Auf den literarischen und biografischen Spuren von Graham Greene
In der begrenzten
Lebenssphäre der DDR musste der vielgereiste Autor mit seinen Geschichten und
Romanen voller Ambivalenzen und Uneindeutigkeiten wie der Geist einer Gegenwelt
erscheinen. Wenn der scho n damals affizierte Junge aus der sächsischen Provinz
sich heute auf die Spuren eines auch persönlich so schillernden Autors setzt,
sucht er neben den biografischen vor allem die schriftstellerischen Quellen des
Reizes, den die Literatur von »Greene-Land« immer noch ausmacht. Hinter dem mit
seinem Katholizismus kokettierenden Abenteuerschriftsteller oder politischen
Literaten findet unser Autor jemanden, der das Lied von moralischer Schwäche in
immer neuen Variationen zu intonieren und einem vor Gespanntsein atemlosen
Publikum zu präsentieren in der Lage war wie sonst kein anderer Autor im 20.
Jahrhundert.
Wenn es tatsächlich so
war – und vieles spricht dafür, dass
der gesamten Familie Greene das Spionieren quasi im Blut lag, der Romancier
selbst ein Meister im Nebelwerfen war und man es darüber hinaus nicht unter
Zufall verbuchen will, dass sein letzter, im Alter von 84 Jahren
veröffentlichter Roman Ein Mann mit vielen Namen (im Original The
Captain and the Enemy) die fast pubertär anmutende Geschichte eines
zwielichtigen Halb-Gentleman mit wenig Kontur, dafür aber zahlreichen
Pseudonymen erzählt –, dann scheint es beinahe logisch, dass meine
Erstbegegnung mit dem Namen Graham Greene auf einem schwarzen
Paperback-Umschlag zögernd, abtastend, ja beinahe misstrauisch verlief. Ich war
vierzehn oder fünfzehn Jahre alt und wusste, in der Bücherecke eines Ladens
tief in der sächsischen Provinz stehend und unschlüssig blätternd, natürlich
nichts von Meriten und Mankos dieses Autors, nichts von der Begeisterung des
Publikums und von Jurys, die etwa 1952 den Ehebruchroman Das Ende einer
Affäre in den USA mit einem katholischen Literaturpreis auszeichneten,
während 1981 der renommierte Jerusalem-Preis an einen weltberühmten
Schriftsteller ging, der sich stets als »pro-israelisch« bezeichnete, dabei die
antisemitischen Stereotype in seinen frühen (und, um ein weiteres Paradox zu
erwähnen, ansonsten künstlerisch durchaus gelungenen) Romanen jedoch
geflissentlich vergaß; wusste nichts vom britischen Spion, der dennoch von
Castro und Ho Chi Minh beeindruckt war, sich aber in seinem Der stille
Amerikaner weniger pro-vietnamesisch als anti-amerikanisch zeigte und
nichts gegen eine propagandistische Bühnenversion des Romans einzuwenden hatte,
gezeigt in Moskau, wohin sich 1963 Kim Philby, sein Geheimdienstvorgesetzter
aus dem Zweiten Weltkrieg, abgesetzt hatte – Philbys Memoiren waren dann auch
in der DDR erschienen. Möglich, dass diese Doppelagenten-Rechtfertigung, dem
informationshungrigen Schüler von damals sofort suspekt, ja gleich neben
den greeneschen Taschenbüchern auslag, wenn auch ohne das Greene-Vorwort der
englischen Originalausgabe, in der ein offensichtlich moralisch höchst
ambivalenter Romancier die Tugend der Illoyalität, ja des Verrates pries,
nichtsdestotrotz aber in keiner Zeile irgendein prokommunistisch zu deutendes
»antiimperialistisches Engagement« zeigte. In den Verlagen und Zensurstellen
des Landes würde man demnach wohl Grund genug gehabt haben, das Vorwort dieses
»bedeutendsten englischen Gegenwartsschriftstellers, am 2. Oktober 1904 in
Berkhamsted als Sohn eines Schuldirektors geboren«, nicht zu veröffentlichen
und von seinen zahlreichen Romanen auch nur jene, die man dem ostdeutschen
Leser für zuträglich hielt.
