In der polaren
Verklammerung von Totalitarismus und Demokratieentwurf kann man, so unser
Autor, eine zentrale Denkfigur von Hannah Arendt beobachten. Arendt fragte auch
im Falle des Nationalsozialismus nach der persönlichen Verantwortung – nicht
nur derer da oben, sondern auch jener da unten. Sie setzte sich mit der Figur
des »Spießers« auseinander, mit dem infizierten Denken, mit der auffallenden
Gefühllosigkeit der deutschen Nachkriegsgesellschaft, aber auch mit der
Bewährung des Individuums unterhalb glorifizierter Heldenschaft. Hannah Arendt
warnte später aus guten Gründen vor totalisierenden Tendenzen in den
repräsentativen Demokratien und betonte die Herausforderung der
Demokratisierung der Demokratie. In ihrem tastenden, experimentellen Denken war
kein Platz für Patentrezepte. Aus der Freiheit des Handelns wollte sie
niemanden entlassen.
In seinem Tagebuch
eines Demonstranten schreibt der auch bei uns nicht unbekannte ukrainische
Schriftsteller Juri Andruchowytsch über die dramatischen Tage nach dem 21.
November in Kiew: »Es ist wie bei einem Pendel: Die Stimmung schwankt zwischen
Euphorie und Depression. Zu langer Aufenthalt in der Redaktion von Krytyka
fördert Unsicherheit und Zweifel. Wir reflektieren und kritisieren, werden von
Enttäuschung überwältigt, von Skepsis, Ironie, bestärken uns gegenseitig in
unserer Verzweiflung. In solchen Momenten muss man auf den Majdan gehen. Das
ist die beste Therapie gegen Unglauben und Müdigkeit. Ohne den Majdan kann ich
nicht mehr leben; keine Nacht, in der ich nicht von ihm träume. Das Wort ›wir‹
nimmt auf dem Majdan eine völlig neue, überraschende Bedeutung an.« (NZZ,
9.12.04)
Zweifellos eine schöne kleine
Geschichte. Was das mit Hannah Arendt zu tun hat? Bei Hannah Arendt geht es
genau um solche Geschichten. Um eben diesen spontanen Schritt zu den anderen
hin – aus der Absonderung, wie erlesen auch immer, in den gemeinsam
erschlossenen und gemeinsam gehaltenen Raum des politischen Handelns, wie neu
und ungewohnt auch immer. Im demokratischen Momentum von Kiew scheint er für
einmal leicht zu fallen. Aber er ist unersetzlich. Und er lässt sich niemals
delegieren. Man muss den Schritt immer persönlich machen. Das ist für Hannah
Arendt das handfeste, praktische, physische Kriterium für politische Freiheit.
Wo die Menschen den Schritt unterlassen – und sei es nur, weil sie ihn unter
den Bedingungen einer gut geölten Parteiendemokratie für unnötig oder ineffizient
oder gar illusionär halten, kann man nach Hannah Arendt nicht ernsthaft von
politischer Freiheit sprechen.
Hier gleich noch eine von
diesen raren kleinen Geschichten, diesmal aber eine von Hannah Arendt selbst.
Sie spielt 1946 in Moskau und entsprechend tief oder besser gesagt elementar
setzt sie notgedrungen an:
»Ganz anders liegt der
Fall Pasternak. Er ist einzigartig, denn in ihm handelt es sich um den einzigen
großen Dichter aus der frühen Revolutionsperiode, der wie durch ein Wunder
nicht vernichtet wurde und der, weil er die ungeheure Kraft hatte, Jahrzehnte
zu schweigen, in seiner dichterischen Substanz nicht zerstört worden ist. Für
die Hoffnung, dass ›Orwells 1984 nur ein Albtraum ist‹, ist er die einzige
lebendige und herrliche Stütze. Aber in den Bereich dieser Hoffnungen gehört
auch die außerordentliche Anekdote, die von dem offenbar einzigen öffentlichen
Auftreten des Dichters unter der totalen Herrschaft berichtet wird. Pasternak,
so hören wir, hatte in Moskau einen Vorleseabend angekündigt, zu dem sich eine
ungeheure Menschenmenge eingefunden hatte, wiewohl doch sein Name nach all den
Jahren des Schweigens nur noch als der des Übersetzers von Shakespeare und
Goethe ins Russische bekannt war. Er las aus seinen Gedichten, und es geschah,
dass ihm beim Lesen eines alten Gedichtes das Blatt aus der Hand glitt: ›Da
begann eine Stimme im Saal aus dem Gedächtnis das Gedicht weiterzusprechen. Von
mehreren Ecken des Saales stiegen andere Stimmen auf. Und im Chor endete die
Rezitation des unterbrochenen Gedichts.‹ ...«(1)
Bevor wir uns ihrem
Verständnis von diesem »Wir«, diesem öffentlichen »Zusammenhandeln« zuwenden
und der politischen Macht, die dabei entstehen kann, sollten wir uns den
dunklen Erfahrungshintergrund vergegenwärtigen, vor den oder gegen den Hannah
Arendt ihre Vorstellung von Spontaneität, von politischem Handeln und
schließlich auch von Republik stellt. Unübersehbar ist ja das Gegeneinander
oder besser die polare Verklammerung von Totalitarismusanalyse und
Demokratieentwurf in diesen Texten. Es handelt sich um die eigentliche
Inspirationsquelle dieses Denkens. Und wir werden noch sehen, dass ein
Zwei-Phasen-Schema – zuerst, Ende der Vierzigerjahre, die Arbeit am
Totalitarismusbuch, dann in den späten Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren,
die Entdeckung der Freiheit – ihm nicht gerecht würde. Ich spreche hier
ungeniert von Totalitarismus, dabei werde ich mich im Folgenden – schon aus
schlichten Kompetenzgründen – auf das NS-Regime beschränken oder auf das, was
Hannah Arendt darüber zu sagen hat. Und hier auch nur auf ein Problem, das mir
immer noch als besonders irritierend erscheint, als quälend ungelöst – auch
nach Hannah Arendt noch, die darüber mehr und furchtloser nachgedacht hat als
andere Autoren, die ich kenne: nämlich die Frage der persönlichen Verantwortung
in solchen politischen Verhältnissen.
Das wäre also meine
Gliederung – erster Punkt:
Wie sieht Hannah Arendt
jene unzähligen Menschen, die in einem Unrechtssystem wie dem
nationalsozialistischen im Prinzip tun, was man von ihnen verlangt? Oder sogar
noch mehr, als man ihnen abverlangt? Und wie bewertet oder gewichtet sie die
persönliche Verantwortung dieser Leute?
Zweiter Punkt: Wie steht es um die Gegenkräfte? Welche Aussichten
für das freie, aber nicht unorganisierte Eingreifen von unten oder von außen
jenseits der etablierten Entscheidungsmechanismen kann Hannah Arendt dann in
der Demokratie westlichen Typs selber ausmachen? Der Durchbruch zur Demokratie
dauert nicht ewig. Auch wenn er tatsächlich gelingt, nicht. Die hinreißenden
Szenen in Kiew sind vorbei. Was bleibt nachher davon noch übrig? Müssen solche
hohen Zeiten der demokratischen Massenpolitisierung nicht Episode bleiben?
