Eine Verbindung von Bildungsoffensive und Sozialpolitik wäre nötig
Chancengleichheit war
einmal der Zentralbegriff der Bildungsreformer. Man setzte auf eine Schule, die
herkunftsbedingte Unterschiede der Kinder durch gemeinsamen Unterricht
kompensiert. Doch die Bildungsexpansion spitzte die Ungleichheiten von
Bildungschancen noch zu. Heute gewinnen Ganztagsunterricht und die Forderung
nach »einer Schule für alle« erneut an Gewicht. Allerdings, so unser Autor, sollte
man nicht länger der Vorstellung nachhängen, dass eine veränderte Schulstruktur
ausreicht, um mehr Bildungschancen für alle sicherzustellen.
Dümmere gab es schon immer
und wird es immer geben«, sagt ein Vater auf einer Versammlung des
Schulfördervereins, bei der es um zusätzliche Sprachförderung russlanddeutscher
Kindern geht. Recht hat er. Trotz mancher Reformen im Bildungswesen und eines
erheblich ausgeweiteten Kinder- und Jugendhilfesektors lebt das Gesetz sozialer
Vererbung von Bildungschancen ungebrochen fort: Zu wenige Kinder aus
Arbeitermilieus schaffen den Bildungsaufstieg an Fachhochschule oder
Universität. Gleichzeitig sind es überwiegend die Kinder bildungsferner Eltern,
die in den Schulen scheitern. Seit Mitte der Neunzigerjahre verlassen immer
mehr Jugendliche die Schule ohne Abschluss. Der verbreitete Hinweis, dass fast
zehn Prozent eines Altersjahrganges ohne Schulabschluss verbleiben,
verniedlicht diesen Problemkreis noch. Gravierender als die relative
Platzierung Deutschlands im internationalen Vergleich ist der PISA-Befund, dass
der Anteil 15-Jähriger, die allenfalls eine für eine gelingende
Berufsausbildung unzureichende Kompetenzstufe I erreichen, bei Werten zwischen
17,9 Prozent (Lesen) und 26,3 Prozent (naturwissenschaftliche Grundbildung)
liegt. Ein Viertel aller Jugendlichen ist nicht in der Lage, den Hauptgedanken
eines kurzen Textes zu erschließen, einer Tabelle Informationen zu entnehmen
oder mathematische Standardaufgaben (z. B. Ermittlung eines Prozentwertes) zu
berechnen. Jeder vierte Auszubildende bricht eine begonnene Berufsausbildung
ab, nicht zuletzt weil er den Anforderungen der Berufsschule nicht gewachsen
ist. Besorgniserregend ist dabei besonders die Ausbildungsquote ausländischer
Jugendlicher, die von 43,5 Prozent im Jahre 1994 auf rund 34 Prozent im Jahr
2002 fiel.
Diese Befunde bedeuten
nicht, dass heute an Schulen weniger gelehrt wird oder Schüler dümmer als
früher sind. Sicher aber ist: Infolge der Rückgänge der Geburtenzahlen wird es
in den kommenden Jahren zu einer deutlichen Verringerung der Zahl der jungen
Menschen kommen. An diese werden immer höhere Anforderungen gestellt. Deshalb
führt kein Weg am Abbau sozialer Bildungsbenachteiligungen vorbei. Die Quoten
an Hochschulabsolventen sind zu gering, und es muss möglichst allen
Jugendlichen ein qualifizierter Schulabschluss und eine abgeschlossene
Berufsausbildung eröffnet werden.
Die Reform der schulischen
Bildung ist hierfür eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung.