Graham Greene, von
Zeitgenossen nicht eben als mitfühlender, geradliniger Charakter geschildert –
der entfernte Verwandte Robert Louis Stevensons schien es zeitlebens geradezu
zu kultivieren, gleich Dutzende Mister Hydes in sich zu versammeln –, würde
sich ins Fäustchen gelacht haben, die leicht vorstehenden blässlich-blauen
Augen feucht vor diabolischem Vergnügen: So wie er einst seinen strengen Vater
und die brutalen Mitschüler gegeneinander ausgespielt hatte, wie er später auf
Geheimdienstkosten ausgedehnte Reisen in die Krisengebiete, Bordelle und
Opiumhöhlen dieser Welt machte, wie er den Gläubigen katholische Themen, den
Rechten Thriller-Spannung und den Linken rechtsdiktatorenkritische Bücher zu
lesen gab – nicht aber lieferte, niemals aber lieferte, Größe einer
Illoyalität, die sich wenigstens selbst immer treu blieb –, so hatte er nun, in
der Spätphase seines Lebens, auch die Kommunisten ausgetrickst, deren
Parteimitglied er ja sogar einmal gewesen war: 1925 in Oxford, vier ganze Wochen
lang, in der unerfüllt gebliebenen Hoffnung, als britischer Student und
Jungautor sogleich offiziell vom Sowjetregime eingeladen zu werden und daraus
literarisch Profit zu schlagen. Nichts davon wusste Mitte der Achtzigerjahre
der 15-jährige Junge, als er sich diese merkwürdig gestalteten Bücher aus dem
Ostberliner Verlag Volk und Welt anschaute: Dünner schwarzer Pappeinband,
darauf in weißer, unterschiedlich dicker Schriftform Autorenname und Romantitel
und darunter, seltsam genug, ein kurzer Auszug aus dem Inhalt.
Bedächtig erklomm ich
die Stiege zu meiner Wohnung in der
Rue Catinat; auf dem ersten Treppenabsatz hielt ich inne, um mich auszuruhen.
Die alten Weiber tratschten, wie sie es immer getan hatten. In den Runzeln
ihrer Gesichter trugen sie das Schicksal verzeichnet wie andere in den Linien
der Hand. Als ich vorüberging, verstummten sie, und ich überlegte, was sie mir,
wäre ich ihrer Sprache mächtig gewesen, wohl über die Ereignisse hätten
erzählen können, die sich hier zugetragen hatten, während ich im Lazarett der
Fremdenlegion an der Straße nach Tanyin gelegen hatte.« – Hörte sich so etwa
»Sozialistischer Realismus« an? Trotzdem: Man musste als Leser wachsam sein,
nach Kräften das gesamte Umfeld ausspionieren und durfte sich von Oberflächen-Reizen
nicht einlullen lassen. Manchmal lag in der Bücherecke nämlich sogar ein
plastikverschweißtes »Westbuch«; ästhetisch gar nicht schlecht anzusehen,
stammte es zumeist aus dem Verlag Pahl-Rugenstein, einer DKP- und somit
SED-finanzierten Institution, die zumeist nur Schauer-Reportagen über die
schlimme BRD feilbot. Ein »West-Autor« zu sein, musste also zuerst einmal gar
nichts bedeuten: Hatte nicht Luise Rinser eine unsägliche Eloge auf Nordkoreas
Gewaltherrscher Kim Il Sung veröffentlicht (eine Art Nachfolgerin des
»bürgerlich-humanistischen« Lion Feuchtwanger und dessen terrorrechtfertigendem
Moskau 1937), waren Bernt Engelmanns reißerische Doku-Romane und ein
deutsch-deutscher Verantwortungsschinken aus der Feder des SPD-Abgeordneten
(und später ebenfalls als Stasi-IM enttarnten) Dieter Lattmann nicht ebenfalls
in der DDR erschienen? Weshalb sollte es dann nicht auch im ferneren Ausland
schreibende Totalitarismus-Sympathisanten geben? Vorsicht vor allem bei
Büchern, die aus der Originalsprache sogleich ins DDR-Deutsch übersetzt worden
waren, während der Vermerk »Mit Genehmigung der Paul Zsolnay Verlags GmbH,
Wien/Hamburg« doch wenigstens eine gewisse Sicherheit versprach. Endgültig
entscheiden – und damit sind wir jetzt endlich bei der Literatur angelangt –
ließ sich dies sowieso nur durch die Sätze und Wörter im Inneren der Romane.
