Wolfgang Klotz

 

Zwischen Himmel und Erde

 

Überlegungen zu einem gestorbenen und einem nachfolgenden Papst – und zur Rolle der katholischen Kirche

 

 

 

Unser Autor führt uns hinein in die Denk- und Handlungsweise von Karol Woityla, in die Gespaltenheit von Himmel und Erde, also in die »Theo-Logie« und die vatikanische Urteilsfindung. Dabei geht es auch um die Auseinandersetzungen um kirchliche Schuld, die Fragen nach Kirche und Frauen, Geburtenkontrolle und Aids. Auf diesem Weg führt er vor, wie es um die »Wahrheitsfindung« einer Offenbarungsreligion bestellt ist. Was bewahrt sie, die das »ganz Andere« in der Welt repräsentieren will, dabei heute vor einer totalitären Autorität?

 

Das schöne Wort, dass Gott »Das ganz Andere« sei, stammt – so sehr man es als Katholik auch neidisch bedauert – von dem Protestanten Karl Barth. Der Blick, mit dem Barth zu dieser Formulierung kommt, ist ein ganz und gar irdischer, er schaut von dort, wo wir alle sind, auf das, was er sucht, und er stellt einen unendlichen Graben fest. Darin folgt er guter lutherscher Tradition, wonach all unser Streben, diesen Graben zu überbrücken, vergeblich bleibt, weil nur von der anderen Seite her ein Überwinden möglich ist – durch die Gnade. Es steckt darin die Forderung eines hohen Preises: Der Mensch, den Luther einst gerade in die Unmittelbarkeit mit Gott erhob, um ihn aus der Vormundschaft der Pfaffen zu befreien, nutzte diese Emanzipation, um sich nicht nur in der Religion, sondern auch in der Welt von allen göttlich legitimierten Obrigkeiten loszusagen und zum mündigen Bürger zu werden. Doch am Ende dieses langen Prozesses entdeckt er plötzlich gegenüber dem »ganz Anderen: Gott« seine unendliche Einsamkeit in der Welt. Karl Barths Perspektive hat ihre grandiose Bewährungsprobe dadurch bestanden, dass nahezu alle, die sich im Protestantismus als immun gegenüber dem Nationalsozialismus erwiesen, nur ihm (und der Gnade) ihre Immunität verdanken. Aus Barths Blickwinkel betrachtet entpuppten sich der pseudoliturgische Popanz eines Rosenberg und die aufgeblasene Rhetorik der Partei ganz unmittelbar als die Anmaßung, die sie wirklich waren.

Das kontrastierende, ebenso schöne Wort, Gott sei »das asymptotische(1) Woraufhin unserer Existenz« stammt vom Katholiken Karl Rahner, und es repräsentiert eine Tradition, in der man populär gerne vom »lieben Gott« spricht. Auch Rahner hält Ausschau nach dem, was das Ziel sein soll; auch sein Blick beginnt ganz im irdischen Tal nach oben auf das Ziel »unserer Existenz«. Aber in dieser mathematischen Metapher steht nicht so sehr der Graben im Vordergrund, eher geht es um die Verbindung unseres ewigen Bemühens um die Annäherung mit einer Erkenntnis der doch immer bleibenden Distanz. In Rahners Bild können wir uns an der Spitze, dort, wo die Asymptote das Unendliche berührt, tatsächlich einen »lieben Gott« vorstellen, der uns mit nicht endender Geduld nach oben winkt und immer mal wieder zuruft: »Du schaffst das schon!«, während wir uns noch vergeblich abstrampeln auf dieser Kurve, die umso steiler wird, je näher wir dem Ziel kommen. Seltsamerweise ist die in Münster gelehrte Theologie des Asymptotikers die Quelle beinahe jeder Befreiungstheologie der Siebzigerjahre gewesen, und wie dies zusammenhängt und ob auch das als eine bestandene Bewährungsprobe zu verstehen ist, soll hier erst einmal offen bleiben.

Die beiden Perspektiven, Gott zu denken, schließen sich nicht aus. Ihr Widerspruch ist zugleich ihr Zusammenhang, der sich in dem mathematischen Bild Rahners sofort erschließt.

Karl Barth würde seinem Kollegen Rahner auf der Stelle den grundlegenden Irrtum vorhalten, dass er zwar den Prozess der Annäherung an Gott ins Unendliche verlängere, dafür aber für Gott selbst einen finiten Wert n auf der X-Achse annehmen müsse. Wenn aber, wie Barth fordert, der Wert n für Gott selbst unendlich sein soll, dann wird aus der steigenden Kurve der Annäherung wieder eine flache Gerade, jenseits derer Gott unerreichbar als der »ganz Andere« uns gegenübersteht.