Beide Male geht es also
nicht in erster Linie um die Eliten, auch nicht um die Intellektuellen, sondern
um die namenlose Masse – einmal der kleinen und mittleren Funktionsträger, ohne
die das NS-Regime seine Ziele nicht erreicht hätte; dann der einfachen Bürger,
die in aller Regel auch in der liberalen, rechtsstaatlich verfassten Demokratie
nur »repräsentiert« werden, statt höchstpersönlich in der Politik präsent zu
sein. Nur dass diese Menschen bei Hannah Arendt nicht als die sprichwörtliche
»breite Masse« figurieren und sich mit ein paar fragwürdigen, hochmütigen
Klischees abgetan sehen – die gleichgeschalteten Untertanen Hitler-Deutschlands
nicht, und die schleichend oder kalt entmachteten Bürger Amerikas schon gar
nicht.
1.
Zu den bekanntesten und
wirklich gelesenen Texten Hannah Arendts gehört zweifellos »Besuch in
Deutschland« aus dem Jahre 1950.(2) Im Auftrag der Commission on European
Jewish Cultural Reconstruction reist Hannah Arendt von August 1949 bis März
1950 durch Deutschland, und es ist ein bitteres und böses Wiedersehen:
»Das einfachste Experiment
besteht darin, expressis verbis festzustellen, was der Gesprächspartner schon
von Beginn der Unterhaltung an bemerkt hat, nämlich dass man Jude sei. Hierauf
folgt in der Regel eine kurze Verlegenheitspause; und danach kommt – keine
persönliche Frage, wie etwa: ›Wohin gingen Sie, als Sie Deutschland
verließen?‹, kein Anzeichen für Mitleid, etwa dergestalt: ›Was geschah mit
Ihrer Familie?‹, sondern es folgt eine Flut von Geschichten, wie die Deutschen
gelitten hätten (was sicher stimmt, aber nicht hierher gehört); und wenn die
Versuchsperson dieses kleinen Experiments zufällig gebildet und intelligent
ist, dann geht sie dazu über, die Leiden der Deutschen gegen die Leiden der
anderen aufzurechnen, womit sie stillschweigend zu verstehen gibt, dass die
Leidensbilanz ausgeglichen ist ...«
Wie frisch sich das heute
liest! Oder heute wieder. Nur die kurze Verlegenheitspause wirkt nicht mehr
ganz so aktuell. Die »Unfähigkeit zu trauern« gehört an sich zum eisernen
Bestand bundesdeutscher Erinnerungsarbeit – gegenwärtig scheint man dem
altbewährten Topos publizistisch und in den Massenmedien sogar ganz ungeahnte
neue Möglichkeiten abgewinnen zu wollen. Aber ich wüsste nicht zu sagen, wo die
Verweigerung des Denkens hinter dem Trauerdefizit so klarsichtig aufgezeigt
worden wäre wie in dieser kleinen Gelegenheitsarbeit. Die auffallende
Gefühllosigkeit in Nachkriegsdeutschland ist schlimm, aber sie ist noch nicht
das Schlimmste:
»Der wohl
hervorstechendste und auch erschreckendste Aspekt der deutschen Realitätsflucht
liegt jedoch in der Haltung, mit Tatsachen so umzugehen, als handele es sich um
bloße Meinungen. Beispielsweise kommt als Antwort auf die Frage, wer den Krieg
begonnen habe – ein keineswegs heiß umstrittenes Thema –, eine überraschende
Vielfalt von Meinungen zu Tage. In Süddeutschland erzählt mir eine Frau von
ansonsten durchschnittlicher Intelligenz, die Russen hätten mit einem Angriff
auf Danzig den Krieg begonnen – das ist nur das gröbste von vielen Beispielen.
Doch die Verwandlung von Tatsachen in Meinungen ist nicht allein auf die
Kriegsfrage beschränkt; auf allen Gebieten gibt es unter dem Vorwand, dass
jeder das Recht auf eine eigene Meinung habe, eine Art Gentlemen’s Agreement,
dem zufolge jeder das Recht auf Unwissenheit besitzt – und dahinter verbirgt
sich die stillschweigende Annahme, dass es auf Tatsachen nun wirklich nicht
ankommt. Dies ist in der Tat ein ernstes Problem, ... weil der
Durchschnittsdeutsche ganz ernsthaft glaubt, dieser allgemeine Wettstreit,
dieser nihilistische Relativismus gegenüber Tatsachen sei das Wesen der
Demokratie. Tatsächlich handelt es sich dabei natürlich um eine
Hinterlassenschaft des Naziregimes.«
Das Denken selbst scheint
infiziert – oder wenn das zu weit geht, doch die Denkbereitschaft. Eine gewisse
Unsicherheit empfindet man freilich schon beim Wiederlesen dieser Sätze.
Vielleicht sollte man es besser offen lassen, wie weit diese Leute den Dummen
nur spielen. Sonst macht man noch eine Art Opfer aus ihnen. Es könnte ja sein,
dass wir es hier nicht mit Verwirrung zu tun haben, sondern mit
Unverschämtheit. Wie dem auch sei: Die Standards, die Kriterien für eine
vernünftige Aussage haben jedenfalls im damaligen Deutschland offenkundig ihre
Verbindlichkeit eingebüßt. Jeder kann sich ungestraft erlauben, sie einfach zu
missachten. Die doktrinären Inhalte, die Ideologien der NS-Zeit haben sich
längst verflüchtigt – unerwartet spurlos sogar. Es bleibt nur die opportune
Verwahrlosung des Denkens, die sorgsam antrainierte Willkür:
»Die Nazis haben das
Bewusstsein der Deutschen vor allem dadurch geprägt, dass sie es darauf
getrimmt haben, die Realität nicht mehr als Gesamtsumme harter,
unausweichlicher Fakten wahrzunehmen, sondern als Konglomerat ständig
wechselnder Ereignisse und Parolen, wobei heute wahr sein kann, was morgen
schon falsch ist.«
Wir werden dieser alarmierten
Aufmerksamkeit für das Denken, für das Urteilen und für das politische
Schindluder, das mit dieser menschlichen Möglichkeit getrieben wird, wieder
begegnen – sie zieht sich durch das gesamte Werk Hannah Arendts.