Schulleistungen sind immer Leistungen der Schulen und Leistungen der Schüler,
die sich im Zusammenspiel von institutionellen und pädagogischen
Lernbedingungen, gesellschaftlichen Faktoren (etwa der öffentlichen
Wertschätzung von Bildung), familiären Einflüssen und den individuellen
Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler herausbilden. Dass beispielsweise
Gesamtschulen die mit ihnen verbundenen Erwartungen nur unzureichend erfüllen,
liegt nicht nur an politischen Widerständen oder dem Umstand, dass sie nur eine
Schulform neben anderen bilden. Entscheidender ist, dass Bildungsreformen ohne
eine begleitende Sozialpolitik und einen Mentalitätswandel nur wenig gegen die
soziale Vererbung von Bildungsnachteilen bewirken können, weil deren Ursachen
überwiegend außerhalb der Schulen liegen. Für Neugier, Offenheit und
Bildungsmotivation eines Kindes besteht ein überragender Einfluss des Elternhauses,
das unterschiedliche Leistungsfähigkeit in Abhängigkeit von der Qualität der
Eltern-Kind-Beziehung bewirkt.
Die soziale Herkunft
beeinflusst die Bildungsmotivation. Die mit Schule verbundenen Erwartungen
folgen einer schichtspezifischen Dynamik, die von dem gesellschaftsfunktionalen
Interesse an »besser ausgebildetem Humankapital« ebenso weitgehend unabhängig
sind wie vom wohlmeinenden Imperativ nach mehr Chancengerechtigkeit. Ein
typisches Beispiel hierfür bilden Schulwahlen. Während über jene lamentiert
wird, die trotz anders lautender Empfehlung ihr Kind auf dem Gymnasium
anmelden, redet niemand über jene zahlreichen Eltern (und Kinder), die eine
Empfehlung für eine »höhere Schule« ignorieren. Auch sie treffen ihre Schulwahl
nach dem erwarteten Nutzen: Wer nicht gerne lernt, den zieht es auf die
Hauptschule. Und seinen Eltern sollte man nicht – wie aktuell manche Politiker
– fehlendes Interesse am Wohl ihrer Kinder unterstellen. Weil die mit Bildung
verknüpften Erwartungen schichtabhängig sind, wird im unteren Drittel der
Gesellschaft noch immer das Bild vom Taxi fahrenden Mediziner beschworen. Oder
darauf verwiesen, dass »jemand die normale Arbeit verrichten« muss. Dahinter
stecken Ängste vor Überforderung, wenn das Kind auf einer höheren Schule
überwiegend mit optimal geförderten Akademikerkindern unterrichtet wird.
Finanzielle Befürchtungen etwa auf Grund einer längeren Ausbildungszeit und
möglicher Kosten für Nachhilfe kommen hinzu. Für die Kinder aus den
Vorstadtghettos bundesdeutscher Großstädte ist ein sozialer Aufstieg durch
Bildung auch kaum realistisch.
Selbst »eine Schule für
alle« würde Normen und Verhaltensweisen positiv sanktionieren, die sich an der
Mittelschicht, ihrem Habitus und ihrer Kultur orientieren. Kränkelnde,
auffällige und laute SchülerInnen oder solche mit ungehobelten Verhaltensweisen
würden kritisch beäugt. In einer sozial gespaltenen Gesellschaft kann Schule
keine sozialistische Insel sein.
Das gegliederte Schulsystem
heutigen Zuschnitts bewirkt darüber hinaus auch eine vermeidbare
»institutionalisierte Unverantwortlichkeit« von Schulen und Lehrern. Während im
PISA-Siegerland Finnland die Schule eine »Grundausbildung« bis zur 9. Klasse
sicherstellen und bei »schwierigen« Kindern vielfältige Förderangebote
nachweisen muss, werden in Deutschland auffällige Kinder selektiert oder
verschwinden als Schulverweigerer oder -abbrecher vollends aus dem
Pädagogenblick. Dem entspricht eine Mentalität der Lehrenden, die Bildungsprobleme
von Schülern allein als Ausdruck elterlicher Erziehungsdefizite und
problematischer gesellschaftlicher Einflüsse und nie als Teil der Verantwortung
von Schulen und Lehrern begreift.