 

Die Frage, wie in einem Satz zu fassen wäre, was den verstorbenen Papst und sein Pontifikat auszeichnete, hat zwei Wochen lang unzählige Journalisten umgetrieben. Auch hier könnte man von unendlich vielen Abstufungen der Annäherung reden. Im Papst-Dossier auf der Internet-Seite der FAZ fand sich gar ein zwischen zwei Artikeln eingeschobener Kasten mit dem Spruch:

» Das Papst-Prinzip: Führungskraft durch unmittelbare
Überzeugung und uneingeschränkte Machtfülle.«

Vielleicht hat ja Hans-Olaf Henkel der FAZ eine seiner aphoristischen Weisheiten übergeben und seinen ganz intimen Traum veröffentlicht, dass sich die Führungspersönlichkeiten der Republik die Wirkungsprinzipien päpstlicher Autorität auch für das Management der säkularen Welt zu Nutze machen sollten. Es war wohl die verwegenste Form der Annäherung an den Verstorbenen, bis schließlich die nationale Usurpation des Nachfolgers im »Wir sind Papst!« nicht mehr zu übertreffende Maßstäbe setzte. Das gibt doch Mut und Legitimation, all den versuchten Antworten und Vermutungen noch eine weitere, weniger vermessene hinzuzufügen.

Eine Anfangsthese würde ich beinahe mit Gewissheit wagen: dass das Charakteristische des Pontifikats von Johannes Paul II. weder in seiner Theologie (im strikten Sinn) noch in seiner Mariologie zu finden ist, sondern nur in seiner Ekklesiologie – darin, wie er die Kirche dachte und sein Amt in ihr. Alles, was sonst diesem Pontifikat spezifisch ist, kam unmittelbar aus seiner Persönlichkeit.

Vor den beiden großen Karls (Barth und Rahner) war es etwas einfacher. Es gab die Welt und es gab »Das ganz Andere«. Die Existenz des Letzteren war zunehmend strittig geworden, und bei den Wohlmeinenden unter denen, die sie bestritten, waren noch manche zu finden, die doch mit einem weinenden Auge Abschied nahmen, weil sie das vage Gefühl eines nicht mehr aufzuholenden Verlustes empfanden, wenn sie die Einsamkeit des Erdenbürgers derart für endgültig erklärten. Fürderhin sahen die aufgeklärten Zeitgenossen in der Kirche jene Institution in der Welt, die sich ihrer säkularen Selbstgenügsamkeit beharrlich, starrsinnig, unbelehrbar, autoritär und arrogant entgegenstellte. Nun, das tat sie auch, und tat es oft genug in der durch diese Attribute beschriebenen Weise. Aber wollte man in dieser trotzigen Behauptung die primäre Aufgabe und Eigenschaft der Kirche sehen, dann wäre dies doch eine leichte Unterschätzung. Karol Woityla scheint dieser Unterschätzung ein beklemmendes Ende und seiner Kirche ein grandioses Comeback beschert zu haben. Wie aber ist es ihm gelungen?

These zwei – schon mehr als eine Vermutung denn als eine Gewissheit zu verstehen: Er dachte die Kirche nicht als die Instanz in der Welt, die »das ganz Andere« behauptet, sondern eine, die – wenn auch in sehr schwer zu bestimmender Weise von Repräsentanz – »das ganz Andere« ist.

Es erübrigt sich zu sagen, dass alles, was ein Papst denkt, sich in langer Traditionsreihe befindet. Spätestens seit dem zweiten Jahrhundert war das Ausbleiben der Wiederkunft Christi erklärungsbedürftig, denn es sah ja beinahe so aus – und es sieht dem ungläubigen Blick durchaus bis heute so aus –, als sei zwischen dem Verlauf der Geschichte vor und nach der Zeitenwende hinsichtlich der Erlöstheit der Welt kein wirklich fundamentaler Unterschied festzustellen. Aus diesem Dilemma entwickelte die Theologie eine brillante Kunst des Jonglierens zwischen dem »Schon« und dem »Noch« (Die Kirche ist schon eine Vorwegnahme »des ganz Anderen«, aber doch noch der Welt verhaftet), oder dem »Schon« und dem »Noch-Nicht« (Der Himmel ist schon in die Welt eingebrochen, aber seine Ankunft ist noch nicht von Dauer). Der Papst trägt den Titel eines »Pontifex« ja nicht, weil er Brücken über alle jene Zwistigkeiten schlägt, die uns arme Sünder alltäglich entzweien; die Brücke, die er macht – oder die er qua Amtes ist –, ist jene, die den Himmel mit der Welt verbindet, oder besser die Welt mit dem Himmel, denn jene hat die Verbindung eindeutig nötiger als dieser.