»Ich kehrte ohne viel Hoffnung in ein Land der Furcht und Enttäuschung zurück,
dennoch erfüllte mich jetzt, da die Medea einfuhr, jeder vertraute Zug mit
einer Art Glücksgefühl. Die gewaltige Masse des Kenscoff, der über der Stadt
hing, war wie gewöhnlich bis zur Hälfte in tiefem Schatten. Die späte Sonne
funkelte gläsern auf den neuen Gebäuden in der Nähe des Hafens. Ein steinerner
Kolumbus sah uns zu, wie wir einfuhren – dort hatten Martha und ich einander
immer des Nachts getroffen, bis das Ausgehverbot uns in verschiedene
Gefängnisse einschloß, mich in mein Hotel und sie in ihre Botschaft. Ich
überlegte mir, ob sie sich im vergangenen Monat, als das Ausgehverbot
aufgehoben wurde, ein anderes Rendezvous ausgesucht hatte, und ich fragte mich,
mit wem. Niemand baut heutzutage auf Treue.«
Mr. Fowler im Saigon der
Fünfzigerjahre, Mister Brown in seinem verwaisten Hotel Trianon im Haiti des
Diktators Papa Doc – dunkle Folie für jugendliche Abenteuersehnsüchte, die
gleichwohl nicht wie erwartet erfüllt, sondern eher unterlaufen, wenn nicht gar
verraten wurden. Wer Graham Greene liest, erfährt nicht nur etwas über Sierra
Leone während des Zweiten Weltkriegs, Vietnam in der Zeit des zerfallenden
französischen Kolonialismus, über verzweifelte Guerilla-Aktivitäten im Paraguay
des Diktators Alfredo Stroessner oder eine Lepra-Kolonie im ehemaligen
Belgisch-Kongo, er lernt nicht nur die Katholiken-Verfolgungen im Mexiko der
Dreißigerjahre und die ausnahmsweise einmal amüsanten »Reisen mit meiner Tante«
oder den widerwärtigen »Dr. Fischer aus Genf« kennen – er macht vor allem die
Bekanntschaft mit jener Ambivalenz, von der eilfertige Kritiker meinten, sie
existiere in dieser Form nur innerhalb von Greenes Romanen, weshalb man den in
ihnen beschriebenen geografischen und Seelenlandschaften das Etikett
»Greeneland« verpasste, ein Begriff, der es samt Erläuterung inzwischen sogar
ins Oxford English Dictionary geschafft hat. Aber was wäre, wenn die
»verschiedenen Spielarten des Glaubens, Halbglaubens und Unglaubens« (so Greene
im Vorwort zu seinem 1960 erschienenem Roman Ein ausgebrannter Fall)
überall existierten, wenn die exotischen Schauplätze nur den Vorwand böten, von
der Schwäche und Stärke des Menschen zu erzählen, wenngleich bestimmte
Charaktereigenschaften, Spleens und Obsessionen eindeutig auf des Autors
spezielle Psyche hindeuten?
Für den jugendlichen Leser
von einst bedeutete die Erkenntnis jedenfalls eine Art heilsamen Schock, das
Aufscheinen von Ambivalenz und Uneindeutigkeit, einer unerwarteten Freiheit
ex negativo: Diktaturen sind nicht allmächtig; zwar können sie Gefühle des
Überdrusses und Ungenügens, der Einsamkeit und des Ausgebranntseins verstärken,
aber eine Kausalität existiert nirgendwo. Mr. Brown brauchte Papa Doc ebenso
wenig, wie der bindungsunfähige (und am Schluss schließlich doch noch ungewollt
heroisch agierende) Dr. Plarr in Der Honorarkonsul einen paraguayischen
Juntachef benötigte, um sich auf dieser Welt ortlos zu fühlen. Es gab keine
Sicherheit, nirgends. Das in Die Stunde der Komödianten von einem
staatenlosen Halbengländer geführte Hotel oberhalb von Port-au-Prince bot
keinen Schutz vor den Tonton Macoutes des haitianischen
Gewaltherrschers; der Status des alkoholkranken britischen »Honorarkonsuls«
Fortnum würde nicht ausreichen, den Verfolgten des Stroessner-Regimes
diplomatischen Schutz zu gewähren, aber was noch schwerer wog: Auch der
idealistische Charakter des CIA-Agenten Pyle in Der stille Amerikaner
bot keine Garantie für ethisches Verhalten, sondern rechtfertigte im Gegenteil
Mord im Dienst einer vermeintlich »guten Sache«.
