Harry Kunz

 

Klassengesellschaft Schule

 

Eine Verbindung von Bildungsoffensive und Sozialpolitik wäre nötig

 

 

 

Chancengleichheit war einmal der Zentralbegriff der Bildungsreformer. Man setzte auf eine Schule, die herkunftsbedingte Unterschiede der Kinder durch gemeinsamen Unterricht kompensiert. Doch die Bildungsexpansion spitzte die Ungleichheiten von Bildungschancen noch zu. Heute gewinnen Ganztagsunterricht und die Forderung nach »einer Schule für alle« erneut an Gewicht. Allerdings, so unser Autor, sollte man nicht länger der Vorstellung nachhängen, dass eine veränderte Schulstruktur ausreicht, um mehr Bildungschancen für alle sicherzustellen.

 

Dümmere gab es schon immer und wird es immer geben«, sagt ein Vater auf einer Versammlung des Schulfördervereins, bei der es um zusätzliche Sprachförderung russlanddeutscher Kindern geht. Recht hat er. Trotz mancher Reformen im Bildungswesen und eines erheblich ausgeweiteten Kinder- und Jugendhilfesektors lebt das Gesetz sozialer Vererbung von Bildungschancen ungebrochen fort: Zu wenige Kinder aus Arbeitermilieus schaffen den Bildungsaufstieg an Fachhochschule oder Universität. Gleichzeitig sind es überwiegend die Kinder bildungsferner Eltern, die in den Schulen scheitern. Seit Mitte der Neunzigerjahre verlassen immer mehr Jugendliche die Schule ohne Abschluss. Der verbreitete Hinweis, dass fast zehn Prozent eines Altersjahrganges ohne Schulabschluss verbleiben, verniedlicht diesen Problemkreis noch. Gravierender als die relative Platzierung Deutschlands im internationalen Vergleich ist der PISA-Befund, dass der Anteil 15-Jähriger, die allenfalls eine für eine gelingende Berufsausbildung unzureichende Kompetenzstufe I erreichen, bei Werten zwischen 17,9 Prozent (Lesen) und 26,3 Prozent (naturwissenschaftliche Grundbildung) liegt. Ein Viertel aller Jugendlichen ist nicht in der Lage, den Hauptgedanken eines kurzen Textes zu erschließen, einer Tabelle Informationen zu entnehmen oder mathematische Standardaufgaben (z. B. Ermittlung eines Prozentwertes) zu berechnen. Jeder vierte Auszubildende bricht eine begonnene Berufsausbildung ab, nicht zuletzt weil er den Anforderungen der Berufsschule nicht gewachsen ist. Besorgniserregend ist dabei besonders die Ausbildungsquote ausländischer Jugendlicher, die von 43,5 Prozent im Jahre 1994 auf rund 34 Prozent im Jahr 2002 fiel.

Diese Befunde bedeuten nicht, dass heute an Schulen weniger gelehrt wird oder Schüler dümmer als früher sind. Sicher aber ist: Infolge der Rückgänge der Geburtenzahlen wird es in den kommenden Jahren zu einer deutlichen Verringerung der Zahl der jungen Menschen kommen. An diese werden immer höhere Anforderungen gestellt. Deshalb führt kein Weg am Abbau sozialer Bildungsbenachteiligungen vorbei. Die Quoten an Hochschulabsolventen sind zu gering, und es muss möglichst allen Jugendlichen ein qualifizierter Schulabschluss und eine abgeschlossene Berufsausbildung eröffnet werden.

