzen, die man in vielen internationalen Institutionen vorfand, beim internationalen Währungsfonds ebenso wie in der Politik einer ganzen Reihe von Staaten. Sie wurde durch das Bedürfnis angetrieben, diesen Positionen etwas entgegenzusetzen und schloss Reaktionen auf den Neokonservatismus in den internationalen Beziehungen ein. Es wurde zugelassen, dass sich diese Positionen durchsetzen und die Führung übernahmen, während die Linke dazu tendierte, rückwärtsgewandt zu reagieren und auf den Positionen zu verharren, die sie immer schon hatte. Damals gab es sehr viel, wogegen wir waren und nicht sehr viel wofür wir eintraten. Aber wenn man Wahlen gewinnen will, muss man doch mehr positive und konstruktive Vorstellungen entwickeln. Zweitens habe ich in dieser Diskussion versucht, Konzepte zusammenzuführen, die effektiver als die waren, die wir vorher hatten. Zum Beispiel wurde ich sehr durch die deutsche Diskussion über den gewährleistenden Staat beeinflusst, der mir eine bessere Konzeption zu sein scheint als der nur ermöglichende Staat. Dieser Staat soll den Bürgern Ressourcen, Bildung und was auch immer geben, dann aber sind die Bürger auf sich selbst gestellt. Aber in Deutschland wird auch verlangt, dass der Staat bei den Leistungen für die Bevölkerung gewisse Standards garantiert. Und die Bürger nicht mit ihren Problemen allein lässt. Und die Idee eingehegter, regulierter Märkte ist wichtig, weil sie nicht nur eine Antwort auf freie Märkte ist sondern auch verdeutlicht, welche Art von Märkten wünschenswert sind. Und wenn man sich das auf internationaler Ebene anschaut, hat sich beispielsweise die Weltbank auf diese Vorstellung von eingehegten, regulierten Märkten als Entwicklungsbedingung für ärmere Länder zubewegt. Bei der Koproduktion öffentlicher Güter und Dienste, sind die Autonomie der Individuen und das Bedürfnis an getesteten und standardisierten Leistungen der Regierungen und anderer Dienstleister auszubalancieren. Aber ich betrachte all das nicht als Weg, die Probleme bestimmter Politiker zu lösen. Abgesehen davon bin ich ein enger Anhänger von Herrn Blair und will natürlich, dass er und New Labour weiter gedeihen.

 

Wo würden Sie sich als politisch-konzeptiver Intellektuellen und als Sozialwissenschaftler Fehleinschätzungen vorwerfen?

Nun, ich habe gerade zwei erwähnt. Die Tendenz – und das war nicht nur mein Problem und auf mich beschränkt – eine reaktive Position einzunehmen und nicht stärker das positive konzeptionelle Gerüst zu betonen und hervorzuheben, an dem sich eine erneuerte Sozialdemokratie hätte aufrichten  können. Aber ich denke nicht daran, die meisten Positionen, die ich ausgearbeitet habe, zu revidieren. Eine Reihe von Kritikern hier an der Debatte um den Dritten Weg halte ich für mehr oder weniger hohl, denn sie entleeren das Konzept. Es ist dasselbe in Deutschland oder in Frankreich, wo Jospin „Herr Weder-Noch“ genannt wurde. Der Dritte Weg wurde als eine Art Nicht-Festlegung, als unverbindlicher Mittelweg gedeutet, aber ich habe dieses Konzept nie so gesehen. Es wurde intellektuell durch die Notwendigkeit angetrieben, auf die Globalisierung und globale Märkte, auf die neue Ökonomie und die Dienstleistungsökonomie, auf den Aufstieg des Individualismus und die demographischen Veränderungen in der Welt zu reagieren. Das mussten alle Parteien. Und das sehe ich heute noch so. Ich sehe immer noch diese großen Veränderungen, auf die wir reagieren müssen. Dazu kommt ein Phänomen jüngeren Datums, dass wahrscheinlich niemand von uns hinlänglich vorausgesehen hat, der neue Terrorismus. Das ist ein erstrangiger Aspekt der neuen Welt, dem man weder mit Beschwichtigung noch Antiamerikanismus begegnen kann.

