In der unaufgeregten Diktion eines
Schweizer Beobachters heißt es, dass »man sich ohne weiteres eine stringent
formulierte, kurze Verfassung für die EU ausmalen (könnte), die alles
Wesentliche enthielte und den unschätzbaren Vorteil hätte, dass sie von den
Bürgern der Union auch wirklich verstanden würde. Ein solch elegantes
Grundgesetz, das für die Zukunft als Richtschnur dienen könnte, und nicht das
vorliegende bürokratische Konvolut hätte die EU eigentlich verdient.« Eine Ablehnung
der Verfassung sei also keine Tragödie, sondern die Emanzipation von einem
unverständlichen Text durch die BürgerInnen. Daher solle die Entscheidung auch
unmittelbar von ihnen ausgehen, denn »bei allen populistischen Auswüchsen kann
Bürgernähe nur über eine ernsthafte Debatte und eine Volksentscheidung erreicht
werden. Andere sollten sich ein Beispiel nehmen. Vive la France!« (NZZ,
21.5.05)
Die Emphase des Schweizer
Beobachters, der direkte Demokratie zu schätzen weiß, ist sympathisch. Wie
viele andere Kritiker des vorliegenden Textes stellt er sich jedoch nicht die
Frage, warum kein »elegantes Grundgesetz«, sondern nur ein verwirrendes
Konvolut zur Abstimmung steht. Liegt das am Versagen der europäischen
politischen Klasse, an der viel beschworenen EU-Bürokratie, an dem Unwillen
also, den BürgerInnen
Europas einen einleuchtenden Text
vorzulegen? Man muss den Blick schon weiten, um zu erkennen, dass es andere
Gründe sind.
Hätte sich im Jahre 1945 oder 1988
jemand vorstellen können, dass die Mehrzahl der Nationalstaaten Europas im
Jahre 2005 entweder parlamentarisch oder in Volksabstimmungen über eine
europäische Verfassung entscheidet – dass also das Europa zweier Weltkriege,
der Vernichtung und Vertreibung sich in weiten Teilen zu einem Europa gewandelt
hat, in dem die einmütige Entscheidung über einen Text verlangt wird, der aus
weit über 400 Seiten besteht und die Tristesse des Kleingedruckten besitzt?
Natürlich nicht. Nur die historische Dimension erschließt, warum dieser Vertrag
zum Beispiel kein »christliches Abendland«, keinen »Sozialstaat«, kein »Recht
auf Arbeit«, auch keine »Befreiung aller Marktkräfte« und letztlich auch nicht
das Modell der »vereinigten Staaten von Europa« oder einen gemeinsamen Staat
der direkten Demokratie aller europäischen BürgerInnen festschreibt.
Der Kern des Verfassungstextes
liegt nicht in Werteprämissen, in Eiertänzen um Sozialität und Eigentum, um
Marktwirtschaft und Rechtsstaatlichkeit. Der Kern dieses Textes findet sich in
der ihm hinterlegten Einsicht, dass es nach all den geschichtlichen Erfahrungen
keinen Hegemon in Europa geben soll außer der Union selbst, dass es also,
verkürzt ausgedrückt, weder den großen Nationen möglich sein soll
durchzustechen noch den kleinen zu blockieren. Die ganze Verfassung ist ein Zwitter
aus Wertsetzungen und Ausführungsbestimmungen, sie ist die Verfassung für eine
Sache, die es zuvor noch nie gab. Daher rührt das Prozesshafte, die
Kompliziert- und Verschränktheit, die Suche und Sucht nach Ausgleich, der ganze
Aufwand für Anteils- und Abstimmungsmodi. Denn das Wesen dieser erweiterten
Union ist der Versuch der Begrenzung der absoluten durch die Ausgestaltung
einer relativen Konkurrenz der Nationalstaaten untereinander im Rahmen
kapitalistischer Produktionsverhältnisse. Ob das in der Praxis gelingen kann,
ist – über jeden denkbaren Verfassungstext hinaus – die entscheidende Frage des
neuen Europa.
*
Ob zur Ausgestaltung dieser Praxis
eine rot-grüne Bundesregierung bald noch etwas beitragen kann, ist fraglich.
Die Entscheidung für vorgezogene Bundestagswahlen ist der ehrenhafte und
durchaus plausible Versuch, eine Agonie zu verhindern und noch einmal in die
politische Offensive zu kommen. Womit aber soll die Flucht nach vorn inhaltlich
bestritten werden? Absehbar ist die Gegenüberstellung von sozialer
Marktwirtschaft und Konsolidierung der sozialen Sicherungssysteme versus reine
Marktwirtschaft / Kapitalismus pur (siehe
»Thema«). Darauf aber wird sich die bisherige Opposition, zumindest die
CDU/CSU, nicht wirklich einlassen. Sie wird die soziale und Arbeitsplatz-Karte
ebenso ausspielen wie jene der »Freiheit für die Ökonomie«. Dabei kann sie sich
die Inkonsistenz des rot-grünen Regierungshandelns zu Nutze machen und die
schwarzen Löcher in den Reformwerken ständig auf- und angreifen. Dagegen kann
Rot-Grün nur schwerlich die »kulturpolitischen« Reformen und Erfolge wie
Asylrecht, Atomausstieg et cetera aufbieten, weil sie in der öffentlichen
Meinung als lässlich oder umstritten gelten – und zudem dem Hauptthema
»Arbeitslosigkeit« und Wachstum scheinbar zuwiderlaufen. Auch die ökologischen
Argumente werden, Undank der SPD, nur als »Arbeitsplatzfresser« oder als
Spielplatz der Grünen erscheinen.
So könnte sich eine kleine historische Ära ihrem Ende
zuneigen. Eine »Volkspartei« kehrt zurück, eine andere wird sich ein Stück weit
zerlegen. Die Bundesrepublik wird noch erheblich unruhigeren Zeiten
entgegengehen, als sie jetzt schon gewohnt ist. Eine solche Entwicklung
spiegelt auch die Gemengelage in Europa durchaus wider. Wahrscheinlich stehen wir
erst jetzt am Beginn einer Phase »neuer Unübersichtlichkeit«. Auch »elegante
Grundgesetze« sind da nicht zu erwarten.