Zudem ist die Festlegung auf
eine bestimmte Schulform im heutigen Schulsystem folgenschwer, weil sie in der
Regel unumkehrbar ist. Vielen Kindern wird schon am Ende der Grundschulzeit die
Option auf bestimmte Ausbildungswege und Zukunftsoptionen verbaut. Zwar lockert
sich die Bindung von Abschlüssen an Schulformen: Realschulabschlüsse können
auch an Hauptschulen, an Gesamtschulen, an Gymnasien oder in berufsbildenden
Schulen erworben werden. Weil die Wertigkeit formal gleicher Abschlüsse tatsächlich
aber hierarchisch geordnet ist, bevorzugen Arbeitgeber bei gleichem
Bildungsabschluss jene, die ihr Abschlusszeugnis auf einer höheren Schulform
erworben haben.
Außerdem entwickeln Kinder
und Jugendliche sich aufgrund schulformtypischer Lernmilieus auseinander: Im
Durchschnitt bleiben ähnlich leistungsfähige Jugendliche in der Hauptschule um
eineinhalb Lernjahre hinter Gymnasiasten zurück. Zwar öffneten sich die
Gymnasien für Angehörige der (unteren) Mittelschichten. Gymnasien bilden heute
die sozial heterogenste Sekundarschulform. Doch vom Fahrstuhleffekt der
Bildungsexpansion profitierten in erster Linie Angehörige ohnehin
privilegierter Sozialschichten (siehe Abbildung: Universitätsbesuch und
Sozialstatus). In den unteren Sozialschichten vergrößerte die
Bildungsexpansion die Chancenungleichheiten hingegen noch. Denn mit
dem Bildungsaufstieg von Kindern aus beruflich qualifizierten Elternhäusern
wurden Haupt- und Sonderschulen zu Schulen der Zurückgebliebenen, die heute die
sozial homogenste Schülerschaft besitzen. Die Mehrzahl stammt aus instabilen
oder zerrütteten Familien mit gering qualifizierten und häufig arbeitslosen
Eltern.
Die Haupt- und Sonderschulen
mutieren zu »Restschulen«, wo sich lernunwillige und verhaltensauffällige
Jugendliche gegenseitig in ihrer Bildungsresistenz bestärken. Die
»Sparvariante« der Reform, wo man angesichts rückläufiger Schülerzahlen
verschiedene Schulformen einfach in einem Schulgebäude zusammenfasst, forciert
diese Randständigkeit. Wenn (wie etwa in Nordrhein-Westfalen jetzt möglich)
Haupt- und Realschulen unter einem Dach fortbestehen, sammeln sich in den
Hauptschulklassen vollends nur die Leistungsschwächsten.
Diesen Trends stehen auch
besser ausgestattete Haupt- und Sonderschulen ohnmächtig gegenüber. Die von der
Kultusministerkonferenz mehrheitlich vertretene Optimierung des traditionellen
Schulsystems stößt hier zweifellos an Grenzen. Soweit unterschiedliche
Lernmilieus auf dem gegliederten Schulsystem beruhen, könnte allein »eine
Schule für alle« resultierenden Bildungsbenachteiligungen begegnen, die
Folgewirkungen expliziter Schulwahlen abschwächen oder zeitlich hinauszögern
und zugleich die heute »institutionalisierte Unverantwortlichkeit« der Schulen
aufbrechen.
Veränderungen an dieser für
mehr Bildungsgerechtigkeit wichtigen »Stellschraube« sind kurzfristig aber
wenig wahrscheinlich. Statt die realen Umsetzungshemmnisse zu thematisieren
neigen auch die Reformbefürworter zu einer Ideologisierung: Eine Schule für
alle »kommt allen Kindern zu Gute. Schwächere Schüler erhalten zusätzliche
Lernanreize, leistungsstärkere werden mehr gefördert«, postuliert etwa die
frühere GEW-Chefin Eva-Maria Stange. Solche Sozialromantik vernebelt jedoch die
Tatsache, dass das heutige Schulsystem auf realen Interessen einer Mehrheit
gründet. Für wohlbehütete Mittel- und Oberschichtkinder hat ein gemeinsamer
Unterricht mit unmotivierten und leistungsschwächeren Kindern nicht per se
einen zusätzlichen Nutzen.(1)
Für die Mehrheit elternseits
gut geförderter Kinder wäre eine Schule für alle nur dann attraktiv, wenn durch
Zusatzangebote auch für sie ein Zugewinn erkennbar wäre. Dies belegen die
Erfahrungen mit integrativen Schulen und Betreuungsstätten: Nur wo diese auch
für Kinder ohne Behinderung ein verbessertes Lernklima schaffen, unterstützen
die Eltern einen gemeinsamen Unterricht. Der hierfür notwendige Politikwechsel,
der die chronische Unterfinanzierung des Bildungssystems beseitigt, ist jedoch
nirgendwo erkennbar.