Einen Lichtblick gibt es:
In Berlin glaubt Hannah Arendt, ein anderes politisches Klima anzutreffen. Und
andere Leute – sie schreibt darüber ganz glücklich, geradezu überschwänglich an
ihren Mann Heinrich Blücher:
»Aber: Was es noch gibt,
sind die Berliner. Unverändert, großartig, menschlich, humorvoll, klug,
blitzklug sogar. Dies zum ersten Mal wie nach Hause kommen ... durch die
Trümmer fahrend: Mein Chauffeur, 20-jähriger Junge, hübsch und nett: Die
Ostzone können Sie gleich erkennen; da hängt so viel Quatsch rum (er meint
Fahnen und Plakate). Wir kommen an einem Stalin-Plakat vorbei: Stalin, der
große Freund des Volkes. Darauf er: Tja, wir haben bereits so ’nen großen
Freund des Volkes gehabt; und das hat er denn seinem geliebten Volk
hinterlassen (auf die Trümmer weisend). (Dazu musst Du wissen, dass niemand,
aber positiv niemand in ganz Deutschland je die Trümmer mit Hitler in Beziehung
bringt.) ...«(3)
Ein zweiter berühmter
Text: »Organisierte Schuld«, 1944 in Amerika verfasst, 1945 in englischer, 1946
in deutscher Sprache veröffentlicht.(4) Er führt uns von Nachkriegsdeutschland
in die NS-Zeit selbst zurück:
»Die ungeheure Erregung,
in die nachgerade jeder Mensch guten Willens gerät, wenn die Rede auf
Deutschland kommt, ... ist erzeugt von jener ungeheuerlichen Maschine des
›Verwaltungsmassenmordes‹, zu deren Bedienung man nicht Tausende und nicht
Zehntausende ausgesuchter Mörder, sondern ein ganzes Volk gebraucht hat und
gebrauchen konnte. ... Dass in dieser Mordmaschine jeder auf diese oder jene
Weise an seinen Platz gezwungen ist, auch wenn er nicht direkt in den
Vernichtungslagern tätig ist, macht das Grauen aus. ... Wie an dem
›Verwaltungsmassenmord‹ der politische Verstand des Menschen stillsteht, so
wird an der totalen Mobilisierung für ihn das menschliche Bedürfnis nach
Gerechtigkeit zuschanden. Wo alle schuldig sind, kann im Grunde niemand mehr
urteilen. Denn dieser Schuld gerade ist auch der bloße Schein, die bloße
Heuchelei der Verantwortung genommen. Solange die Strafe das Recht des
Verbrechers ist – und auf diesem Satz beruht seit mehr als zweitausend Jahren
das Gerechtigkeits- und das Rechtsempfinden der abendländischen Menschheit,
gehört zum Strafen eine Überzeugung von der Verantwortungsfähigkeit des
Menschen.«
Wie man sieht, kündigt
sich hier bereits die Problemstellung des späteren Buches Eichmann in
Jerusalem an. Der Prozess kann freilich nur einer bestimmten
verantwortlichen und schuldfähigen Person gemacht werden – diese
Vorentscheidung und die Klarheit, die sie bringt, wird die Reporterin Hannah
Arendt in Jerusalem als Wohltat, als Befreiung empfinden. Und man begreift bei
der Lektüre des frühen Textes auch, warum. Merkwürdigerweise überspringen die
werkgeschichtlichen Verbindungslinien das monumentale Werk Elemente und
Ursprünge totaler Herrschaft, das ja an sich oder rein chronologisch
betrachtet dazwischenliegt. Der Holocaust ist dort gar nicht das Thema. Das
Kapitel über die »Konzentrationslager« geht an den Vernichtungslagern im Osten
vorbei. Und die »Massen«, wie sie hier genannt werden, folgen Hitler und seiner
Politik dort so widerstandslos, weil sie sozial entwurzelt und politisch ohne
Orientierung sind. Und zuallererst einmal einen neuen festen Halt in einer
chaotischen und unverständlich gewordenen Welt suchen. Letztlich sind es
Verzweifelte, Verlassene, geistig Obdachlose, die sich da dem Führungsanspruch
des Nationalsozialismus überantworten. Man fühlt sich hier an einige
Meisterwerke der Weimarer Soziologie erinnert – an Die Angestellten
(1929) von Siegfried Kracauer etwa oder an die Aufsätze Emil Lederers
über die neuen Mittelschichten (1929) oder an Die soziale Schichtung des
deutschen Volkes (1932) von Theodor Geiger und das darin gezeichnete Bild
von den Erwerbslosen. 1944 schlägt Hannah Arendt einen ganz anderen Ton an: Es
ist hier der »Spießer«, der Typus des treu sorgenden Familienvaters, der die
Vernichtungsapparatur am Laufen hält. »Seine Gefügigkeit war in den
Gleichschaltungen zu Beginn des Regimes bereits bewiesen worden. Es hatte sich
herausgestellt, dass er durchaus bereit war, um der Pension, der Lebensversicherung,
der gesicherten Existenz von Frau und Kindern willen Gesinnung, Ehre und
menschliche Würde preiszugeben. ... Die einzige Bedingung, die er von sich aus
stellte, ist, dass man ihn von der Verantwortung für seine Taten radikal
freisprach. Es ist der gleiche Durchschnittsdeutsche, den die Nazis trotz
wahnsinnigster Propaganda durch Jahre hindurch nicht dazu haben bringen können,
einen Juden auf eigene Faust totzuschlagen (selbst nicht, als sie es ganz klar
machten, dass solch ein Mord straffrei ausgehen würde), der heute
widerspruchslos die Vernichtungsmaschinen bedient.« Es handelt sich für Hannah
Arendt auch keineswegs um ein spezifisch deutsches Phänomen. In Deutschland
konnte es nur besonders gut gedeihen: »Kaum ein anderes der abendländischen
Kulturländer ist von den klassischen Tugenden des öffentlichen Lebens so
unberührt geblieben; in keinem haben privates Leben und private Existenz eine
so große Rolle gespielt. ... Der Spießer selbst aber ist eine internationale
Erscheinung, und wir täten gut daran, ihn nicht im blinden Vertrauen, dass nur
der deutsche Spießer solch furchtbarer Taten fähig ist, allzu sehr in
Versuchung zu führen. Der Spießer ist der moderne Massenmensch, betrachtet
nicht in den exaltierten Augenblicken in der Masse, sondern im sicheren oder
vielmehr heute so unsicheren Schutz seiner vier Wände. Er hat die Zweiteilung
von Privat und Öffentlich, von Beruf und Familie so weit getrieben, dass er
noch nicht einmal in seiner eigenen identischen Person eine Verbindung zwischen
beiden entdecken kann. Wenn sein Beruf ihn zwingt, Menschen zu morden, so hält
er sich nicht für einen Mörder, gerade weil er es nicht aus Neigung, sondern
beruflich getan hat. Aus Leidenschaft würde er nicht einer Fliege etwas zu
Leide tun. Wenn man einem Individuum dieser neuesten Berufsgattung, die unsere
Zeit hervorgebracht hat, morgen sagen wird, dass er zur Verantwortung gezogen
wird, so wird er sich nur betrogen fühlen.«
Ich wiederhole: Wir
schreiben das Jahr 1944! Ich glaube nicht, dass Hannah Arendt irgendwo jemals
weiter gegangen ist im Bemühen zu verstehen als in diesem Text und in diesen
Sätzen. Man kann sich vor diesem intellektuellen Mut nur verneigen. Er liegt
darin, dass die Verfolgte sich hier den Boden für eine Anklage, für eine
Abrechnung selber zu entziehen droht.
Ich versuche, zwei Fragen
zu formulieren. Kann man überhaupt akzeptieren, was Hannah Arendt hier sagt?