 

Was hat die Globalisierung verändert? Haben sich Sozialwissenschaftler und die politische Klasse gleichermaßen getäuscht, wie Chaos, Risiken, Unwägbarkeiten, wie viel gewöhnlicher Kapitalismus pur in den Globalisierungsprozessen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem Ende des Kalten Krieges wieder durchbrechen?

Als ich um 1991 begann, mich in die praktische Politik einzumischen, konnten sie wirklich keinen einzigen Politiker davon überzeugen, über Globalisierung wenigstens zu diskutieren. Es war ziemlich schwierig. eine Art Diskurs über Globalisierung auf die politische Tagesordnung zu setzen. Jetzt haben wir die umgekehrte Problematik. Heute schwadronieren alle von Globalisierung, und weil alle darüber schwätzen, ist eine Menge vom eigentlichen Kern und seiner Bedeutung verloren gegangen. Für mich ist Globalisierung – verstanden als wechselseitige Abhängigkeit – wahrscheinlich die einzige wirklich wichtige Veränderung, die stattgefunden hat. Aber man kann die Globalisierung nicht für alles verantwortlich machen. Dazu neigen allerdings viele Politiker. Aber Phänomene wie der Aufstieg der new economy, der demographische Wandel, die Veränderungen in den familiären Beziehungen, sind nur lose mit der Globalisierung verknüpft. Wenn sie eine präzise und enge Definition der Globalisierung wollen, dann könnte sie lauten: die neue wirtschaftliche Abhängigkeit auf den Weltmärkten. Und auf denen müssen, das wissen wir, Volkswirtschaften wie die deutsche oder die britische wettbewerbsfähig sein. Und wir wissen, dass mit dem Aufstieg der asiatischen Volkswirtschaften ernsthafte Probleme für die Europäer verbunden sind. China ist nicht nur ein Mythos. Globalisierung umfasst also verschiedene Aspekte, der globale Terrorismus ist so sehr Bestandteil der Globalisierung wie die anderen Gesichtspunkte, die gemeinhin mit ihr verbunden werden. Aber ich habe den Eindruck, dass die Anti-Globalisierungsdebatte einen Umschwung erfahren hat. Denn viele Leute, die ursprünglich behauptet haben, sie seien gegen Globalisierung, haben sich ganz zu recht umorientiert und sagen nun: Wir sind eine Bewegung für globale soziale Gerechtigkeit. Das ist aus meiner Sicht ein positiver und viel effektiverer Weg, die Sache in den Griff zu kriegen.

 

Können Hoffnungen auf Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit durch nationale Arbeitsmarkreformen – wie sie derzeit in Deutschland versucht werden – in einer hochkonkurrenten globalen Ökonomie ohne globale makroökonomische Koordinierung realistischerweise noch im Zentrum sozialdemokratischer Politik stehen?

Ich denke immer noch, dass wir in Europa zu einer Balance zwischen einem vernünftigen Maß an Flexibilität auf den Arbeitsmärkten und sozialer Sicherheit kommen müssen. Der technologische Wandel und andere Veränderungen sind in Rechnung zu stellen. Ich glaube kaum, dass jemand Erfolg haben wird, der weniger zustande bringt als in einigen der Länder, die ich vorhin erwähnt haben, die Sozialdemokraten in den skandinavischen Ländern, die für den Kompromiss zwischen diesen beiden Elementen sehr gute Pionierarbeit geleistet haben. Natürlich ist dieser Kompromiss in großen Staaten viel schwerer herzustellen. Und wenn man sehr rigide regulierte Arbeitsmärkte vorfindet, dann will eine Reihe von Interessengruppen keine Veränderungen. Und vielleicht gehören Sie auch zu diesen Interessengruppen, wenigstens sehe ich das so. Flexibilität kann ein Medium der sozialen Gerechtigkeit sein, wenn rigide Arbeitsmärkte Leute aussperren. Solche Arbeitsmärkte können die Arbeitslosigkeit hochtreiben. Und das halte ich für keinen Mechanismus der sozialen Gerechtigkeit.

 

Wie steht es um die makroökonomischen Rahmenbedingungen. Müssen sie neu justiert werden?