Dummer- oder klugerweise – das sei dahingestellt – verbergen sich solche Dinge immer in rhetorischen Figuren, die jedem Zeitgenossen als rituelle, von jedem konkret fassbaren Sinn entleerte Formeln erscheinen. Wenn aber Rom sagt, dass die Kirche »das Geschenk Gottes an die Menschen« sei, bedeutet das nichts anderes, als dass sie »nicht von dieser Welt« sei. Alles, was dieser Kirche wesentlich ist oder was im scholastischen Sinn zu ihrer »Substanz« zählt, gehört in jenen Bereich, in dem sie schon den Himmel verkörpert. Das sind in erster Linie die Offenbarung, die ja auf quasi direktem Weg von dort an sie (resp. das Judentum als ihren Vorgänger in der Rolle des Volkes Gottes) übertragen wurde. Zum Zweiten sind dies die Sakramente, weil jedes Sakrament ein Akt oder eine Tat des Himmels ist, die schon in der Welt stattfindet, auch wenn diese es noch nicht festhalten kann. Der Streit um die Unfehlbarkeit, der auf dem 1. Vatikanischen Konzil 1870 ausgetragen wurde, war ein Streit um die Frage, ob die Kirche, wenn sie eine Lehre verkündet, sich bereits im Schon oder noch im Noch-Nicht befindet. Die Definition der Unfehlbarkeit war also nur der logische Ausdruck ihres Anspruchs, dass ihre Lehre »nicht von dieser Welt sei«. Die Idee der Unfehlbarkeit war immer schon Teil der katholischen Substanz, lediglich ihre ausdrückliche Definition schien in der Auseinandersetzung mit der Moderne am Ende des 19. Jahrhunderts opportun.

Meine These ist, dass Karol Woityla wie kein Papst seit Pius IX., der die Unfehlbarkeit verkündete, die Kirche in dieser Gespaltenheit zwischen Himmel und Erde gesehen hat: Sie hatte in der Welt das »ganz Andere« der Welt zu repräsentieren. Und ich möchte weiter behaupten, dass er wie kaum einer vor ihm über eine ausgeprägte Weisheit verfügte, die ihn vor der darin implizierten ungeheuren Anmaßung bewahrte. Der Verlauf der Kirchengeschichte legt die Vermutung nahe, dass – wann immer die Kirche in einer bestimmten Situation, zu einer bestimmten Frage sich in diese fundamentale Opposition zur Welt setzt, ohne dass ihre Position von solcher Weisheit abgefedert wird – aus der Gespaltenheit eine tatsächliche Spaltung entsteht. Es wäre also herauszufinden, was der Kern dieser Weisheit ist.

 

Die Forderungen nach einer Erneuerung der katholischen Kirche, wie sie aktuell in Deutschland gehandelt werden, würden – auch bei einer Umsetzung über 30 Jahre hinweg – unweigerlich zu einer Spaltung der Kirche in den europäischen Ländern führen, wobei der eine Teil in einen Sumpf der frustrierten, von Nostalgie gesättigten Ressentiments abwandern würde. Beispiele für solche Abspaltungen bietet die jüngere Vergangenheit in Fülle.

Auch wenn ich keine empirischen Untersuchungen zitieren kann, die es belegen würden, scheint mir doch plausibel, dass zum Beispiel Le Pens »Front National« zumindest eine seiner Wurzeln in der sich abspaltenden Bewegung des katholischen Integrismus hatte, die ihm in Frankreich wenige Jahre vorausging und dann in einer frustrierten Bedeutungslosigkeit verschwand oder sich eben politisierte. In allen europäischen Volkskatholizismen gab und gibt es diese infantilen, kitschigen, trotzigen Protestbewegungen, die sich aus der Frustration an der Moderne nähren und sich um ein nostalgisch-konstruiertes Bild des 19. Jahrhunderts scharen. Sie sagen sich los von der römischen Autorität, weil sie die vermeintliche Selbstaufgabe dieser Autorität nicht mehr ertragen. Sie träumen damit einen ähnlichen Traum von der Kirche, wie ihn radikale Rechte vom Staat träumen, und es ist daher alles andere als verwunderlich, wenn das polnische »Radio Maria« oder konservative Medien in Ungarn mit dem Katholizismus immer auch die Nation hochhalten und von heftigem Antisemitismus umgetrieben werden.