Die Reform der schulischen Bildung ist hierfür eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung. Schulleistungen sind immer Leistungen der Schulen und Leistungen der Schüler, die sich im Zusammenspiel von institutionellen und pädagogischen Lernbedingungen, gesellschaftlichen Faktoren (etwa der öffentlichen Wertschätzung von Bildung), familiären Einflüssen und den individuellen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler herausbilden. Dass beispielsweise Gesamtschulen die mit ihnen verbundenen Erwartungen nur unzureichend erfüllen, liegt nicht nur an politischen Widerständen oder dem Umstand, dass sie nur eine Schulform neben anderen bilden. Entscheidender ist, dass Bildungsreformen ohne eine begleitende Sozialpolitik und einen Mentalitätswandel nur wenig gegen die soziale Vererbung von Bildungsnachteilen bewirken können, weil deren Ursachen überwiegend außerhalb der Schulen liegen. Für Neugier, Offenheit und Bildungsmotivation eines Kindes besteht ein überragender Einfluss des Elternhauses, das unterschiedliche Leistungsfähigkeit in Abhängigkeit von der Qualität der Eltern-Kind-Beziehung bewirkt.

 

Schulstrukturen contra Bildungschancen

Die soziale Herkunft beeinflusst die Bildungsmotivation. Die mit Schule verbundenen Erwartungen folgen einer schichtspezifischen Dynamik, die von dem gesellschaftsfunktionalen Interesse an »besser ausgebildetem Humankapital« ebenso weitgehend unabhängig sind wie vom wohlmeinenden Imperativ nach mehr Chancengerechtigkeit. Ein typisches Beispiel hierfür bilden Schulwahlen. Während über jene lamentiert wird, die trotz anders lautender Empfehlung ihr Kind auf dem Gymnasium anmelden, redet niemand über jene zahlreichen Eltern (und Kinder), die eine Empfehlung für eine »höhere Schule« ignorieren. Auch sie treffen ihre Schulwahl nach dem erwarteten Nutzen: Wer nicht gerne lernt, den zieht es auf die Hauptschule. Und seinen Eltern sollte man nicht – wie aktuell manche Politiker – fehlendes Interesse am Wohl ihrer Kinder unterstellen. Weil die mit Bildung verknüpften Erwartungen schichtabhängig sind, wird im unteren Drittel der Gesellschaft noch immer das Bild vom Taxi fahrenden Mediziner beschworen. Oder darauf verwiesen, dass »jemand die normale Arbeit verrichten« muss. Dahinter stecken Ängste vor Überforderung, wenn das Kind auf einer höheren Schule überwiegend mit optimal geförderten Akademikerkindern unterrichtet wird. Finanzielle Befürchtungen etwa auf Grund einer längeren Ausbildungszeit und möglicher Kosten für Nachhilfe kommen hinzu. Für die Kinder aus den Vorstadtghettos bundesdeutscher Großstädte ist ein sozialer Aufstieg durch Bildung auch kaum realistisch.

Selbst »eine Schule für alle« würde Normen und Verhaltensweisen positiv sanktionieren, die sich an der Mittelschicht, ihrem Habitus und ihrer Kultur orientieren. Kränkelnde, auffällige und laute SchülerInnen oder solche mit ungehobelten Verhaltensweisen würden kritisch beäugt. In einer sozial gespaltenen Gesellschaft kann Schule keine sozialistische Insel sein.

Das gegliederte Schulsystem heutigen Zuschnitts bewirkt darüber hinaus auch eine vermeidbare »institutionalisierte Unverantwortlichkeit« von Schulen und Lehrern. Während im PISA-Siegerland Finnland die Schule eine »Grundausbildung« bis zur 9. Klasse sicherstellen und bei »schwierigen« Kindern vielfältige Förderangebote nachweisen muss, werden in Deutschland auffällige Kinder selektiert oder verschwinden als Schulverweigerer oder -abbrecher vollends aus dem Pädagogenblick. Dem entspricht eine Mentalität der Lehrenden, die Bildungsprobleme von Schülern allein als Ausdruck elterlicher Erziehungsdefizite und problematischer gesellschaftlicher Einflüsse und nie als Teil der Verantwortung von Schulen und Lehrern begreift.