Jedermann akzeptiert, dass wir einen allgemeinen Rahmen makroökonomischer Steuerung brauchen. Aber der wird nicht aussehen wie in den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, denn die globalen Bedingungen lassen das nicht zu. Wir verfügen über eine limitierte Zahl von Instrumenten, um zu intervenieren, und das Instrumentarium der Länder der Euro-Zone ist sogar weniger begrenzt. Ihr Einsatz zum Besseren oder zum Schlechtern ist die Frage. Aber obwohl eine übergreifende makroökonomische Steuerung mittels dieser Instrument notwendig ist, kann man nicht damit fortfahren und mit nationalen Steuerungsinstrumenten in offenkundig transnationale Prozesse intervenieren. Zur sicheren alten Welt gibt s kein Zurück mehr.

 

Soziale Gerechtigkeit ist eine wesentliche regulative Idee jeder sozialdemokratischen Programmatik. Der tote Philosoph hier auf dem Londoner Highgate-Friedhof war der Ansicht, dass diese Idee im Kapitalismus eine Illusion ist. Müssen wir, die ebenso aufgeklärten wie desillusionierten Angehörigen der Mittelklassen und des Mitte-Links-Spektrums an den Gedanken gewöhnen, dass Marx möglicherweise Recht behalten wird? Oder gibt es eine Fassung von sozialer Gerechtigkeit, die heutzutage noch praktische Gültigkeit beanspruchen kann?

Ich ziehe es vor, den Gentleman auf dem Highgate-Friedhof ruhen zu lassen, denn niemand weiß, was Marx gedacht hätte. Und niemand weiß, ob Marx nicht selbst Revisionist geworden wäre. Denn zu guter letzt bekannte er, kein Marxist zu sein, womit er nahe legte, dass er gegen Dogmatismus sei. Und wenn man auf die moderne Geschichte der Sozialdemokratie schaut, die natürlich stark durch das beeinflusst wird, was in der deutschen Sozialdemokratie geschieht, dann stand immer soziale Gerechtigkeit in einer gemischten Ökonomie im Vordergrund. Aber die zeitgemäße Vorstellung einer gemischten Ökonomie unterscheidet sich von der Vorstellung der Vergangenheit, denn die Wurzeln der Armut sind heute andere, die sozialen Gruppen, die Armut erleiden, sind andere, und insgesamt ist die ganze Komposition der Gesellschaft, in der wir heute leben, anders. Um soziale Gerechtigkeit herzustellen, brauchen wir zwei Dinge: Wir müssen nach wie vor auf traditionelle Mechanismen zurückgreifen, denn progressive Besteuerung macht einen substantiellen Unterschied, wir wissen, dass die Einkommen nach Steuern egalitärer sind als vor Steuern. Aber wir müssen auch anerkennen, dass wir eine ganze Menge gezielter Politiken für ausgeschlossene Gruppen bzw. für Gruppen brauchen, die Gefahr laufen, abgehängt zu werden. Und einige dieser Gruppen sind ziemlich neu, die Probleme der Kinderarmut oder von allein erziehenden Elternteilen beispielsweise sind in einigen europäischen Ländern viel ausgeprägter als sie schon mal waren. Diesen  Phänomen kann man nicht mit traditionellen Einkommenstransfers begegnen, man muss experimentelle Pfade einschlagen, wie sie es hier beispielsweise mit negativer Einkommenssteuer als einem Weg versucht haben, gleichzeitig Beschäftigung zu generieren und die soziale Gerechtigkeit zu stärken. Und wenn man in Rechnung stellt, dass eines der Hauptanliegen des sozialdemokratischen Denkens ist, Wege zu finden, wie die Wirtschaft dynamisiert, Jobs geschaffen und gleichzeitig soziale Gerechtigkeit hergestellt werden können, dann ist das die Politik, die wir anvisieren sollten. Aber es sollte tatsächliche, wirkliche soziale Gerechtigkeit sein. Wie ich vorhin sagte: Wenn man hohe Arbeitslosigkeit und Arbeitskräfte hat, die dauerhaft drinnen und draußen sind, kann man nicht einfach behaupten, das stelle soziale Gerechtigkeit  her.

 

Das Konzept des Dritten Weges öffnete das sozialdemokratische Spektrum hin zu den Mittelklassen. Aber es muss sich den Verdacht gefallen lassen, Wegbereiter und Türöffner für neoliberale Ideen zu sein. Andrerseits gibt der Dritte Weg die linke Flanke preis und eröffnet – so die mögliche Entwicklung in Deutschland – Raum für eine neue Alte Linke. Ist der Dritte Weg als Waffe der Sozialdemokratie gegen den Neoliberalismus stumpf geworden?