Auf der anderen Seite steht eine gesellschaftliche Ausprägung von Religion, die wir vornehmlich mit den USA verbinden. Sie stammt aus einem historischen Impuls, der kategorisch Freiheit in religiösen und in weltlichen Dingen in gleicher Weise verstehen wollte und dies auch erfolgreich einforderte. Das Resultat freilich sind ganze Heerscharen von Individuen, die unwidersprochen ihre je eigene, private Offenbarung an jeder Straßenecke und vor jeder Fernsehkamera als die ultima irratio der Welt verkünden können. Dummerweise hat Johann Tetzels Ablasshandel, der einst den Zorn Luthers gegen Rom erregte, just in der Gestalt von amerikanischen Fernsehpredigern seine zeitgenössische Wiedergeburt gefunden. Und weil sie über keine Liturgie verfügen und überhaupt ästhetisch sich bescheiden gebärden, müssen sie diese affektive Lücke durch rhetorisches Pathos füllen. Im Übrigen teilen sie durchaus ähnliche Nostalgien und Ressentiments wie die europäischen Brüder und Schwestern, nur den Antisemitismus teilen die amerikanischen Fundamentalisten offensichtlich nicht. Die Ursachen wären einer näheren Untersuchung wert.

Ein Papst, wie ihn sich die »progressiven deutschen Katholiken« wünschen, hätte vor seinem allerersten Reformedikt die Frage zu beantworten, wie er ein Zerbrechen der Kirche verhindern und ein Abdriften weiter Teile in eines dieser beiden so verschiedenen, aber doch artverwandten Extreme verhindern will. Dies war nicht das Dilemma Johannes Pauls II. Sein Dilemma war der Spagat zwischen Himmel und Erde, und dies ist ein weites Feld.

 

Der deutsche Kardinal Lehmann hatte in höchster theologischer Sophistik ein Konzept entworfen, wie sich die Kirche angesichts der staatlichen Gesetzeslage weiterhin an der Schwangerenberatung beteiligen könne. Warum hat Rom dieses Konzept verworfen? In feiner scholastischer Unterscheidung war in Mainz als das »finis operatum« (das objektive Resultat einer Handlung) herausgearbeitet worden, wie die Kirche in einer Situation, in der ihr die Welt nur die Wahl des kleineren Übels lasse, wenigstens einige der ungeborenen Leben vor der Abtreibung retten könne. Ebenso fein kam aus Rom die Antwort, dass das »finis operatum« in Wahrheit nur ein »finis operantis« (subjektiv beabsichtigtes Resultat einer Handlung) sei, während das tatsächliche Ergebnis dieser Haltung doch in einem schlechten Deal mit der Welt bestünde. In der Logik des Pontifex ist es nicht die primäre Aufgabe der Kirche, einer böse handelnden Welt durch kluge Beratung noch einige ungeborene Wesen zu entreißen, sondern zu allererst muss sie gegen diese Praxis der Welt an dem prinzipiellen Widerspruch festhalten, den sie aus der Perspektive des »ganz Anderen« als notwendig erkennt. Selbst um den Preis einiger Hundert nicht verhinderter Abtreibungen pro Jahr konnte sich Rom eine solche Wahl des kleineren Übels von der Welt nicht aufzwingen lassen.

In ähnlicher Struktur geschieht vatikanische Urteilsbildung in der schon lange vor Johannes Paul II. aufgebrochenen Frage der (künstlichen) Empfängnisverhütung. Die berühmte Enzyklika wider dieses Monster des modernen Eingriffs in die Ordnung der Natur datiert aus jener Zeit, als der Club of Rome zu tagen begann, um bald darauf seine Warnungen vor der Bevölkerungsexplosion auf der südlichen Halbkugel zu veröffentlichen. Wenige Jahre später schon hatte es sich ein deutscher Bundeskanzler auf die Fahnen seiner Verantwortungsethik geschrieben, gefragt oder ungefragt vor dieser globalen Gefahr zu warnen und, wenn gelegen, dies damit zu rechtfertigen, dass es doch tatsächlich für viele dieser Elenden besser sei, nicht geboren zu sein. Dies hatte einst Hiob von sich selbst gesagt – obwohl ihm doch vor der Zeit seiner Leiden durchaus eine Fülle guter Tage beschieden gewesen war. An den unvermeidlich stürmischen Diskussionen, die die theologische Fakultät zu Würzburg damals bewegten, war auch ein Student aus Kenia beteiligt, und im rechten Augenblick hielt er uns vor, dass – wenn es wirklich um die Kriterien des Club of Rome gehe – zwanzig kenianische Kinder nicht so viele Ressourcen verbrauchten, wie ein Kind in Hamburg sie selbstverständlich in Anspruch nimmt, dass sie auch nicht so viel Umweltverschmutzung erzeugten, weitaus weniger Energie konsumierten et cetera. Und in der Tat benennt die Enzyklika als ersten Grund ihrer Verkündung klar den Hauptwiderspruch ungerechter globaler Güterverteilung. Sie verweist auf die erst daraus erwachsende Gefahr, dass politische Macht – quasi mit dem Segen des Club of Rome – sich in die individuelle Freiheit der elterlichen Entscheidung für Kinder einmischen und sie mit staatlicher Gewalt beschneiden könnte. So plausibel Helmut Schmidts These vom »Besser-nicht-geboren-Sein« dem weltlichen Blick erscheinen mag, Rom kann den von der Welt geschaffenen ungerechten Fakten eine solche normative Kraft nur um den Preis der Selbstaufgabe zuerkennen.