Zudem ist die Festlegung auf eine bestimmte Schulform im heutigen Schulsystem folgenschwer, weil sie in der Regel unumkehrbar ist. Vielen Kindern wird schon am Ende der Grundschulzeit die Option auf bestimmte Ausbildungswege und Zukunftsoptionen verbaut. Zwar lockert sich die Bindung von Abschlüssen an Schulformen: Realschulabschlüsse können auch an Hauptschulen, an Gesamtschulen, an Gymnasien oder in berufsbildenden Schulen erworben werden. Weil die Wertigkeit formal gleicher Abschlüsse tatsächlich aber hierarchisch geordnet ist, bevorzugen Arbeitgeber bei gleichem Bildungsabschluss jene, die ihr Abschlusszeugnis auf einer höheren Schulform erworben haben.

Außerdem entwickeln Kinder und Jugendliche sich aufgrund schulformtypischer Lernmilieus auseinander: Im Durchschnitt bleiben ähnlich leistungsfähige Jugendliche in der Hauptschule um eineinhalb Lernjahre hinter Gymnasiasten zurück. Zwar öffneten sich die Gymnasien für Angehörige der (unteren) Mittelschichten. Gymnasien bilden heute die sozial heterogenste Sekundarschulform. Doch vom Fahrstuhleffekt der Bildungsexpansion profitierten in erster Linie Angehörige ohnehin privilegierter Sozialschichten (siehe Abbildung: Universitätsbesuch und Sozialstatus). In den unteren Sozialschichten vergrößerte die Bildungsexpansion die Chancenungleichheiten hingegen noch. Denn mit dem Bildungsaufstieg von Kindern aus beruflich qualifizierten Elternhäusern wurden Haupt- und Sonderschulen zu Schulen der Zurückgebliebenen, die heute die sozial homogenste Schülerschaft besitzen. Die Mehrzahl stammt aus instabilen oder zerrütteten Familien mit gering qualifizierten und häufig arbeitslosen Eltern.

Die Haupt- und Sonderschulen mutieren zu »Restschulen«, wo sich lernunwillige und verhaltensauffällige Jugendliche gegenseitig in ihrer Bildungsresistenz bestärken. Die »Sparvariante« der Reform, wo man angesichts rückläufiger Schülerzahlen verschiedene Schulformen einfach in einem Schulgebäude zusammenfasst, forciert diese Randständigkeit. Wenn (wie etwa in Nordrhein-Westfalen jetzt möglich) Haupt- und Realschulen unter einem Dach fortbestehen, sammeln sich in den Hauptschulklassen vollends nur die Leistungsschwächsten.

Diesen Trends stehen auch besser ausgestattete Haupt- und Sonderschulen ohnmächtig gegenüber. Die von der Kultusministerkonferenz mehrheitlich vertretene Optimierung des traditionellen Schulsystems stößt hier zweifellos an Grenzen. Soweit unterschiedliche Lernmilieus auf dem gegliederten Schulsystem beruhen, könnte allein »eine Schule für alle« resultierenden Bildungsbenachteiligungen begegnen, die Folgewirkungen expliziter Schulwahlen abschwächen oder zeitlich hinauszögern und zugleich die heute »institutionalisierte Unverantwortlichkeit« der Schulen aufbrechen.

 

Holzwege der Reform

Veränderungen an dieser für mehr Bildungsgerechtigkeit wichtigen »Stellschraube« sind kurzfristig aber wenig wahrscheinlich. Statt die realen Umsetzungshemmnisse zu thematisieren neigen auch die Reformbefürworter zu einer Ideologisierung: Eine Schule für alle »kommt allen Kindern zu Gute. Schwächere Schüler erhalten zusätzliche Lernanreize, leistungsstärkere werden mehr gefördert«, postuliert etwa die frühere GEW-Chefin Eva-Maria Stange. Solche Sozialromantik vernebelt jedoch die Tatsache, dass das heutige Schulsystem auf realen Interessen einer Mehrheit gründet. Für wohlbehütete Mittel- und Oberschichtkinder hat ein gemeinsamer Unterricht mit unmotivierten und leistungsschwächeren Kindern nicht per se einen zusätzlichen Nutzen.(1)

Für die Mehrheit elternseits gut geförderter Kinder wäre eine Schule für alle nur dann attraktiv, wenn durch Zusatzangebote auch für sie ein Zugewinn erkennbar wäre. Dies belegen die Erfahrungen mit integrativen Schulen und Betreuungsstätten: Nur wo diese auch für Kinder ohne Behinderung ein verbessertes Lernklima schaffen, unterstützen die Eltern einen gemeinsamen Unterricht. Der hierfür notwendige Politikwechsel, der die chronische Unterfinanzierung des Bildungssystems beseitigt, ist jedoch nirgendwo erkennbar.