Ich hoffe das nicht. Ich interpretiere allerdings den Dritten Weg nicht die Idee, nach der  Märkte nie funktionieren, sondern als Idee, dass Gesellschaft nicht ausschließlich nach Marktkriterien funktionierten kann. Umgekehrt ist es die thatcheristische, die reaganistische Weltsicht, in der man in der Tat keine Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit und keinen entwickelten Staatsapparat braucht. In dieser Weltsicht kann man den Staat soweit wie möglich schrumpfen lassen und die Leute sich selbst überlassen. Ich widerspreche diesen Ideen so nachdrücklich wie jedermann, der sich auf Seiten der alten Linken oder weiter links einordnet, was auch immer das bedeuten mag. Aber ich denke auch, dass eine Unterscheidung wesentlich ist, die die alte Linke nicht gemacht hat, nämlich die zwischen Staat und öffentlicher Sphäre. Als moderner Sozialdemokrat versuchen sie, der öffentlichen Sphäre und der Bereitstellung öffentlicher Güter breiten Raum einzuräumen. Aber manchmal können öffentliche Güter nicht durch den Staat am besten produziert werden, es sei denn, man wagt sich an eine Staatsreform. Manchmal erfüllt eine Privatisierung den öffentlichen Zweck besser als traditionelle Formen öffentlicher Grundversorgung. Beispielsweise glaube ich nicht, dass irgendjemand, den ich kenne, bezweifelt, es sei sinnvoll gewesen, die Telekommunikation zu privatisieren. Wenn man eine Telefon wollte, konnte es hier bei uns vor nicht allzu langer Zeit zwei bis drei Monate dauern, bis man ein Telefon hatte. Wir hatten keine Wahl, es gab nur dieses verdammte schwarze Dings. Wer möchte dorthin zurück? Wirklich nicht viele. Deshalb ist es absurd, jede Privatisierung bedeute sofort und ausschließlich nur Neoliberalismus, oder das jede Nutzung von Marktstrukturen von vornherein bedeute, man sei en Neoliberaler. Das ergibt keinen Sinn. Ich denke immer noch, dass ein traditioneller, bürokratischer Staat ebenso sehr eine Barriere gegen soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Effizienz errichtet wie eine nackte liberale Position. Aber deshalb wird mir von der Seite, die ich als alte Linke deklariere nach wie vor heftig widersprochen.

 

Ist der Sozialdemokratie in Großbritannien ebenso wie in Deutschland vor lauter Reformpolitik das Mitgefühl für ihre traditionellen Wählerschichten abhandeln gekommen? Versteht die Sozialdemokratie die Unterschichten nicht mehr?

So sollte man es nicht fassen. Denkt man als Soziologie, dann weiß man, wie sehr sich die Klassenstruktur aller westlichen Industrieländer über einige Generationen hinweg geändert hat. Vor einiger Generation waren 40 Prozent der arbeitenden Bevölkerung Arbeiter, heute sind es nur noch 16 Prozent. Über 80 Prozent der Leute arbeiten in Dienstleistungsunternehmen. Nicht alle verrichten qualifizierte Arbeiten, aber zwei Drittel haben qualifizierte Jobs. Deshalb ist die Klassenkomposition sehr verschieden von der der Vergangenheit. Und keine linke oder Mitte-Links-Partei kann gedeihen, außer als kleinere Koalitionspartei, die nur diejenigen anspricht, die Sie Unterklassen nennen, wenn das einfache Arbeiter oder unqualifizierte Dienstleister meint. Das ist keine Koalition, die noch effektive politische Macht erringen kann.

 

Was ist mit dem Mitgefühl? Die soziologische Analyse ist eine Sache. Heißt das auch keine Signale mehr „Wir sind auf eurer Seite“?