Kann ein Erwachsener unter der NS-Herrschaft – ein Mensch, der also vor 1933
aufgewachsen ist – sich überhaupt dermaßen perfekt und durchschlagend selber
entlasten, von aller Verantwortung freisprechen und gegen jedes
Schuldbewusstsein immunisieren? Primo Levi hat in Die Untergegangenen und
die Geretteten für den Fall Eichmann und ähnlicher Verbrecher daran
erinnert, dass das »Dritte Reich« schließlich nur zwölf Jahre gedauert hat.
Kann ein totalitäres Regime in einem so kurzem Zeitraum, der im letzten Drittel
auch noch eine Phase des Untergangs war, das Rechtsempfinden und
Verantwortungsgefühl eines Menschen tatsächlich auslöschen? Schon die
klassische Studie des Strafrechtlers Herbert Jäger über Verbrechen unter
totalitärer Herrschaft (1967) lässt Zweifel an der starren, hermetischen
Figur des arendtschen Spießers aufkommen. Oder an ihrer Repräsentativität –
allgemein gesprochen macht diese Arbeit die Gebrochenheit oder Reflexivität der
deutschen Täter stärker. Etwa indem sie die Angst in Anschlag bringt, die sich
spätestens nach Stalingrad unter den Deutschen ausbreitet – mit der Angst vor
der sich abzeichnenden Niederlage und ihren Folgen meldet sich auch das
Gewissen zurück. Anscheinend war es eher storniert, wenn man so sagen darf, als
tot. Und Hans Buchheim nimmt in seinem Gutachten für den
Auschwitzprozess von 1964 sogar für die Masse der SS-Angehörigen eher ein
Nebeneinander von traditionellem Rechtsempfinden und rassistischer Hybris
an.(5) Inzwischen ist natürlich viel geforscht und nachgedacht worden, man
denke nur an die Hamburger Wehrmachtsaustellung – aber die Masse der kleinen
Täter, der »ganz normalen Männer«, um die zu Recht berühmte Pionierstudie von
Christopher Browning zu zitieren, bleibt schon aus Mangel an Quellen im Dunkeln
für uns.
Die andere Frage wäre: Was
macht die rechtsstaatlich verfasste Demokratie mit diesen Menschen, wenn alles
vorbei ist? Es ist die Frage, mit der Hannah Arendt dann in Eichmann in
Jerusalem ringen wird.(6) Ich spreche von einem Ringen, obwohl es der
Berichterstatterin aus Amerika ganz fern liegt, dem Angeklagten vor dem
israelischen Bezirksgericht seine lächerliche Ausflucht vom »kleinen Rädchen«
abzunehmen. Aber sie ist bereit, Eichmann in den konkreten politischen Kontext
zu stellen, in dem er seinerzeit gehandelt hat. Und wiederum, wie schon zwei
Jahrzehnte früher, wagt sie es, die Frage aufzuwerfen, wie denn ein Mensch sich
des verbrecherischen Charakters seines Tun bewusst werden soll, wenn der
Rechtsbruch in einem politischen System das Normale ist und nicht das Recht.
Wenn das Verbrechen vom Staat, vom Machtzentrum gewollt und angeordnet ist.
Wenn das Verbrechen selber Recht wird und sich in der Form von amtlichen und
der Form nach rechtmäßigen Verordnungen immer tiefer in die Rechtsordnung
hineinfrisst. Vielleicht kann Hannah Arendt es wagen, diese verstörende Frage
aufzuwerfen, weil die Richter Eichmanns es nicht tun. Sie erinnern sich: Hannah
Arendt bewundert diese Richter, sie vertraut ihnen, sie verehrt sie geradezu –
wegen ihrer Ruhe, ihrer Geistesgegenwart und ihrer Fairness dem Angeklagten
gegenüber. Aber vor allem, weil diese drei Männer überhaupt ein ordentliches,
reguläres Gerichtsverfahren durchzuführen versuchen – gegen die rechtsfremden
politischen Absichten des Anklägers (und des hinter ihm stehenden David Ben
Gurion) mit diesem Prozess. Die andere Seite dieser Professionalität und
Kultiviertheit ist freilich die althergebrachte Überzeugung, dass jeder Mensch
im Innersten weiß, was Mord ist. Und zu erkennen vermag, was ein
verbrecherischer Befehl ist. Jeder Mensch trägt ein untrügliches, letztlich
unzerstörbares Sensorium oder Unterscheidungsvermögen für Recht und Unrecht in
sich – das glauben die Richter. Hannah Arendt glaubt es nicht, sie widerspricht
dieser konventionellen Sicht. Aber sie sieht auch, dass die Richter ihren Job
nur mit Hilfe dieses altmodischen Menschenbildes zu Ende bringen können. Und
sie ist ganz einverstanden damit, sie ist den Richtern dankbar dafür, dass sie
ihn mit Würde und Anstand zu Ende bringen.
Aber dann scheint Hannah
Arendt den gordischen Knoten dieses Gerichtsverfahrens auf einmal durchschlagen
zu wollen. Am Ende des »Epilogs«, der sich mit der Perspektive einer künftigen
internationalen Strafjustiz befasst, rückt sie unvermittelt mit einer
alternativen Urteilsbegründung heraus. Die Richter hätten dem Verurteilten
sagen können: »Denn wenn Sie sich auf Gehorsam berufen, so möchten wir Ihnen vorhalten,
dass die Politik ja nicht in der Kinderstube vor sich geht und dass im
politischen Bereich der Erwachsenen das Wort Gehorsam nur ein anderes Wort für
Zustimmung und Unterstützung ist. So bleibt also nur übrig, dass Sie eine
Politik gefördert und mitverwirklicht haben, in der sich der Wille kundtat, die
Erde nicht mit dem jüdischen Volk und einer Reihe anderer Volksgruppen zu
teilen ...« Das ist bestechend. Jeder ist für seinen Gehorsam selbst
verantwortlich. Aber es hat auch etwas von einem Befreiungsschlag. In einem
anderen Text aus der gleichen Zeit erläutert Hannah Arendt ihre provozierende
These: »Wenn wir das Wort ›Gehorsam‹ für all diese Situationen gebrauchen, dann
geht dieser Gebrauch auf die uralte politikwissenschaftliche Vorstellung zurück,
die uns – seit Plato und Aristoteles – sagt, dass jedes politische Gemeinwesen
aus Herrschern und Beherrschten besteht und dass Erstere befehlen und Letztere
gehorchen ... ich möchte doch betonen, dass sie frühere, und ich glaube auch
genauere Auffassungen von den Beziehungen zwischen den Menschen in der Sphäre
gemeinsamen Handelns ersetzten. Diesen früheren Auffassungen zufolge kann jede
Handlung, die von einer Mehrzahl von Menschen ausgeführt wird, in zwei Phasen
eingeteilt werden: den Anfang, den ein ›Führer‹ macht. und die Ausführung, an
der sich viele beteiligen, um etwas, was dann ein gemeinsames Unternehmen wird,
mit Erfolg abzuschließen.«(7) Kooperation statt Befehlskette – Hannah Arendt
muss ihre ganze Kritik an den »fragwürdigen Traditionsbeständen« aufbieten –
einen Begriff von Politik, wie sie ihn etwa Ende der Fünfzigerjahre in der
unvollendet gebliebenen »Einführung in die Politik« entworfen hatte, um zu
einer klaren Position gegenüber Eichmann und seiner persönlichen Schuld zu
finden.(8) Der Prozess ist mit seiner Tendenz zum »Schauprozess«, wie auch
Hannah Arendt es nennt, schon problematisch genug. Aber das Kernproblem ist