 

Ganztagsschulen – mehr als Halbtagsunterricht mit Suppenküche?

PISA gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass zum Abbau von Bildungsbenachteiligungen ein Ganztagsunterricht zwingend erforderlich sei. In Finnland bilden Ganztagsschulen beispielsweise eher die Ausnahme. Der von Rot-Grün behauptete Zusammenhang zwischen Bildungschancen und außerhäuslichem Betreuungsangebot ist auch mit Blick auf bundesdeutsche Verhältnisse empirisch unbegründet: Trotz besseren Angeboten außerhäuslicher Betreuung in den neuen Bundesländern ist – auch unter Berücksichtigung der besonderen sozialen und ökonomischen Bedingungen – kein hieraus resultierender Bildungsvorsprung ableitbar.(2)

Dennoch könnten Ganztagsschulen ein sinnvolles Element einer Bildungsoffensive bilden. Wo Ganztagsunterricht etwa in Rheinland-Pfalz oder in Nordrhein-Westfalen den Status von besonders protegierten Modellprojekten verlassen hat, reduzieren sich diese Angebote jedoch bei durchschnittlich engagierten Lehrern, Eltern und Schulverwaltungen auf Vormittagsunterricht mit Suppenküche und anschließender Verwahrung der Kinder durch häufig fachfremde Mitarbeiterinnen auf 400-€-Job-Basis. Für deren Qualifikation gilt überwiegend: Wer selbst Kinder hat, kann auch fremde Kinder betreuen. Wie so die Bildungschancen von Kindern verbessert werden sollen, die noch im fortgeschrittenen Grundschulalter keine deutschen Sprachkenntnisse besitzen oder als Zappelphilippe nicht konzentrationsfähig sind, bleibt unerfindlich. Ein Argument lautet, dass die neuen Ganztagsschulen – gemäß der Eigenlogik von Institutionen – ihre Qualitätsverbesserung selbst erzwingen: Ist ein Ganztagsangebot einmal etabliert, stünden Verbesserungen im Eigeninteresse der dort Lehrenden, der Eltern und der sonstigen Öffentlichkeit. Ein Blick auf die Entwicklung von Kindertagesstätten der letzten 25 Jahre belegt aber, dass deren gesellschaftlich unstrittig erkannte Notwendigkeit und ihr erheblicher quantitativer Ausbau sehr wohl mit einer qualitativen Ausdünnung einhergingen. Kindergärten heutigen Zuschnitts sind überwiegend bloße Verwahranstalten, die keinen signifikanten Beitrag zum Abbau von Bildungsungleichheiten leisten: Beamtenkinder haben auch ohne Besuch vorschulischer Einrichtungen eine viermal günstigere Chance für den Übergang aufs Gymnasium als Arbeiterkinder, die den Kindergarten besuchten. Sowohl für vorschulische Einrichtungen wie für schulische Ganztagsangebote gilt: Nicht der Besuch einer Krippe, eines Kindergartens oder einer Ganztagsschule ist gut, sondern nur der Besuch guter Kindergärten und guter Ganztagsschulen.

 

Zwischen Ökonomisierung, Staatshandeln und Elternverantwortung

Der Wunsch nach mehr Chancengleichheit durch veränderte Schulformen ist eingebettet in einen Prozess weiterer Ökonomisierung und Privatisierung der Bildung: Die von grün bis schwarz geforderte Stärkung schulischer Selbstverwaltung, der vermehrte Wettbewerb zwischen den Schulen und eine stärkere Einbeziehung elterlicher Aktivitäten werden genau jene sozialen Spaltungen in und zwischen den Schulen verstärken, denen eine veränderte Schulstruktur begegnen will.