Dies ist der (purpur-)rote Faden des Jonglierens mit dem Noch-Nicht und dem Dennoch-Schon. Wie bestimmte er zum Beispiel den Umgang des gestorbenen Papstes mit den anderen Religionen? Johannes Paul II. sah, dass sie mit der Kirche die ständige Mühe teilen, nicht (ganz) von dieser Welt zu sein. Sie sind auf der Asymptote der Annäherung dem Ziel einmal näher und einmal ferner, aber auch sie sind davon überzeugt, dass die Welt einen Spiegel braucht, in dem sie sich aus der Perspektive des »ganz Anderen« sieht (wenn sie es denn will). Das bleibt eine nur formale Gemeinsamkeit der Religionen. In allen materialen Ausformungen herrscht weiterhin Differenz und es bleibt der Anspruch des Katholizismus unangetastet, seit jeher den wahren Weg zu gehen.

Wie verhält sich Rom zu den anderen christlichen Kirchen und Konfessionen? Auch dies gestaltet sich entlang der gleichen Frage. Es scheint auf den ersten Blick höchst paradox, aber wenn man in den protestantischen Kirchen all jene skandalösen Ansprüche der römischen Kollegen auf Exklusivität, Alleinvertretung und – sei’s drum – auch Unfehlbarkeit ebenso für sich selbst erheben würde, dann hätte Bruder Ratzinger wohl schwerlich einen Zweifel äußern können, ob es sich denn bei ihnen wirklich um Kirchen im vollen Sinne handele. Denn alle diese Ansprüche sind nur Konkretionen des einen: nicht (nur) von dieser Welt zu sein.

Dieses gewitzte Jonglieren nervt freilich den Zeitgeist. Die Offenbarungsreligion in der katholischen Ausprägung kennt keine Mäßigung im Sinne einer Popper’schen Relativitätstheorie. Sie ist auch in allen Punkten das kategorische Gegenstück zu einer negativen Dialektik im Sinne Adornos. Aber es scheint, als empfände der Zeitgeist inzwischen auch Letztere nur noch als ein Ärgernis, und das gemeinsame Verschmäht-Sein ist immerhin schon wieder eine neue Gemeinsamkeit. Der katholischen Theologie – wie sollte es anders sein – ist die intellektuelle Bemühung der negativen Dialektik durchaus nicht unbekannt. Sie hat sie lediglich individualisiert und den zwar unverzichtbaren, aber doch überschaubar wenigen Mystikern in den Klöstern übertragen. Die institutionalisierte Offenbarungsreligion kann nur existieren, soweit sie nicht davon ablässt, die Wahrheit zu wissen und zu sagen, dass dies die volle und die einzige Wahrheit sei. Dies bleibt ein totalitärer Anspruch und ein fundamentalistisches Grundmuster, das aber im Begriff der Offenbarung notwendigerweise angelegt ist.

 

Was bewahrt die Kirche unter solchen Prämissen vor dem Totalitarismus, den Johannes Paul II. in zweifacher politischer Ausformung in seinem Leben erfahren hat? Um das Problem noch schärfer zu benennen, könnte man auch polemisch fragen: Wie konnte er, der doch diese beiden Formen des Totalitären von Anfang an als verabscheuungswürdig erkannt hatte, gegenüber dem totalitären Charakter der Offenbarung so blind bleiben? Um die Antwort bei ihm selbst zu finden, sollte man sich jene sieben historischen Erscheinungsformen von kirchlicher Schuld anschauen, die er in seinem öffentlichen Bekenntnis einräumte.

Die von Johannes Paul II. dort bekannten Verfehlungen haben allesamt ihre Wurzel darin, dass die Kirche in bestimmten historischen Phasen ihren skandalösen(2) Anspruch auf das Wissen der Wahrheit mit eigenen Interessen in der Welt verband. Es ist dieser Fehltritt vom schmalen Grat der Tugend, aus dem naturgemäß die Anmaßung von totalitärer Autorität entsteht: Die Kirche hat etwas, was ihr schon zusteht, instrumentalisiert für ihre weltlichen Interessen, das heißt für Interessen in jenem Bereich, dem sie noch verhaftet ist.

Versuchte man, aus dieser Ursache der Schuld wiederum positiv die Regel zu fassen, deren Beachtung den Besitzer der Wahrheit dennoch vor dem Abgleiten ins Totalitäre bewahrt, dann könnte man sie etwa so formulieren: Was immer der Kirche zukommt, weil sie schon ist, was die Welt noch nicht ist, darf sie nur einsetzen, solange sie in dem bleibt, was sie schon ist. Wenn sie schon nicht darauf verzichten kann, zu wissen, was die Welt nicht weiß, dann muss sie doch im Gebrauch dieses Wissens ihrer Autorität selbst eine Grenze setzen. Die Welt setzt ihr eine solche Grenze sowieso.