doch für sie ein Angeklagter, ein Täter, der »nicht denken« kann. Jahre später
wird sie sich diese Wahrnehmung noch einmal vergegenwärtigen: »Wie monströs die
Taten auch immer waren, der Täter war weder monströs noch dämonisch, und das
einzige unverkennbare Kennzeichen, das man in seiner Vergangenheit ebenso wie
in seinem Verhalten während des Prozesses und der vorausgehenden polizeilichen
Untersuchung entdecken konnte, war etwas vollkommen Negatives: nicht Dummheit,
sondern eine merkwürdige, durchaus authentische Unfähigkeit zu denken. In der
Rolle des prominenten Kriegsverbrechers funktionierte er ebenso wie zuvor unter
dem Nazi-Regime; es bereitete ihm nicht die geringste Schwierigkeit, völlig andere Regeln zu akzeptieren. Er wusste,
dass das, was er einst als seine Pflicht angesehen hatte, nun als Verbrechen
bezeichnet wurde, und er akzeptierte diesen neuen Kodex der Beurteilung, als
handele es sich um nichts anderes als um eine andere Sprachregel ... Klischees,
gängige Redewendungen, das Festhalten an konventionellen, standardisierten
Kodizes des Ausdrucks und Betragens haben die gesellschaftlich anerkannte
Funktion, uns vor der Wirklichkeit in Schutz zu nehmen, das heißt vor dem
Anspruch, den alle Ereignisse und Tatsachen kraft ihrer Existenz an unsere
denkende Aufmerksamkeit stellen. Wenn wir für diesen Anspruch jederzeit
empfänglich wären, wären wir bald erschöpft; der Unterschied bei Eichmann war
lediglich, dass er eindeutig solchen Anspruch überhaupt nicht kannte.«(9)
An dieser Stelle
vielleicht eine erste Zwischenbilanz: Man muss sich vorsehen bei Hannah Arendt.
Ihre Texte sind oft faszinierend formuliert und geradezu überwältigend
scharfsinnig. Man sieht sich jedes Mal überzeugt. Erst hinterher kratzt man
mühsam seine Zweifel und Einwände zusammen. Und erst langsam begreift man auch,
dass man hier ein tastendes, ein experimentelles Denken vor sich hat.
Konsistenz ist nicht unbedingt sein Maßstab und Ziel. Es geht um Verstehen – in
immer neuen Anläufen. Allein in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft
lassen sich schon drei davon unterscheiden.(10) Und »Organisierte Schuld« und Eichmann
in Jerusalem enthalten wiederum einen anderen Denkansatz. Diese beiden
Texte nehmen dem typischen subalternen Hitler-Anhänger gewissermaßen die Tragik
weg. Sie machen ihn kleiner, hässlicher, banaler. Aber eines scheint allen
Varianten von Verfügbarkeit, wie Hannah Arendt sie nacheinander entwickelt,
gemeinsam: Die Hauptsache für sie alle ist immer, dass überhaupt eine Ordnung,
ein System, eine Richtung da ist, ganz egal was für eine.
Für mich ist das immer
noch ein wesentlicher Beitrag zum Verständnis des NS-Regimes. Man muss sich freilich
klar machen, auf welcher Macht-Ebene man sich hier befindet. Inzwischen sind
ganz andere und bedeutend höherrangige Tätertypen in den Fokus der historischen
Forschung und auch der interessierten Öffentlichkeit gerückt – Leistungsträger,
hochkompetent, kreativ, entsetzlich inspiriert wie die wissenschaftlichen
»Vordenker der Vernichtung«, um die bahnbrechende Studie von Götz Aly und
Susanne Heim zu nennen. Oder wie Werner Best, für den, wie Ulrich Herbert in
einer großen Monographie nachgewiesen hat, die Vernichtung der Juden ein
rationales und nichts als ein rationales Gebot völkischer Überlebensstrategie
war. Dort findet sich auch eine knappe, kühle Relativierung von Eichmann in
Jerusalem und der Debatte, die das Buch zumindest in den Sechzigerjahren ausgelöst
hat:
»Dass sich Eichmann ...
als organisationswütiger Spießer ohne jedes persönliche und intellektuelle
Format entpuppte, musste auf die Überlebenden und die Nachkommen der Opfer wie
ein Hohn wirken. Aber Eichmann spielte ebenso wie die in Frankfurt angeklagten
Aufseher des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz in der Hierarchie
des RSHA nur eine untergeordnete Rolle, und für die Führer des Terrorapparates
war er eher untypisch. So hat es sich historiographisch möglicherweise verhängnisvoll
ausgewirkt, dass von nun an der nationalsozialistische ›Schreibtischtäter‹ in
den Kategorien des beflissenen Befehlsempfängers Eichmann betrachtet
wurde.«(11)
2.
Aber jetzt auf die helle
Seite! Sie hat auch in den dunkelsten Zeiten nicht ganz gefehlt. Man erinnere
sich nur an das Denkmal, das Hannah Arendt in Eichmann in Jerusalem dem
öffentlichen Widerstand der Dänen gegen die Deportation der dänischen Juden
gesetzt hat: »Die Geschichte der dänischen Juden ist sui generis; im Kreise der
Länder Europas – ob besetzt oder neutral und wirklich unabhängig – war das
Verhalten des dänischen Volkes und seiner Regierung einzigartig. Diese
Geschichte möchte man als Pflichtlektüre aller Studenten der politischen
Wissenschaft empfehlen, die etwas darüber erfahren wollen, welch ungeheure
Macht in gewaltloser Aktion und im Widerstand gegen einen an Gewaltmitteln
vielfach überlegenen Gegner liegt.« Faktisch lässt sich das so kaum halten. Die
Geschichtswissenschaft hat reichlich Wasser in diesen Wein gegossen.(12) Aber
es bleibt immer noch genug: Die Nazis sind hier glatt gescheitert. Anders als
in Frankreich hat auch die Polizei nicht kollaboriert. Die Juden, etwa 8000
Leute, sind mit kleinen Booten über den Sund nach Schweden gebracht worden. Wir
verdanken dieser Autorin Herrschaftsanalysen von einer geradezu erschütternden
Schonungslosigkeit. Aber Widerstand hat sie niemals unterschlagen oder
herabgesetzt. Wo sie auf ihn trifft, würdigt sie ihn. Und wie sie ihn würdigt:
Im Jerusalemer Prozess berichtet ein Zeuge, ein ehemaliger jüdischer
Untergrundkämpfer, von einem deutschen Feldwebel, der ihnen geholfen hatte und
dafür hingerichtet worden war: »Während der wenigen Minuten, die Kovner
brauchte ..., lag Stille über dem Gerichtssaal; es war, als habe die Menge
spontan beschlossen, die üblichen zwei Minuten des Schweigens zu Ehren des
Mannes Anton Schmidt einzuhalten. Und in diesen zwei Minuten, die wie ein
plötzlicher Lichtstrahl inmitten dichter, undurchdringlicher Finsternis waren,
zeichnete ein einziger Gedanke sich ab, klar, unwiderlegbar, unbezweifelbar:
Wie vollkommen anders alles heute wäre, in diesem Gerichtssaal, in Israel, in
Deutschland, in ganz Europa, vielleicht in allen Ländern der Welt, wenn es mehr
solcher Geschichten zu erzählen gäbe.« Zwei Seiten weiter heißt es lakonisch:
»Denn die Lehre solcher Geschichten ist einfach, ein jeder kann sie verstehen.