PISA gibt keinen
Anhaltspunkt dafür, dass zum Abbau von Bildungsbenachteiligungen ein
Ganztagsunterricht zwingend erforderlich sei. In Finnland bilden
Ganztagsschulen beispielsweise eher die Ausnahme. Der von Rot-Grün behauptete
Zusammenhang zwischen Bildungschancen und außerhäuslichem Betreuungsangebot ist
auch mit Blick auf bundesdeutsche Verhältnisse empirisch unbegründet: Trotz
besseren Angeboten außerhäuslicher Betreuung in den neuen Bundesländern ist –
auch unter Berücksichtigung der besonderen sozialen und ökonomischen
Bedingungen – kein hieraus resultierender Bildungsvorsprung ableitbar.(2)
Dennoch könnten
Ganztagsschulen ein sinnvolles Element einer Bildungsoffensive bilden. Wo
Ganztagsunterricht etwa in Rheinland-Pfalz oder in Nordrhein-Westfalen den Status
von besonders protegierten Modellprojekten verlassen hat, reduzieren sich diese
Angebote jedoch bei durchschnittlich engagierten Lehrern, Eltern und
Schulverwaltungen auf Vormittagsunterricht mit Suppenküche und anschließender
Verwahrung der Kinder durch häufig fachfremde Mitarbeiterinnen auf
400-€-Job-Basis. Für deren Qualifikation gilt überwiegend: Wer selbst Kinder
hat, kann auch fremde Kinder betreuen. Wie so die Bildungschancen von Kindern
verbessert werden sollen, die noch im fortgeschrittenen Grundschulalter keine
deutschen Sprachkenntnisse besitzen oder als Zappelphilippe nicht
konzentrationsfähig sind, bleibt unerfindlich. Ein Argument lautet, dass die
neuen Ganztagsschulen – gemäß der Eigenlogik von Institutionen – ihre Qualitätsverbesserung
selbst erzwingen: Ist ein Ganztagsangebot einmal etabliert, stünden Verbesserungen
im Eigeninteresse der dort Lehrenden, der Eltern und der sonstigen
Öffentlichkeit. Ein Blick auf die Entwicklung von Kindertagesstätten der
letzten 25 Jahre belegt aber, dass deren gesellschaftlich unstrittig erkannte
Notwendigkeit und ihr erheblicher quantitativer Ausbau sehr wohl mit einer
qualitativen Ausdünnung einhergingen. Kindergärten heutigen Zuschnitts sind
überwiegend bloße Verwahranstalten, die keinen signifikanten Beitrag zum Abbau
von Bildungsungleichheiten leisten: Beamtenkinder haben auch ohne Besuch
vorschulischer Einrichtungen eine viermal günstigere Chance für den Übergang
aufs Gymnasium als Arbeiterkinder, die den Kindergarten besuchten. Sowohl für
vorschulische Einrichtungen wie für schulische Ganztagsangebote gilt: Nicht der
Besuch einer Krippe, eines Kindergartens oder einer Ganztagsschule ist gut,
sondern nur der Besuch guter Kindergärten und guter Ganztagsschulen.
Der Wunsch nach mehr
Chancengleichheit durch veränderte Schulformen ist eingebettet in einen Prozess
weiterer Ökonomisierung und Privatisierung der Bildung: Die von grün bis
schwarz geforderte Stärkung schulischer Selbstverwaltung, der vermehrte
Wettbewerb zwischen den Schulen und eine stärkere Einbeziehung elterlicher
Aktivitäten werden genau jene sozialen Spaltungen in und zwischen den Schulen
verstärken, denen eine veränderte Schulstruktur begegnen will.