Im Idealfall würde dies bedeuten, dass sich die Kirche darauf beschränkte, ihre Wahrheit zu sagen, aber darauf verzichtete, sie in der Welt durchzusetzen, quasi so, wie einst das Licht in die Finsternis kam, aber »die Finsternis es nicht begriffen« (Joh. 1) hat. Das ist wie gesagt ein Ideal. Tatsächlich hat die Kirche seit dem 19. Jahrhundert eine Theorie von der Rolle der »Laien« entwickelt, die zu einer internen Arbeitsteilung führte: In den politischen Auseinandersetzungen sollten jene die Vollstrecker dessen sein, was sich aus der »gewussten Wahrheit« als politisches Ziel ergibt. Nicht umsonst heißen die Laien im Unterschied zu den »Geistlichen« im Volksmund auch die »Weltlichen«, und die Aufgabe, die ihnen die kirchliche Arbeitsteilung zuerkennt, ist die Gestaltung der Welt. Es gibt daher sehr wohl einen politischen Katholizismus, aber – um Himmels willen! – keine politische Theologie.

Johannes Paul II. präsentierte über sein ganzes Pontifikat hinweg der Welt ein großes »We are different«, und er wusste immer, dass sich die Kirche ohne diese Differenz in der Welt erübrigte. Ganz offensichtlich war seine Art der Präsentation eine, die die Welt annehmen konnte, vielleicht war sie mitunter sogar ein wenig gierig danach.

 

Es bleibt eine große offene Frage – das ist die nach der Kirche und den Frauen. Die viel häufiger aufgeworfene Frage nach den Frauen in der Kirche kann erst eine Antwort finden, wenn die grundsätzlichere nach der Kirche und den Frauen beantwortet ist. Die aber wird offen gehalten allein dadurch, dass nichts von dem, was man landläufig als das Frauenbild der Kirche unterstellt oder was man aus ihrer täglichen Praxis als faktisch herrschendes Frauenbild in ihr erkennen kann, sich strikt auf dogmatische Festlegungen stützen kann. Diese ungewöhnliche Zurückhaltung der Kurie vor der Möglichkeit, in ihrer dogmatischen Anthropologie mit aller Autorität und in der ihr eigenen Sprache festzulegen, was nach Offenbarung und Lehrtradition das »Wesen der Frau« sei, macht doch sehr deutlich, wie sehr die Männer der Kirche selbst ahnen, dass sie in dieser Frage nach wie vor mit beiden Beinen fest im Bereich des Noch-Nicht stehen. Weder der Ausschluss der Frauen vom Priestertum noch alle anderen Rollenfixierungen sind wirklich dogmatisch gestützt. Sie stünden also zur Disposition, und Veränderungen in diesem Bereich könnten durchaus vollzogen werden, ohne dass die Kirche an ihrer »Substanz« Schaden nehmen müsste. Aber die oben erwähnten Abspaltungspotenziale richten ihr Verhalten nicht an dem strikten, geschriebenen Dogma aus, sondern agieren aus dem viel weiteren Feld dessen, was sie subjektiv als dogmatisch festgelegt empfinden.

Zwei Papiere gibt es zu diesem Thema aus dem Pontifikat von Johannes Paul II., eines aus der Feder des Papstes selbst, das andere aus der Feder seines Nachfolgers, und nach der Arbeitsteilung zwischen diesen beiden hat der Letztere den Text des Ersteren nur kondensiert – ja, vielleicht auch ein wenig verschärft, aber doch nur um der größeren Präzision und Klarheit willen.(3) Es zeigt sich, dass das, was mit dogmatischer Gewissheit von der Frau gesagt werden kann, doch recht wenig ist. (Aber das wirklich Prinzipielle ist in einer geschwätzigen Welt immer nur eine bescheidene Anzahl von Wörtern.) Es ist

a) die naturgegebene Differenz von Mann und Frau, die

b) wesentlich in der Fähigkeit der Frau zur Mutterschaft besteht (wobei Mutterschaft nicht tatsächlich gegeben sein muss, um »im vollen Sinne« Frau zu sein) und

c) dass Mann und Frau in ihrer Differenz in gleicher Weise das Attribut der Ebenbildlichkeit Gottes zukommt, und dass es schließlich

d) eine von Gott gewollte Zuordnung von Mann und Frau aufeinander gibt, die im Paradies (i. e. im Schon) eine etwas andere Ausprägung hat als nach der Vertreibung aus demselben (i. e. im Noch-Nicht)

Ratzingers »Schreiben an die Bischöfe der Katholischen Kirche über die Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche und in der Welt« wurde von ihm gewiss nicht zufällig am Fest »Mariae Heimsuchung« 2004 unterzeichnet. Dessen biblischer Bezugspunkt ist der Besuch (»Heimsuchung«) der bereits schwangeren Maria bei ihrer Verwandten Elisabeth, die selbst schon mit dem späteren Johannes dem Täufer im 6. Monat schwanger war; ein Zusammentreffen von zwei werdenden Müttern, bei dem die Männer nicht vorkommen und also auch keine Erwartungen an sie geäußert werden können.