Wenn man links oder mitte-links steht, dann wollen Sie das den Armen immer sagen. Aber zur selben Zeit brauchen Sie politische Macht, um wirklich etwas für sie tun zu können. Um die politische Macht zu erringen, braucht man einen substantiellen Anteil der Wählerstimmen, weswegen man auch die Interessen der breiteren Gesellschaft aufgreifen muss. Ich habe für Klassenpolitik nicht viel übrig. Ich hänge der Idee der sozialen Inklusion an und der Idee, dass die Leute mit den höchsten Lebensrisiken nicht wesentlich - in einem gewissen Umfang natürlich schon, aber nicht nur – klassengebunden sind: Geschiedene Frauen beispielsweise, die sich selbst überlassen werden und in der Armut enden, das ist nicht einfach und ausschließlich ein Klassenphänomen. Dasselbe gilt für große Anteile der Probleme von Kindern. Aber selbst alle Probleme, denen sich arme Leute gegenübersehen, sind nicht einfach klassenspezifisch. Ich bin sicher, Sie sehen das anders. Aber ich habe für Klassenpolitik nicht viel übrig. Es ist eine Politik zu machen, die amen Leuten hilft, aber im Namen der Mehrheit! Und sie müssen die Mehrheit dahin bringen, zu tolerieren, was sie für die armen Leute tun wollen. Oder Sie verlieren die Macht.

 

Dem Projekt des Dritten Weges liegt ein harmonisches Weltbild zugrunde. Die Erfahrungen mit der rot-grünen Regierung in Deutschland sind alte und neue gesellschaftliche Spaltungen, rücksichtslose ökonomische Interessen, gesellschaftliche Egoismen. Unterschätzt nicht auch das reformierte Konzept gegnerische politisch-ideologische Kräfte sowie die Trends zu gesellschaftlicher Desintegration? Beurteilt es nicht die Kooperationsbereitschaft von Unternehmern, die Beteiligungsfähigkeit und -bereitschaft der Bürger viel zu optimistisch?

Soweit es in der Politik Spaltungen gibt, erkennt jeder auf der Linken in allen Ländern die Spaltung zwischen dem, was man eine Modernisierungslinke und dem, was man alte Linke nennen könnte. Das erscheint praktisch jedermann so, deshalb glaube ich auch nicht, das irgendwer auf der Linken einen Konsens erwartet hat. Den gab es nie und der wird wahrscheinlich auch nie stattfinden. In der Gesellschaft als Ganzer haben wir bekanntlich jede Menge Kräfte, die Spaltungen und Zersplitterung produzieren. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass irgendjemand, irgendeine Person, die sich dem Konzept des Dritten Weges verbunden fühlt, dieses Phänomen oder das Problem der politischen Gegensätze unterschätzen würde, der wir uns seit 20, 25 Jahren bewusst sind. Ich bin nicht ganz sicher, worauf Sie sich beziehen. Sie glauben, gesellschaftliche Spaltung steht nicht im Mittelpunkt? Ich jedenfalls habe nicht die Vorstellung, es könne einen automatischen gesellschaftlichen Konsens geben, aber sehr wohl die die, dass man diejenigen zusammenbringen muss, die sie wählen und unterstützen sollen, wenn sie eine Politik versuchen, die mit sozialer Gerechtigkeit ebenso vereinbar ist wie mit wirtschaftlicher Effektivität, was geboten ist. Im Vereinigten Königreich übrigens hat New Labour einen beträchtlichen Umschwung der öffentlichen Meinung erreicht, denn jetzt sind die Torries gezwungen, auf einem Terrain in einen Wettbewerb einzutreten, auf dem es um die bessere Versorgung mit öffentlichen Diensten geht und nicht darum, wie man sie zurück fährt. Nun, das ist wirklich ein Stimmungsumschwung, die Gesellschaft ist sozialdemokratischer geworden. Jedenfalls sieht es so aus. Eine thatcheristische Position wird in den Umfragen nur von etwa 25 Prozent der Bevölkerung vertreten. Die Mehrheit ist davon überzeugt, dass man anständig öffentlich finanzierte öffentliche Dienstleistungen braucht.

 

Auf besagter Regierungskonferenz haben Sie Unsicherheit, Ungewissheit, Nicht-Vorhersehbarkeit als eine wesentliche Grundkonstante der Politik betont. Politik sei immer auch ein Experiment. Aber die sozialdemokratische Politik pflegt nach wie vor und ungebrochen den großen Gestus der gesellschaftlichen Steuerung, der umfassenden Gestaltung und Machbarkeit. Ist Ihre Mahnung bei der Politik nicht angekommen? Kann die Politik sie überhaupt akzeptieren?