Kaum eine Übermittagsbetreuung oder ein Ganztagsschulangebot funktioniert ohne ehrenamtliches Engagement von Eltern und anderen Freiwilligen. Dabei wird Elternmitarbeit häufig wörtlich genommen: An bayrischen Gymnasien fungieren Eltern als Ersatzlehrer. Andernorts reparieren sie Toiletten, weißen Schulwände oder organisieren den Pausenverkauf. Nicht nur in den Bildungskonzepten der Bündnisgrünen sowie der Heinrich-Böll-Stiftung wird dies als eine Form bürgerschaftlichen Engagements begrüßt, zu dem die Bildungspolitik des »aktivierenden Staates« ermuntern soll. Soweit dies nicht einfach die Forderung nach Privatisierung von Bildung verbrämt, übersieht dieser Ansatz mindestens die unterschiedlichen Fähigkeiten und Voraussetzungen zum Engagement: Aktiv sind vorrangig die gebildeten Mittelschichtangehörigen und jene, die sozial und familial eingebunden sind. Sie versprechen sich vom Engagement Sinn, Befriedigung und Anerkennung. Sie haben die Kompetenzen, den Habitus und das Wissen, um auf Schulkonferenzen mit Lehrern zu verhandeln oder die Finanzen von Schulfördervereinen zu verwalten. Während Elternengagement faktisch also den Regeln einer »Integration der Integrierten« folgt, wird sie gleichzeitig von allen erwartet. Trotz formalem Schulgeldverbot (etwa in Nordrhein-Westfalen) gilt längst nicht nur an privaten Gymnasien die elterliche Bereitschaft zu regelmäßigen Schulspenden und Mitarbeit als faktische Voraussetzung einer Einschulung. Im Ergebnis wird nicht nur die Belastung von kinderreichen Familien und von Alleinerziehenden erhöht, die im Hinblick auf Engagement für die nachwachsende Generation ohnehin Überdurchschnittliches leisten. Indem die Qualität von Schulen zunehmend von der Elternmitarbeit abhängt, setzen sich zudem familiale Ungleichheitsstrukturen in der Leistungserbringung der Schulen fort. Hinzu kommt: Elternarbeit wird vor allem von gut gebildeten Müttern getragen, die größere Familien haben oder schon (mindestens in Teilzeit) erwerbstätig sind. Just jene Zielgruppe, für deren vermehrte Erwerbstätigkeit Ganztagsschulen propagiert werden, sollen deren Qualität sicherstellen.

Doch wie soll ein Mentalitätswandel in der Bewertung von familiären Erziehungsleistungen erreicht werden, wenn gleichzeitig (nicht nur) das Bundesfamilienministerien die Förderung einer Erwerbstätigkeit von Müttern (und den wenigen Väter) in einer Weise thematisiert, als ginge es um die Resozialisierung von Strafgefangenen?

 

Bildung muss sich wieder lohnen!

Trotz PISA erzeugt die Bildungsmisere der Unterschicht allenfalls in der verzerrten Perspektive eines spezifischen Problems von Heranwachsenden mit Migrationshintergrund öffentliches Interesse. Oder es dominiert die sozialtechnokratisch motivierte und erstaunlich erfahrungsresistente Vorstellung, dass Ganztags- und Gesamtschulen die Verheerungen kompensieren könnten, die Arbeitslosigkeit, soziale Deprivation und Perspektivlosigkeit schlagen. Eine systematische Verbindung von Bildungsoffensive und Sozialpolitik sucht man hingegen auf der politischen Agenda vergebens. Solange Bildungsanstrengungen für Unterschichtfamilien keine subjektive Perspektive für eine soziale Aufwärtsmobilität eröffnen, mag die Nach-PISA-Politik für viele neue Bildungschancen eröffnen, eine Minderheit der Jüngeren dürfte aber aus der (Wissens-)Gesellschaft vollends ausgeschlossen sein. Die Gesellschaft kann sich womöglich auch damit arrangieren, indem die Mehrheit an einem neuen Bildungsrassismus anknüpft, der als natürliche Begabung begreift, was kulturelles Privileg ist. Die Rebellion der Zurückgebliebenen dürfte sich bis auf weiteres in der Wahlentscheidung für die NPD und in Sympathien für autoritäre Ideologien beschränken. Und ihre Kriminalität und Gewalt richtet sich vornehmlich gegen Angehörige des eigenen Milieus. Die Frage ist, ob wir in dieser Gesellschaft leben wollen.