Sie lautet, politisch gesprochen, dass unter den Bedingungen des Terrors die
meisten Leute sich fügen, einige aber nicht.«
Wer Letztere sind und wie
sie es fertig bringen, nein zu sagen, bleibt ein Rätsel. Für Hannah Arendt hat
es, wie sollte es anders sein, etwas mit dem Denken zu tun – mit dem
Zwiegespräch einer Person mit sich selbst. Hannah Arendt hat diese Hypothese
mehrfach vorgetragen – am eindrucksvollsten vielleicht in dem Aufsatz »Über den
Zusammenhang von Denken und Moral« aus dem Jahre 1971(13), aber auch in den
beiden Sokrates-Kapiteln von »Das Denken«, ursprünglich eine Vorlesung aus dem
Jahre 1973, findet sie sich wieder.(14) Das Wichtigste daran ist vielleicht der
Verzicht auf Stilisierung. So wie die Mörder für Hannah Arendt keine Monster,
so sind die Helden keine Moralgiganten. Es sind einfach nur Leute, die sich im
entscheidenden Moment nicht vorstellen können, für den Rest ihres Lebens mit sich
selbst als einem Verbrecher zusammenleben zu müssen. Also kein unbeugsames
Gewissen. Kein Himmelsgestirn von moralischen Werten. Man muss den Ansatz nicht
unbedingt überzeugend finden. Aber verglichen mit dem gewohnten Moralisieren
wirkt er wie ein elegantes Understatement. Und jedenfalls erleichtert das
eigenartig profane oder minimalistische Gedankenmodell von Widerstand den
Zugang zu den unscheinbaren, vorher, bis zum Moment der Bewährung, ganz
unauffälligen Helden – etwa, um ein Beispiel aus der Region zu wählen, von der
Art eines Paul Grüninger, dem tapferen Polizeikommandanten von St. Gallen. Der
ahnte, wie Stefan Keller in seinem schönen Buch nahe legt, vorher
wahrscheinlich selber am allerwenigsten, was für einer er eigentlich war. Wenn
er überhaupt je einen Gedanken darauf verschwendet hat (Grüningers Fall,
Zürich 1993).
Im Dunkeln gibt es das
Helle. Und im Hellen gibt es das Dunkle. Untilgbar, unausrottbar – es kann
eingedämmt werden, es kann zurückgedrängt werden, aber es kann nicht definitiv
überwunden oder gar zum Verschwinden gebracht werden. Die Suche nach
tragfähigen, dauerhaften Formen der Freiheit bei Hannah Arendt ist dringlich,
beharrlich, unermüdlich. Dem heutigen Leser fällt auf, dass die totalitäre
Gefahr für Hannah Arendt noch nicht vorbei ist. Oder sagen wir vorsichtiger:
dem deutschen Leser, bei einem amerikanischen bin ich mir da nicht so sicher.
Hannah Arendt schließt die Wiederkehr dieser Herrschaftsform niemals ganz aus.
Auch nicht für Amerika. In einem Text über die Kommunistenjagd der McCarthy-Ära
schreibt sie etwa: »... dass die totalitäre Herrschaft eine neue Staatsform
darstellt, die höchstwahrscheinlich als Möglichkeit und immer gegenwärtige
Gefahr uns von nun ab in der Geschichte begleiten wird ...«(15)
Seit der Wiederveröffentlichung
der Beiträge Hannah Arendts für die New Yorker deutsch-jüdische
Emigrantenzeitung Aufbau verstehen wir auch die spezifisch jüdische
Dimension dieser Unbeirrbarkeit besser.(16) Bis dahin hatte das Buch
über Rahel Varnhagen (mit seinen beiden erst Ende der Dreißigerjahre
geschriebenen, pointiert assimilationskritischen Schlusskapiteln) gleichsam in
der Luft gehangen. Jetzt haben wir das Zwischenstück. In diesen Artikeln der
Jahre 1941–1945 formuliert Hannah Arendt zum ersten Mal ihren spezifischen
Begriff des politischen Handelns – in doppelter innerjüdischer Frontstellung:
gegen die traditionell paternalistische, abwiegelnde, auf eine Entpolitisierung
der jüdischen Volksmassen abzielende Politik der jüdischen Eliten und
gegen die dominante, gut »realpolitische« Variante des Zionismus, die um jeden
Preis den jüdischen Nationalstaat in Palästina durchsetzen will und für sein
Überleben ausschließlich auf die Protektion bestimmter Großmächte setzt. Es war
das – zum guten Teil freilich imaginäre – Szenarium der um ihre schiere
Existenz und darüber hinaus für ihre Gleichrangigkeit unter den Völkern in
einer künftigen Weltordnung kämpfenden Juden – als reguläre Soldaten im Krieg
gegen das NS-Regime; als Partisanen im Kampf gegen die Besatzungsmacht in Ost-
und Westeuropa; als Partner einer Verhandlungslösung mit den Arabern in
Palästina –, an dem Hannah Arendt zum ersten Mal durchdacht hat, wie Menschen
aus sich selbst verantwortungsbewusste politische Akteure machen könnten. Es
ist der jüdische Citoyen, den sie als ersten denkt. Sie besitzt ihn
gewissermaßen schon, als sie sich dann an die Interpretation der Gefolgschaft
Hitlers macht – in diversen Ausführungen. Und dieser jüdische Citoyen ist auch
nicht imaginär. Er ist früher da als der jüdische Staat, und Hannah Arendt wird
ihm unmittelbar nach dem Krieg in Amerika leibhaftig begegnen. Ihr Briefwechsel
mit Kurt Blumenfeld ist ein schönes Zeugnis dafür.(17)
Aber die Suche nach einem
Ort oder Raum für die Freiheit ist auch vergeblich. Die Polis des klassischen
Athen ist endgültig versunken. Und es war auch eine Veranstaltung von
Sklavenhaltern. Die Gründung der amerikanischen Republik – für Hannah Arendt
das andere große weltgeschichtliche Exempel eines politischen Gemeinwesens, das
die Freiheit zu institutionalisieren und auf Dauer zu stellen versucht – ist
inzwischen zumindest stark versandet. Hannah Arendt wird über Amerika niemals
so schreiben, wie sie über das Europa des bequemen Pessimismus, der
Nachgiebigkeit oder sogar der Komplizenschaft gegenüber dem Nationalsozialismus
an der Macht geschrieben hat. Es gibt immer einen Vorbehalt von Respekt und
Vertrauen. Man spürt immer einen Unterton von Loyalität, auch noch in den ganz
verzweifelten Texten. Aber Hannah Arendt ist auch hier entschlossen, sich nichts
vorzumachen. Der politische Entscheidungsprozess wird auch in den USA von
großen Parteimaschinen beherrscht. Und die amerikanische Gesellschaft hat sich
schon im 19. Jahrhundert in eine arbeits- und konsumbesessene
Massengesellschaft verwandelt, die die alte Bürgertugend weitgehend vergessen
und für die politischen Visionen der Founding Fathers kaum mehr
Verständnis hat. Das politische Erbe der Amerikanischen Revolution mag noch
nicht ganz tot sein, aber es lebt auch nicht mehr richtig. Wie Hannah Arendt in
Über die Revolution (1963) aufzuzeigen versucht, lag der Keim des
Niedergangs schon darin, dass die basisdemokratischen Einrichtungen der
Pionierzeit mit ihren townhall meetings keinen Eingang in die Verfassung
gefunden haben. Schließlich wären da noch die Räte, die in bestimmten
Krisenmomenten der europäischen Geschichte der letzten hundert Jahre
auftauchen: in der Pariser Kommune, am Ende des Ersten Weltkrieges in Russland
und Deutschland, in der Ungarischen Revolution von 1956. Hannah Arendt hat den
Ereignissen in Ungarn einen Essay gewidmet, der nur auf den ersten Blick
unangemessen emphatisch wirkt, in Wahrheit aber gerade die Isoliertheit, die
Verlorenheit dieses hoffnungslos verfrühten Freiheitskampfes herausarbeitet.