Ich habe nicht gesagt, dass eine Regierung nicht die Richtung einer Gesellschaft beeinflussen kann. Ich denke, sie kann es und sie sollte es auch tun. Ich betone immer, dass nationale Politik wichtig bleibt, auch in einer globalisierten Welt. Wenn man links steht, dann glaubt man an eine aktiv handelnde Regierung – ob sie ihre Macht nun national oder transnational ausübt. Aber auf unser aller Leben wirkt eine neue Form der Ungewissheit zurück. Ich behaupte nicht, dass man nicht auch darauf reagieren kann. Der globale Terrorismus ist eines der Beispiele für die massiven Differenzen über richtige Reaktionen, aber jedenfalls wird auf ihn reagiert. Die Welt in der wir nun leben, wird uns immer wieder überraschen. Plötzlich werden Phänomene auf einem Nebenschauplatz auftreten, die wir so nicht antizipiert haben. Die meisten Regierungen, da haben Sie Recht, neigen nicht dazu, darüber viel nachzudenken. Sie verdrängen derartige Phänomen lieber bis sie plötzlich damit konfrontiert werden.

 

Aber bleibt ein Unterschied zwischen einer aktiven Regierung und einer Regierung, die ihre Macht überschätzt, einer Macho-Regierung.

In unseren Regierungen wurde nicht viel strategisch nachgedacht, aber als sich die Akteure dieser Probleme bewusst wurden – besonders nachdem die Ölkrise die Regierung überrascht hat – wurde auch in der Zivilverwaltung eine Strategieabteilung eingerichtet. Deren Aufgabe sollte sein, mehr in längeren Zeithorizonten zu denken und zu versuchen, einige der skizzierten Entwicklungen zu antizipieren.

 

Geben Sie uns bitte zum Schluss einen Ausblick: Was müssen Blair, vor allem aber Schröder tun, um die nächste Wahl zu gewinnen?

Nun, es ist wirklich nicht mein Geschäft, was einzelne Politiker tun müssen. Im Fall des Vereinigten Königreiches muss Blair die zweite Hälfte der Legislaturperiode überstehen, Und ich denke, er wird sie trotz der Nachwirkungen des Patton-Reports (Nordirland-Bericht) überstehen. Was aus ihm wird hängt zu einem gewissen Teil davon ab, ob es im Irak zu weiteren Tragödien kommt, oder ob der Irak einen stabileren Kurs einschlägt. Negativ wird derzeit Blairs Zukunft eher durch außenpolitischen Ereignisse beeinflusst als durch innenpolitische, wo er nach wie vor die eindeutige Oberhoheit über die Agenda hat. Im Wesentlichen macht es Tony Blair derzeit richtig. Das heißt, mit einem reformatorischen Ansatz die öffentlichen Dienstleistungen voranbringen, die Fragen der Wahlfreiheit im Bildungswesen und im Gesundheitssystem zu thematisieren und kontinuierlich Geldmittel in beide Systeme zu pumpen. Wir sind eines der wenigen Länder in Europa, wo die Staatsquote gestiegen ist, von zirka 39 auf 42 Prozent, nicht sehr weit hinter Deutschland. Das ist ein signifikanter Wandel. Diese Veränderungen sind nachhaltig und ich denke, dass Blair mehr oder weniger auf dem Weg zu einer dritten Amtsperiode ist. Aber im Irak kann Alles passieren. Die Position von Gerhard Schröder ist wesentlich schwieriger. Die Reform, die Deutschland braucht, sind schwer zu bewerkstelligen und noch schwerer zu kommunizieren. Und noch jedes Wahlvolk bestraft die Regierung dafür, was die Gesellschaft wirklich braucht. Aber man weiß nie und jede Form der Genesung ist denkbar. Kann sein, dass die Reformen noch breit akzeptiert werden. Blair hatte auch jede Menge Ärger, bekam es soweit aber hin, ihn durchzustehen. Und ich kann nicht erkennen, dass die Konservativen wirklich zu ernsthaften Herausforderern aufsteigen könnten. Aber ich kann leichter über das Vereinigte Königsreich reden als über Deutschland, für das ich kein Spezialist bin.