Michael Ackermann

 

Editorial

In der unaufgeregten Diktion eines Schweizer Beobachters heißt es, dass »man sich ohne weiteres eine stringent formulierte, kurze Verfassung für die EU ausmalen (könnte), die alles Wesentliche enthielte und den unschätzbaren Vorteil hätte, dass sie von den Bürgern der Union auch wirklich verstanden würde. Ein solch elegantes Grundgesetz, das für die Zukunft als Richtschnur dienen könnte, und nicht das vorliegende bürokratische Konvolut hätte die EU eigentlich verdient.« Eine Ablehnung der Verfassung sei also keine Tragödie, sondern die Emanzipation von einem unverständlichen Text durch die BürgerInnen. Daher solle die Entscheidung auch unmittelbar von ihnen ausgehen, denn »bei allen populistischen Auswüchsen kann Bürgernähe nur über eine ernsthafte Debatte und eine Volksentscheidung erreicht werden. Andere sollten sich ein Beispiel nehmen. Vive la France!« (NZZ, 21.5.05)

Die Emphase des Schweizer Beobachters, der direkte Demokratie zu schätzen weiß, ist sympathisch. Wie viele andere Kritiker des vorliegenden Textes stellt er sich jedoch nicht die Frage, warum kein »elegantes Grundgesetz«, sondern nur ein verwirrendes Konvolut zur Abstimmung steht. Liegt das am Versagen der europäischen politischen Klasse, an der viel beschworenen EU-Bürokratie, an dem Unwillen also, den BürgerInnen

Europas einen einleuchtenden Text vorzulegen? Man muss den Blick schon weiten, um zu erkennen, dass es andere Gründe sind.

Hätte sich im Jahre 1945 oder 1988 jemand vorstellen können, dass die Mehrzahl der Nationalstaaten Europas im Jahre 2005 entweder parlamentarisch oder in Volksabstimmungen über eine europäische Verfassung entscheidet – dass also das Europa zweier Weltkriege, der Vernichtung und Vertreibung sich in weiten Teilen zu einem Europa gewandelt hat, in dem die einmütige Entscheidung über einen Text verlangt wird, der aus weit über 400 Seiten besteht und die Tristesse des Kleingedruckten besitzt? Natürlich nicht. Nur die historische Dimension erschließt, warum dieser Vertrag zum Beispiel kein »christliches Abendland«, keinen »Sozialstaat«, kein »Recht auf Arbeit«, auch keine »Befreiung aller Marktkräfte« und letztlich auch nicht das Modell der »vereinigten Staaten von Europa« oder einen gemeinsamen Staat der direkten Demokratie aller europäischen BürgerInnen festschreibt.

Der Kern des Verfassungstextes liegt nicht in Werteprämissen, in Eiertänzen um Sozialität und Eigentum, um Marktwirtschaft und Rechtsstaatlichkeit. Der Kern dieses Textes findet sich in der ihm hinterlegten Einsicht, dass es nach all den geschichtlichen Erfahrungen keinen Hegemon in Europa geben soll außer der Union selbst, dass es also, verkürzt ausgedrückt, weder den großen Nationen möglich sein soll durchzustechen noch den kleinen zu blockieren. Die ganze Verfassung ist ein Zwitter aus Wertsetzungen und Ausführungsbestimmungen, sie ist die Verfassung für eine Sache, die es zuvor noch nie gab. Daher rührt das Prozesshafte, die Kompliziert- und Verschränktheit, die Suche und Sucht nach Ausgleich, der ganze Aufwand für Anteils- und Abstimmungsmodi. Denn das Wesen dieser erweiterten Union ist der Versuch der Begrenzung der absoluten durch die Ausgestaltung einer relativen Konkurrenz der Nationalstaaten untereinander im Rahmen kapitalistischer Produktionsverhältnisse. Ob das in der Praxis gelingen kann, ist – über jeden denkbaren Verfassungstext hinaus – die entscheidende Frage des neuen Europa.

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Ob zur Ausgestaltung dieser Praxis eine rot-grüne Bundesregierung bald noch etwas beitragen kann, ist fraglich. Die Entscheidung für vorgezogene Bundestagswahlen ist der ehrenhafte und durchaus plausible Versuch, eine Agonie zu verhindern und noch einmal in die politische Offensive zu kommen. Womit aber soll die Flucht nach vorn inhaltlich bestritten werden? Absehbar ist die Gegenüberstellung von sozialer Marktwirtschaft und Konsolidierung der sozialen Sicherungssysteme versus reine Marktwirtschaft / Kapitalismus pur (siehe  »Thema«). Darauf aber wird sich die bisherige Opposition, zumindest die CDU/CSU, nicht wirklich einlassen. Sie wird die soziale und Arbeitsplatz-Karte ebenso ausspielen wie jene der »Freiheit für die Ökonomie«. Dabei kann sie sich die Inkonsistenz des rot-grünen Regierungshandelns zu Nutze machen und die schwarzen Löcher in den Reformwerken ständig auf- und angreifen. Dagegen kann Rot-Grün nur schwerlich die »kulturpolitischen« Reformen und Erfolge wie Asylrecht, Atomausstieg et cetera aufbieten, weil sie in der öffentlichen Meinung als lässlich oder umstritten gelten – und zudem dem Hauptthema »Arbeitslosigkeit« und Wachstum scheinbar zuwiderlaufen. Auch die ökologischen Argumente werden, Undank der SPD, nur als »Arbeitsplatzfresser« oder als Spielplatz der Grünen erscheinen.

So könnte sich  eine kleine historische Ära ihrem Ende zuneigen. Eine »Volkspartei« kehrt zurück, eine andere wird sich ein Stück weit zerlegen. Die Bundesrepublik wird noch erheblich unruhigeren Zeiten entgegengehen, als sie jetzt schon gewohnt ist. Eine solche Entwicklung spiegelt auch die Gemengelage in Europa durchaus wider. Wahrscheinlich stehen wir erst jetzt am Beginn einer Phase »neuer Unübersichtlichkeit«. Auch »elegante Grundgesetze« sind da nicht zu erwarten.