Das Motiv für Ratzingers Schreiben liegt in der Herausforderung der Kirche durch »einige Denkströmungen, deren Ideen oft nicht mit den genuinen Zielsetzungen der Förderung der Frau übereinstimmen« (sic!). Die Herausforderung liegt in einem Feminismus, der die Frau durch die starke Betonung ihrer »Unterordnung« zum Protest motiviert und sie »zum Gegner des Mannes macht«. Dieser Feminismus will quasi das Kind mit dem Bade ausschütten und mit den (nicht von Gott gewollten) historisch gewachsenen Strukturen der Unterordnung auch gleich die (von Gott gewollte) biologische Differenz überwinden. Dagegen behauptet die Kirche die »natürlichen Gegebenheiten« als wesentlichen Teil einer menschlichen Person und den Menschen »in absoluter Weise aufgelegt«. Dies ist in wirklich ratzingerscher Präzision die Grundlage für die kirchliche Haltung sowohl zur Homosexualität wie zur Empfängnisverhütung wie zur Abtreibung. Aber kann dies auch eine Basis sein in der Frage des Priestertums der Frau? Eigentlich wäre das Gegenteil zu konstatieren:

Zunächst scheint sich die gleiche Struktur zu wiederholen, wie wir sie oben schon gesehen haben: Ratzinger stellt den historisch gewachsenen und gesellschaftlich gegenwärtigen »Zustand der Unterordnung der Frau« fest. Er greift zu Punkt c) seiner dogmatischen Gewissheiten – der Gottebenbildlichkeit von Mann und Frau – und schon ist der Unrechtscharakter dieser Unterordnung absolut evident und klar benannt und bedarf keiner weiteren Worte mehr. Denn es geht ihm ja um das Folgeproblem, dass der feministische Protest gegen dieses Unrecht den Punkt a) der dogmatischen Gewissheiten – die Geschlechterdifferenz – zu missachten droht, und diesem Folgeproblem widmet er sich auf den folgenden 14 Seiten.

Auffallend daran ist die Tatsache, dass es sich sowohl bei der »Unterordnung« wie bei dem »übertriebenen Protest« gegen sie – in Ratzingers »Theo-Logik« – schlicht um zwei Phänomene weltlicher Verirrung handelt, wie die Kirche sie zu Tausenden gesehen hat. Es ist daher erklärungsbedürftig, warum er den »übertriebenen Protest« der Frauen eines vatikanischen Schreibens an die Bischöfe für würdig erachtet, dem »Zustand der Unterordnung« aber lediglich eine verurteilende Notiz zukommen lässt. Er verweist auch nicht darauf, dass zum Unrecht der »Unterordnung« in früheren Schreiben bereits hinreichend kirchlich Stellung bezogen worden sei und es sich deswegen hier erübrige. Sein Problem ist die Bedrohung der Differenz und nur darum macht er sich in diesem Papier Sorgen.

Sub specie finitatis darf man den Grund für solche Einseitigkeit in einem sehr irdischen Interesse an der Aufrechterhaltung eines »Zustandes der Unterordnung« der Frauen in der Kirche vermuten, ein Interesse freilich, das sub specie aeternitatis nicht gerechtfertigt ist. Und in der Tat kann der Rest des Schreibens über weite Strecken auch als ein Versuch gelesen werden, der »Unterordnung der Frau«, sofern sie in der Kirche geschieht, eine theologische Weihe zu verleihen, die sie von allen ähnlichen Phänomenen, die in der Welt geschehen, zutiefst unterscheidet und sie von jedem Unrechtscharakter freispricht. Dazu muss die Sprache sich bisweilen zu Formen verbiegen, die an das Totalitäre erinnern: an das für durchaus im Noch-Nicht anzusiedelnde Zwecke heruntergezogene »ganz Andere«.