 

1

Dies gilt für Fachkompetenzen und für soziale Fähigkeiten. Auch Solidarität, Teamgeist und Empathie lernt man auf Gymnasial- eher als auf Gesamtschulhöfen.

2

So findet sich bei den Absolventen ohne Hauptschulabschluss eine Spannweite von 7,1 Prozent in Nordrhein-Westfalen bis hin zu 14,5 Prozent in Sachsen-Anhalt. Bayern und Baden-Württemberg als Bundesländer mit besonders geringem Angebot an außerhäuslicher Betreuung schneiden in Leistungsvergleichen deutlich besser ab als die ostdeutschen Länder.

 

Ausgewählte Literatur zum Thema:

 

Becker, Rolf/Lauterbach, Wolfgang: Bildung als Privileg ? Erklärungen und Befunde zu den Ursachen der Bildungsungleichheit, Wiesbaden (VS Verlag für Sozialwissenschaften) 2005 (451 S., 39,90 €)

Bien, Walter/Alois, Weidacher (Hrsg.): Leben neben der Wohlstandsgesellschaft. Familien in prekären Lebenslagen, Wiesbaden (VS Verlag für Sozialwissenschaften) 2005 (451 S., 39,90 €)

Bourdieu, Pierre: Wie die Kultur zum Bauern kommt. Über Bildung, Schule und Politik, Hamburg (VSA Verlag) 2001 (206 S., 18,90 €)

ders.: Der Staatsadel, Konstanz (UVK Verlag) 2004 (476 S., 39,00 €)

Bundesregierung: Lebenslagen in Deutschland. Der 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Berlin 2005, www.bmgs.bund.de

Granato, Nadia: Ethnische Ungleichheit auf dem deutschen Arbeitsmarkt, Opladen/Wiesbaden (Verlag Leske & Budrich, VS Verlag) 2002 (200 S., 22,90 €)

Hans-Böckler-Stiftung: Reformempfehlungen für das Bildungswesen, Weinheim (Juventa Verlag) 2002 (264 S., 20,00 €)

Heinrich-Böll-Stiftung: Selbstständig lernen. Bildung stärkt Zivilgesellschaft, Weinheim (Beltz Verlag) 2004 (239 S., 16,90 €)

Holz, Gerda/Susanne, Skoluda: Armut im frühen Grundschulalter, Frankfurt am Main (ISS-Eigenverlag) 2002 (232 S., 12,40 €)

Neubauer, Georg/Fromme, Johannes/Engelbert, Angelika (Hrsg.): Ökonomisierung der Kindheit. Sozialpolitische Entwicklungen und ihre Folgen, Opladen/Wiesbaden (Leske & Budrich/jetzt VS-Verlag) 2002 (178 S., 14,80 €)

 

StudienanfängerInnen an Universitäten nach dem Beruf des Haushaltsvorstandes in Prozent (bis 1995 alte Bundesländer)

 

                           1969              1979                        1989                           1999

Arbeiter                  3                    4                              5                                  7

Angestellte           15                  24                            24                                25

Selbstständige     11                  16                            25                                32

Beamte                  27                  35                            43                                44

Insg.                      10                   13                            18                                22

 

Quelle: Geißler, Rainer 2000: »Bildungsexpansion und Bildungschancen«, in: Informationen zur politischen Bildung 269: Sozialer Wandel in Deutschland