Lesefutter für
Dritte-Welt-Enthusiasten, randvoll
mit den Slogans von »internationaler Solidarität«, war derlei bestimmt nicht –
ein Wunder des Missverstehens, dass Graham Greene in Gestalt der schwarzweißen
Paperbacks dennoch seinen Weg in die DDR gefunden hatte. (Gehorchte die Freude
mancher Katholiken, den anscheinend permanent mit Sex, Sünde und Selbstzweifel
beschäftigten Romancier letztlich doch als einen der ihren bezeichnen zu
können, nicht der gleichen Illusion des mühelosen Eingemeindens, der auch die
ostdeutschen Zensoren erlegen waren?)
Im Fall seines
autobiografischen Mein Freund, der General – im Original Getting to
know the General – schien die Lizenz-Veröffentlichung noch am
plausibelsten: In dem 1984 erschienenen Buch erzählt der alternde, inzwischen
mit seiner letzten Geliebten im südfranzösischen Antibes lebende Globetrotter
Greene von seiner Freundschaft mit dem (1981 bei einem mysteriösen
Hubschrauberabsturz umgekommenen) Präsidenten-General Omar Torrijos in der Zeit
der Ratifizierung des Panama-Kanal-Abkommens. »Das mit starker innerer
Beteiligung gezeichnete Porträt des fortschrittlichen, um die demokratische
Erneuerung Panamas bemühten Obersten Führers der Revolution ist eingebettet in
eine Fülle abenteuerlicher Situationen«: Fast scheint es, als wäre auch den
ostdeutschen Klappentext-Verfassern dieser Autor nicht ganz geheuer gewesen,
der zwar einen diffus links gerichteten, dennoch reichlich korrupten
Tropen-Potentaten zum heroischen Volksfreund umdichtet, bei all dem aber vor
allem daran interessiert ist, sich in Hängematten zu räkeln, auf Empfängen
Cocktails zu schlürfen, wunderbare Szenen- und Landschaftsbeschreibungen zu
verfassen, seines ständigen Begleiters Chuchus Frauengeschichten zu
kolportieren und (nicht ohne kleine, in einer DDR-Ausgabe erfrischend konterrevolutionär
wirkende Bemerkungen über das »parlamentarische System Englands, das nun schon
seit etwa zweihundert Jahren zufrieden stellend funktioniert«) der Atmosphäre
den Vorrang vor jeglicher Ideologie zu geben. Eine etwas windige Angelegenheit?
Und wenn schon. Jenseits der greeneschen Skrupel, des unheilschwangeren
Ambientes und all seiner durch Alkohol und Seelenqual wankenden Helden gab es
doch vor allem auch dies: Geruch von Freiheit und Gefahr, Welt der Flugtickets,
Airports und großen Städte, der palmenbestandenen Alleen und zweifelhaften
Altstadt-Bars, Londoner Regen-Nachmittage und tropische Sonnenuntergänge, Welt
der Affären und Erwachsenen-Erfahrungen, Transformation des Physischen ins
Geistige und vice versa, rasanter Wechsel von Bordell- zu
Lektüre-Erinnerungen.
»Ce n’est pas très
catholique«, würde hier wohl die schmallippige Verdammungsformel lauten, wäre
sie nicht so grundfalsch: Katholisch, in des griechischen Wortes
Ursprungsbedeutung »allgemein«, also durchaus nicht nur in den Randzonen der
Existenz angesiedelt. Aber was kümmerte es schon einen 15-Jährigen, ob der
Autor, den er da gerade für sich entdeckt hatte, nun ein katholischer Romancier
war oder nicht? Vorerst ging es nur darum, auch einmal selbst in jene Länder zu
gelangen, in denen es noch möglich schien, eine abenteuerliche Existenz zu
führen – pubertäre Phase der Lektürereise. Blieb in diesem Sehraster in Die
Stunde der Komödianten nicht jene Szene am eindringlichsten, die gar nichts
mit Haiti, dafür aber mit Mr. Browns Jugend zu tun hatte, und zwar seine erste
Liebesnacht mit einer etwas älteren Frau in Monte Carlo, der Erfahrung, einer
unbekannten Situation nicht gewachsen zu sein, bis plötzlich eine verirrte Möwe
ins Hotelzimmer flattert, die souveräne Frau für einen Moment zittern macht und
dem Jungen die Energie verschafft, zum Mann zu werden? Und doch: Relativität
auch des Sex, denn bleibt nicht der Amerikaner Pyle sogar in den Armen seiner
vietnamesischen Geliebten Phuong der gleiche naive College-Boy? Fragen, die
letztlich nur die reale Welt da draußen beantworten konnte, kometenweit
entfernt der protestantischen Grübelei Christa Wolfs Kindheitsmuster.