Kaum eine
Übermittagsbetreuung oder ein Ganztagsschulangebot funktioniert ohne
ehrenamtliches Engagement von Eltern und anderen Freiwilligen. Dabei wird
Elternmitarbeit häufig wörtlich genommen: An bayrischen Gymnasien fungieren
Eltern als Ersatzlehrer. Andernorts reparieren sie Toiletten, weißen Schulwände
oder organisieren den Pausenverkauf. Nicht nur in den Bildungskonzepten der
Bündnisgrünen sowie der Heinrich-Böll-Stiftung wird dies als eine Form
bürgerschaftlichen Engagements begrüßt, zu dem die Bildungspolitik des
»aktivierenden Staates« ermuntern soll. Soweit dies nicht einfach die Forderung
nach Privatisierung von Bildung verbrämt, übersieht dieser Ansatz mindestens
die unterschiedlichen Fähigkeiten und Voraussetzungen zum Engagement: Aktiv
sind vorrangig die gebildeten Mittelschichtangehörigen und jene, die sozial und
familial eingebunden sind. Sie versprechen sich vom Engagement Sinn,
Befriedigung und Anerkennung. Sie haben die Kompetenzen, den Habitus und das
Wissen, um auf Schulkonferenzen mit Lehrern zu verhandeln oder die Finanzen von
Schulfördervereinen zu verwalten. Während Elternengagement faktisch also den
Regeln einer »Integration der Integrierten« folgt, wird sie gleichzeitig von
allen erwartet. Trotz formalem Schulgeldverbot (etwa in Nordrhein-Westfalen)
gilt längst nicht nur an privaten Gymnasien die elterliche Bereitschaft zu
regelmäßigen Schulspenden und Mitarbeit als faktische Voraussetzung einer
Einschulung. Im Ergebnis wird nicht nur die Belastung von kinderreichen
Familien und von Alleinerziehenden erhöht, die im Hinblick auf Engagement für
die nachwachsende Generation ohnehin Überdurchschnittliches leisten. Indem die
Qualität von Schulen zunehmend von der Elternmitarbeit abhängt, setzen sich
zudem familiale Ungleichheitsstrukturen in der Leistungserbringung der Schulen
fort. Hinzu kommt: Elternarbeit wird vor allem von gut gebildeten Müttern
getragen, die größere Familien haben oder schon (mindestens in Teilzeit)
erwerbstätig sind. Just jene Zielgruppe, für deren vermehrte Erwerbstätigkeit Ganztagsschulen
propagiert werden, sollen deren Qualität sicherstellen.
Doch wie soll ein
Mentalitätswandel in der Bewertung von familiären Erziehungsleistungen erreicht
werden, wenn gleichzeitig (nicht nur) das Bundesfamilienministerien die
Förderung einer Erwerbstätigkeit von Müttern (und den wenigen Väter) in einer
Weise thematisiert, als ginge es um die Resozialisierung von Strafgefangenen?
Trotz PISA erzeugt die
Bildungsmisere der Unterschicht allenfalls in der verzerrten Perspektive eines
spezifischen Problems von Heranwachsenden mit Migrationshintergrund
öffentliches Interesse. Oder es dominiert die sozialtechnokratisch motivierte
und erstaunlich erfahrungsresistente Vorstellung, dass Ganztags- und
Gesamtschulen die Verheerungen kompensieren könnten, die Arbeitslosigkeit,
soziale Deprivation und Perspektivlosigkeit schlagen. Eine systematische
Verbindung von Bildungsoffensive und Sozialpolitik sucht man hingegen auf der
politischen Agenda vergebens. Solange Bildungsanstrengungen für
Unterschichtfamilien keine subjektive Perspektive für eine soziale
Aufwärtsmobilität eröffnen, mag die Nach-PISA-Politik für viele neue
Bildungschancen eröffnen, eine Minderheit der Jüngeren dürfte aber aus der
(Wissens-)Gesellschaft vollends ausgeschlossen sein. Die Gesellschaft kann sich
womöglich auch damit arrangieren, indem die Mehrheit an einem neuen
Bildungsrassismus anknüpft, der als natürliche Begabung begreift, was
kulturelles Privileg ist. Die Rebellion der Zurückgebliebenen dürfte
sich bis auf weiteres in der Wahlentscheidung für die NPD und in Sympathien für
autoritäre Ideologien beschränken. Und ihre Kriminalität und Gewalt
richtet sich vornehmlich gegen Angehörige des eigenen Milieus. Die Frage ist,
ob wir in dieser Gesellschaft leben wollen.