 

Diese Frage also wird offen bleiben. Eine andere stellt sich aber noch dringlicher und bedarf unbedingt einer raschen Antwort, in der sich die oben erwähnte Weisheit zu bewähren haben wird: Die Frage von AIDS, von Prophylaxe – sprich: die unangenehm dehnbare Frage der Kondome und die fragwürdig harte bisherige Haltung der Glaubenskongregation. Fest steht: Die Frage, ob die Verwendung von Kondomen zum Zweck der AIDS-Prophylaxe nach katholischer Lehre legitim sei, stellt sich nur, weil die Krankheit nun einmal vorwiegend durch sexuellen Verkehr übertragen wird. Wäre dem nicht so, dann bliebe AIDS – wie alle anderen Krankheiten – ein lediglich pastoraltheologisches Problem. Immerhin macht die Kirche diese Unterscheidung in aller Klarheit, und auch die Vereinten Nationen erkennen die Statistik an, der zufolge 25 Prozent aller Pflegeleistungen an AIDS-Kranken weltweit von katholischen Einrichtungen erbracht werden.

Klar ist auch, dass die Kirche jeder kulturpessimistischen oder gar hämischen Interpretation von AIDS als einer quasi biblischen Plage der (unmoralischen) Menschheit widersprochen hat. Am deutlichsten machte das wohl der südafrikanische Bischof Kevin Dowling 2003 mit den Worten: »Wir müssen uns als Leib Christi betrachten, der AIDS hat. Die Kirche hat AIDS. Unsere Leute leben, leiden und sterben wegen dieser Krankheit.« Es ist nicht uninteressant, dass des Bischofs Formulierung zwar zur Vorlage für einen Buchtitel(4) wurde, das Buch aber die Beiträge einer geplanten Konferenz der Katholischen Akademie Freiburg versammelt, die 2003 mangels öffentlichen Interesses (sic!) abgesagt werden musste.

In denkbar schlichtester Weise ist auch evident, dass die Kirche mit ihrer Position Recht behält, nur die Enthaltsamkeit der Infizierten und die sexuelle Treue der noch nicht Infizierten garantiere den vollständigen Schutz vor AIDS. Freilich – wem hilft’s, auf eine Weise Recht zu haben, der ein gehöriger Zynismus nicht abzusprechen ist? Die Kirche kann sich nicht in der schmeichelhaften Idee zur Ruhe setzen, dass sie dort schon angekommen sei, wo die Welt noch nicht ist. Sie muss sich auch vergegenwärtigen, dass ihre skandalös behauptete Differenz zur Welt nur eine tönende Schelle wäre, »hätte sie die Liebe nicht« (I. Kor. 13), und dies ist im Zweifelsfalle immer die Liebe zu den »Sündern/-innen«. Im Wissen, dass ihr alles, was sie schon besitzt, nur zukommt im Interesse derer, die dessen noch bedürfen, darin sollte vermutlich die erwähnte Weisheit bestehen. Für die Kirche selbst ist der defizitäre, erlösungsbedürftige Charakter des Menschen eine anthropologische Grundgegebenheit. Sie muss daher verstehen, dass die, die ihr Wort hören, auch danach noch Sünder bleiben werden – von denen zu schweigen, die auf ihr Wort keinen Wert legen. Sie mag gerne auf ihrem Dissens zur Promiskuität und Permissivität der Welt beharren. Sie muss aber in diesem Dissens eine liebevolle Toleranz gegenüber den Sündern entwickeln – nicht erst in der Pflege, auch bereits in der Prophylaxe.

Wie wir seit Rainer Forsts Buch zur Toleranz(5) in aller Klarheit wissen, ist Dissens erst der Kontext, in dem sich die Frage der Toleranz stellt. Es sollte also auch der Glaubenskongregation in Rom möglich sein, eine Kunst der Toleranz zu entwickeln, in der die Kirche selbst endlich ihre pastorale Erfahrung mit ihrem theologischen Anspruch versöhnt. Der zitierte südafrikanische Bischof ist immer noch ein einsamer und von vielen afrikanischen Bischofskonferenzen gemiedener Vertreter eben dieser Kunst. Wenn der ob seiner Klugheit allseits gepriesene Nachfolger Johannes Pauls den feinen Unterschied nicht versteht, der zwischen der liebevollen Toleranz der Sünder und der Toleranz der Sünde selbst liegt, dann mag das eine Nuance sein, aber es ist mit Benjamin »die Nuance um das Wesentliche«.

 

1

Wikipedia: Eine Asymptote ist eine Tangente in der Unendlichkeit.

2

Skandalös in dem paulinischen Sinn des »Skandalons«, das für die Welt immer ein »Ärgernis« darstellt.

3

Siehe dazu: www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/re_con_cfaith_doc_20040731_collaboration_ge.html

4

Thomas Herkert, Norbert Kößmeier (Hrsg.): Der Leib Christi hat AIDS. Eine Epidemie als Herausforderung an die Kirche, Freiburg (Verlag der Katholischen Akademie) 2004.

5

Rainer Forst: Toleranz im Konflikt, Frankfurt am Main (Suhrkamp Verlag) 2003.