Entdeckungen, zehn
Jahre später: All das, was Greene
beschrieben hatte, existierte wirklich. Es gab in Port-au-Prince tatsächlich
das Hotel Oloffson alias »Trianon« mit seinen verzierten, von der tropischen
Schwüle morsch gemachten Balustraden, quietschenden Dielen und abrupten
Lichtausfällen bei hereinbrechender Dunkelheit, es gab den Swimmingpool, in dem
Mr. Brown eines Abends die Leiche des Regimegegners Dr. Magiot entdeckt hatte
(eine der wenigen nichtambivalenten, ethisch untadeligen Personen in Greenes
Werk, die bezeichnenderweise stets ziemlich thesenhaft reden, als Figuren eher
blass bleiben und von ihrem Erfinder alsbald entsorgt werden, als sei das Gute
tatsächlich ein wenig peinlich und peripher), es gab den Ventilator über der
Bar, das Klirren der Eiswürfel, es gab schwitzende, frustrierte,
aufopferungsvolle, lächerliche, tapfere UN- und NGO-Mitarbeiter. Der
drogenabhängige Hotelbesitzer George Morse schien ein Wiedergänger Browns zu
sein, während das Vorbild für die Romanfigur des stets gut informierten, weil
spitzelnden Petit Pierre sogar noch leibhaftig, wenn auch inzwischen
glatzköpfig, unter einem fleckigen Spiegel in weißem Anzug und Krawatte in
einem Lehnstuhl saß und an einer Zigarettenspitze zog: Aubelin Jolicoeur,
charmant-skrupelloser Klatschjournalist, Günstling wechselnder Regimes, ein
haitianischer Zombie und gleichzeitig unsterbliches Symbol für die lächelnde
Verführungskraft des Bösen, der dem Romancier bereits im Jahre 1954 von seinem
ebenso skandalsüchtigen Kollegen Truman Capote vorgestellt worden war. Während
jedoch in Die Stunde der Komödianten die good guys immer auch ein
wenig als die Naiven und Eifernden dargestellt wurden – wie kalt spottete Autor
Greene, zerfressen vom Antiamerikanismus, über das wohlmeinende
Vegetarier-Ehepaar Smith, während die Blutsauger der Diktatur mit desto
größerer Faszination beschrieben wurden! –, bot die Realität dieser Haiti-Reise
1998 auch weit anderes als den Uralt-Topos von der Banalität des Guten: Laennec
Hurbon, haitianischer Intellektueller und Soziologe, war etwa ebenso humorvoll
wie luzide, ein mutiger Einzelkämpfer mit moralischen Maßstäben, und auch dem
alten Ehepaar Denis, Besitzer des einzigen Klassikmusik-Geschäfts in der
Karibik, eignete nichts Lächerliches, wie sie da in ihrem Häuschen oben in
Pétionville saßen und uns von Bach und Schubert sprachen, und Madame, am Flügel
Chopin spielend, sich an ihren deutschen Lehrer Hubert Giesen erinnerte, dessen
1972 bei S. Fischer erschienene Autobiografie sichtbar im Bücherregal dieses
zivilen Refugiums stand, während draußen in stockdunkler Nacht ein tropischer
Regenguss niederging und wütende Rufe und Schreie zu hören waren, die von nass
gewordenen Zivilisten, aber auch von anderen, ganz anderen Zeitgenossen hätten stammen
können; who knows. Der Graham-Greene-Leser erinnerte sich in diesem
Moment jedenfalls an seine Erstlektüre und dieses bereits damals manifeste
Gefühl eines gewissen Mankos: Da gab es nämlich etwas, und zwar einen ganzen
Kontinent voll unprätentiöser Alltagsanständigkeit und nichtauftrumpfender
Güte, von dem wusste selbst dieser welterfahrene Menschenkenner nichts. Oder
wollte nichts davon wissen, weil er, wie der Teufel das Weihwasser,
Frömmelei und Kitschbildproduktion als stilistische Verfälschung fürchtete und
sich, Konvertit des Jahres 1925, stets auf die Worte des im 19. Jahrhundert vom
Anglikaner zum Katholiken gewordenen Kardinals Newman bezog: »Es ist ein
Widerspruch in sich, über sündige Menschen eine von Sünden freie Literatur
zusammenstellen zu wollen. Man kann vielleicht etwas sehr Herrliches