Die Räte kommen für Hannah Arendt aus dem Willen der Massen, die Initiative
zurückzugewinnen, die politische Macht zu übernehmen – womit sie zumindest die
deutsche Rätebewegung von 1918 gründlich überschätzt oder missversteht. Aber
sie gehen regelmäßig ebenso schnell wieder unter, wie sie aufgekommen sind.
Nirgends haben sie eine wirkliche Chance gegen die politischen Parteien.
Aber Hannah Arendt bleibt
unversöhnt. Es gibt keine Kehrtwendung von der Art, wie die
Alt-Achtundsechziger unter uns sie kennen – erst eine hochfliegende »außerparlamentarische«
oder gar »anarcholibertäre« Doktrin und dann, nach der Enttäuschung dieser
utopischen Hoffnungen, nur noch die Demokratie, so, wie sie ist. Weder das eine
noch das andere. Keine Fundamentalopposition, keine Rückkehr in die so genannte
politische Mitte. Kein linker Radikalismus, keine Einkehr oder Resignation.
Keine Negation der
etablierten demokratischen Institutionen: Hannah Arendt hat das spontane
politische Handeln nie als systemsprengend oder grenzenlos emanzipatorisch
gedacht, wie nicht wenige von uns es eine Zeit lang getan haben. Sie denkt es
immer als eingebettet in ein komplexes Gefüge von republikanischen
Institutionen, von politischen »checks and balances«, die es verfeinern,
erweitern, zur Mäßigung zwingen. Das heißt: zur Berücksichtigung anderer,
abweichender Meinungen – nicht etwa aus Toleranz, sondern weil es, mit dem
Gleichnis in Nathan der Weise zu sprechen, den echten Ring gar nicht
gibt. Glücklicherweise nicht gibt, wie Hannah Arendt mit Lessing sagt.(18)
Freiheit kann es für sie nur im Rahmen eines stabilen Gemeinwesens geben – auch
hier spricht, wie Margaret Canovan gezeigt hat, die Erfahrung vom
Totalitarismus als reißendem, alles zerstörenden »politischen Hurrikan«.(19)
Die Vorstellung von einer ungezügelten, unabgebremsten Mehrheit – und sei es
auch einer ganz demokratisch zu Stande gekommenen, die sich selbst absolut
setzt und vergötzt –, war Hannah Arendt ein Grauen. Wie vorher auch schon
Alexis de Tocqueville, der Mitte der Dreißigerjahre des 19. Jahrunderts in Über
die Demokratie in Amerika geschrieben hatte: »... sobald über eine Frage
die Mehrheit erst einmal zustande gekommen ist, gibt es sozusagen nichts, was
ihren Gang hemmen, geschweige denn zum Stillstand bringen könnte, nichts, was
ihr Zeit ließe, die Klagen derer anzuhören, die sie auf ihrem Wege
zermalmt.«(20)
Aber eben auch kein
Verzicht auf ein grundsätzliches Hinterfragen der etablierten demokratischen
Institutionen: Die Bürgerfreiheit – als Freiheit des politischen Handelns,
nicht als rechtlich abgesicherte Freiheit von der Politik – bleibt überall ein
unerträgliches Desiderat. Der zeitgemäße Platz, die aktuell brauchbare
Institution ist für sie noch nirgends gefunden. Als sich im Zeichen des
Vietnamkrieges die politischen Verhältnisse in Amerika dann verdüstern und
verformen – in »ihrem« Amerika, das sie 1941 aufgenommen hat, dem sie seine
Leistung im Zweiten Weltkrieg nie vergisst und das sie in On Revolution
vor den Demokratien der Welt ausgezeichnet hatte –, nimmt Hannah Arendt ihre
Zuflucht sogar zu einem paradoxen Gedanken. Sie scheint jetzt allen Ernstes für
so etwas wie den Einbau des zivilen Ungehorsams in das politische System
plädieren zu wollen. Es erscheint ihr in diesem dunklen Moment, der sie am Ende
ihres Lebens noch einmal zur leidenschaftlichen politischen Publizistin werden
lässt, durchaus nicht abwegig, einen Massenprotest wie den gegen diesen
sinnlosen und schändlichen Krieg verfassungsrechtlich legitimieren zu wollen.
Ein nicht zur Ruhe
kommendes, nicht zu besänftigendes Problembewusstsein für das strukturelle
Freiheitsmanko der repräsentativen Demokratie, so, wie sie ist – eine
Beunruhigung, bar aller Rezepte. Ich wüsste nicht, was aktueller wäre. Aber
vielleicht hängt mit dieser Unerfülltheit, mit der Absage an das politische
Wunschdenken oder, wie man auch sagen könnte, mit der eher defensiven als
utopischen Ausrichtung des arendtschen Denkens auch ein einigermaßen esoterisch
wirkender Zug zusammen. Ich meine den eigenartigen Hochglanz, den Hannah Arendt
dem öffentlichen Handeln durchweg verleiht. Für die Amerikanische Revolution
ist von dem unvergleichlichen Glücksgefühl die Rede, das mit dem Auftreten in
dieser Sphäre verbunden sei. Mit großer Zustimmung zitiert Hannah Arendt John
Adams, für den ausnahmslos alle Menschen sich intensiv danach sehnen, dass »man
sie sieht, dass man sie hört, dass man von ihnen spricht, dass man sie
anerkennt und respektiert«. In der Polis war es der edle, wenn auch
unerbittliche Wettstreit um Auszeichnung, der zumindest die Innenpolitik
ausgemacht habe. Immer scheint das politische Handeln bei Hannah Arendt um sich
selbst zu kreisen. Und immer scheint die Freiheit ihren Sinn und ihre Erfüllung
in sich selber zu finden.