1
Dies gilt für Fachkompetenzen und für soziale Fähigkeiten.
Auch Solidarität, Teamgeist und Empathie lernt man auf Gymnasial- eher als auf
Gesamtschulhöfen.
2
So findet sich bei den Absolventen ohne Hauptschulabschluss
eine Spannweite von 7,1 Prozent in Nordrhein-Westfalen bis hin zu 14,5 Prozent
in Sachsen-Anhalt. Bayern und Baden-Württemberg als Bundesländer mit besonders
geringem Angebot an außerhäuslicher Betreuung schneiden in Leistungsvergleichen
deutlich besser ab als die ostdeutschen Länder.
Ausgewählte Literatur zum Thema:
Becker, Rolf/Lauterbach, Wolfgang: Bildung als
Privileg ? Erklärungen und Befunde zu den Ursachen der Bildungsungleichheit,
Wiesbaden (VS Verlag für Sozialwissenschaften) 2005 (451 S., 39,90 €)
Bien, Walter/Alois, Weidacher (Hrsg.): Leben neben der
Wohlstandsgesellschaft. Familien in prekären Lebenslagen, Wiesbaden (VS
Verlag für Sozialwissenschaften) 2005 (451 S., 39,90 €)
Bourdieu, Pierre: Wie die Kultur zum Bauern kommt. Über
Bildung, Schule und Politik, Hamburg (VSA Verlag) 2001 (206 S., 18,90 €)
ders.: Der Staatsadel, Konstanz (UVK Verlag) 2004
(476 S., 39,00 €)
Bundesregierung: Lebenslagen in Deutschland. Der 2.
Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Berlin 2005,
www.bmgs.bund.de
Granato, Nadia: Ethnische Ungleichheit auf dem
deutschen Arbeitsmarkt, Opladen/Wiesbaden (Verlag Leske & Budrich, VS
Verlag) 2002 (200 S., 22,90 €)
Hans-Böckler-Stiftung: Reformempfehlungen für das
Bildungswesen, Weinheim (Juventa Verlag) 2002 (264 S., 20,00 €)
Heinrich-Böll-Stiftung: Selbstständig lernen.
Bildung stärkt Zivilgesellschaft, Weinheim (Beltz Verlag) 2004 (239 S.,
16,90 €)
Holz, Gerda/Susanne, Skoluda: Armut im frühen
Grundschulalter, Frankfurt am Main (ISS-Eigenverlag) 2002 (232 S., 12,40 €)
Neubauer, Georg/Fromme, Johannes/Engelbert, Angelika
(Hrsg.): Ökonomisierung der Kindheit. Sozialpolitische Entwicklungen und
ihre Folgen, Opladen/Wiesbaden (Leske & Budrich/jetzt VS-Verlag) 2002
(178 S., 14,80 €)
StudienanfängerInnen an Universitäten nach dem Beruf des Haushaltsvorstandes
in Prozent (bis 1995 alte Bundesländer)
1969 1979 1989 1999
Arbeiter
3 4 5 7
Angestellte
15 24 24 25
Selbstständige
11 16 25 32
Insg.
10 13 18 22
Quelle: Geißler, Rainer 2000: »Bildungsexpansion und
Bildungschancen«, in: Informationen zur politischen Bildung 269:
Sozialer Wandel in Deutschland