Nein, nicht immer: Die
»Überlegungen zu den Pentagon-Papieren« aus dem Jahre 1971 brechen aus diesem
Diskurs aus. Das hier gezeichnete Bild von der Führungsmacht der freien Welt –
von einer Weltmacht, die nur noch an ihrem »Image« als Weltmacht interessiert
scheint – ist allzu bedrohlich. Es verlangt wieder zwingend nach Widerstand,
und der kreist nicht um sich selbst.(21) Aber zumindest überall dort, wo es
grundsätzlich um die Spezifik des Politischen geht, stoßen wir bei Hannah
Arendt auf eine gewisse Tendenz zur Verklärung. Wäre sie ein Surrogat? Die
politische Ebene sähe sich dann zu einer autonomen, nahezu in sich
geschlossenen Dimension des menschlichen Daseins aufgewertet oder erhöht, weil
in der politischen Realität gerade das Entscheidende scheitert: die
Demokratisierung der Demokratie. Wie dem auch sei: Der ordinäre Stoff, aus dem für
uns und unseren Alltagsverstand die Politik gemacht ist, bleibt jedenfalls
außen vor. Der gesellschaftliche Konflikt ist hier etwas Fremdes. Und für den
Fall, dass er in die Politik einbricht: etwas Störendes, schlimmstenfalls sogar
Destruktives. Man hat Hannah Arendt daher einmal, in halbem Ernst, als erste
»Neokonservative« avant la lettre bezeichnet, aber das ist ein anderes
Thema.
Ich komme zum Schluss. Wir
haben Hannah Arendt hierzulande im Licht des Umbruchs von 1989 für uns wieder
entdeckt. Und sind vielleicht dabei, sie mit der allmählichen Einebnung dieser
zeitgeschichtlichen Zäsur schon wieder zu verlieren. Haben wir diese Autorin
heute, im Licht des 11. September 2001, noch einmal wieder zu entdecken, wie
manche amerikanische Interpreten ihrer Werke zu meinen scheinen? Es könnte ein
schwer verdaulicher Brocken für uns werden. Denn eine Hannah Arendt mit ihrer
Bereitschaft, sich der Gewalt von »Ideologie und Terror« in ihrer Zeit
gedanklich zu stellen; mit ihrem idealistischen, nicht selten etwas pathetisch
anmutenden Votum für die Freiheit, lässt sich kaum als ein Fall von
amerikanischem Wahnwitz abheften.
Ich kann Hannah Arendt
schlecht lesen, ohne mich zu fragen, wo ich selbst stehe. So könnte ich mich
heute etwa fragen, ob ich bereit bin, den Totalitarismus islamistischer
Provenienz überhaupt als eine neue Form von Totalitarismus wahrzunehmen oder
anzuerkennen. Oder ob ich es nicht doch vorziehe, ihn nach lieber alter
Gewohnheit als einen brutalen, aber verständlichen Protest der »Dritten Welt« gegen
uns und unsere egoistisch behauptete Vormacht auf der Welt zu verharmlosen.
Oder ich könnte mich fragen, wie wichtig mir denn die politische Freiheit in
der Welt ist, sagen wir, im Nahen Osten – mir als Europäer, wenn ich den
Amerikanern schon so misstraue. Vielleicht müsste ich mir ja eingestehen, dass
die Freiheit der Menschen, der anderen, für mich an Bedeutung hinter der
Stabilität der Regimes zurücksteht, seien sie noch so freiheitsfeindlich. In
diesem Fall sollte ich freilich Hannah Arendt besser aus der Hand legen.
* Vortrag im Theater am Mühlenrain, Weil am Rhein, am 13.
März 2005.
1
»Die Ungarische Revolution und der totalitäre
Imperialismus«, 1958, jetzt in: Hannah Arendt: In der Gegenwart, hrsg.
von Ursula Ludz, München 2000.
2
Hier zitiert nach: Hannah Arendt, In der Gegenwart,
a. a. O.; der Titel des Textes lautet jetzt: »Die Nachwirkungen des
Naziregimes: Bericht aus Deutschland«.
3
Hannah Arendt/Heinrich Blücher: Briefe 1936–1968.
Hrsg. von Lotte Köhler, München 1999.
4
Hier zitiert nach: Hannah Arendt, In der Gegenwart,
a. a. O.
5
»Befehl und Gehorsam«, in: Hans Buchheim, Martin
Broszat, Hans-Adolf-Jacobsen, Helmut Krausnick: Anatomie des SS-Staates, 6.
Aufl. 1994, dtv.
6
1963, hier zitiert nach der deutschen Ausgabe von 1965.
7
»Was heißt persönliche Verantwortung unter einer Diktatur?«,
1964, jetzt in: Hannah Arendt: Nach Auschwitz. Hrsg. von Eike Geisel und
Klaus Bittermann, Berlin 1989.
8
Vgl. Hannah Arendt: Was ist Politik? Aus dem
Nachlass. Hrsg. von Ursula Ludz, München 1993.
9
»Über den Zusammenhang von Denken und Moral«, 1971, jetzt
in: Hannah Arendt: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Hrsg. von Ursula
Ludz, München 2000.
10
Vgl. Roy T. Tsao, in: Antonia Grunenberg, Hrsg.: Totalitäre
Herrschaft und republikanische Demokratie, Frankfurt/M. 2003.
11
Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien über
Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903–1989, Bonn 1996.
12
Ebenda.
13
Wieder gedruckt in: Hannah Arendt: Zwischen Vergangenheit
und Zukunft, a. a. O.
14
Hannah Arendt: Vom
Leben des Geistes. Bd.1. Hrsg. von Mary McCarthy, dt. Ausgabe München 1979.
15
»Gestern waren sie noch Kommunisten«, 1953, jetzt in: Hannah
Arendt: In der Gegenwart, a. a. O.
16
Hannah Arendt: Vor dem Antisemitismus ist man nur auf dem
Monde sicher. Hrsg. von Marie Luise Knott, München 2000.
17
»... in keinem
Besitz verwurzelt«. Hrsg. von Ingeborg Nordmann und Iris Pilling, Hamburg
1995.
18
»Gedanken zu Lessing: Von der Menschlichkeit in finsteren
Zeiten«, 1959, jetzt in: Hannah Arendt: Menschen in finsteren Zeiten.
Hrsg. von Ursula Ludz, München 2001.
19
Vgl. Daniel
Ganzfried u. Sebastian Heft, Hrsg.: Hannah Arendt. Nach dem Totalitarismus,
Hamburg 1997.
20
Erster Band, 1835, hier zitiert nach: Reclam-Auswahl, hrsg.
von J. P. Mayer, Stuttgart 1997.
21
»Die Lüge in der Politik«, jetzt in: Hannah Arendt: In
der Gegenwart, a. a. O.