zusammentragen, aber wenn man es recht besieht, zeigt es sich, dass es
überhaupt keine Dichtung ist. Die heute einzig auf das Leben der Heiligen
Angewiesenen sind morgen einem Babylon überlassen. Ihr verweigert ihnen die
Meister, die sie in gewissem Sinne belehrt haben würden, weil sie gelegentlich
korrupt sind.«
Ein wenig korrupt war auch der englische Journalist Fowler,
Icherzähler im Saigon-Roman Der stille Amerikaner von 1955, und korrupt
war auch die Stadt – und ist es heute noch immer, da sie sich längst wieder
ihres kämpferischen Namens Ho-Chi-Minh-City entledigt hat. Oh süße,
synkretistische Indolenz Asiens: Madonna-Musik vor Jungpionieren samt
schlafenden Eltern im Opernhaus an der Rue Catinat, die nach der Vertreibung
der auf die Franzosen folgenden Amerikaner – zwei Jahrzehnte nach dem
Erscheinen von Greenes Welterfolg – zur Dong Khoi (»Straße der Volkserhebung«)
wurde und bis heute so heißt; grell erleuchtete Massage-Center hinter
Straßen, auf denen Fahrräder, Vespas und W 50 aus alter DDR-Produktion kreisen
und dröhnen; Klänge von tschechoslowakischem (sic!) Pop aus den schadhaften
Lautsprechern über dem palmenumstandenen, blau verzierten Bassin der vom
»Cercle Sportif« zum »Arbeiter-Klub« gewordenen Sporteinrichtung, in dessen
Dusch- und Umkleideräumen dann freilich jener Sport betrieben wird, der auch
den selbst erklärten »Sünder« Greene interessiert haben würde – alles ganz
romanhaft diese Wirklichkeit, atmend, schwatzend, keuchend und nach tausend
Dingen und Nuancen riechend. Und doch dürfte sich der im rumsfeldschen Sinne
nihilistische Alt-Europäer Thomas Fowler (in der jüngsten, zweiten und dabei
besten Roman-Adaption unnachahmlich gespielt von Michael Caine) mit seinen
quasirealistischen Einschätzungen geirrt haben, als er Alden Pyle, seinem
Nebenbuhler und idealistisch-amerikanischen Widerpart – einer Art Vorläufer der
heutigen neoconservatives im intellektuellen Umfeld der
Bush-Administration –, seine reine, angeblich von der Wirklichkeit
beglaubigte Lehre erläuterte: »Sie wollen hier nur genug Reis haben. Sie wollen
nicht, dass die Weißen immer hier sind und ihnen sagen, was sie wollen. Gehen
Sie im Osten nicht mehr mit dem gedankenlos nachgeplapperten Schlagwort von der
Bedrohung der Seele des Individuums umher.« Weshalb aber flüchteten dann nach
dem Sieg der marxistisch-materialistischen Genug-Reis-Geber (wobei es, logische
Ironie der Geschichte, natürlich bereits daran haperte) Zehntausende boat
people aus Vietnam und ließen ganze Stadtteile Saigons entvölkert zurück?
Andererseits: Wer käme
schon auf die Idee, in eine Stadt zu reisen und sie mit der Erfahrungswelt
eines Romanciers abzugleichen, hieße dieser nicht Graham Greene, sondern, sagen
wir, Pearl S. Buck (der anspruchsvoll moralischen Unterhaltungstante wurde
übrigens der Nobelpreis nicht wie Greene verweigert) oder Bruce Marshall, in
den Vierziger- und Fünfzigerjahren immerhin Englands meistgelesener
katholischer Romancier, der auch in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit eine
weite, treue Leserschaft besaß? Vergangen, vergessen, in den Antiquariaten
verstaubt. Selbst von François Mauriac, passionierter Leser Greenes und neben
Julien Green und Georges Bernanos prominentester Vertreter des französischen renouveau
catholique, bleiben wohl weniger die Romane als vielmehr die grandiosen
autobiografischen Schriften im Gedächtnis, aber was könnte dann auch in den Mémoires
intérieures kraftvoller und weniger bigott sein als des gläubigen
Nobelpreisträgers Verteidigung und Interpretation von Baudelaires Blumen des
Bösen aus dem Geiste christlicher Menschenkenntnis: »›O Herr, laß mich nun
zu Kraft und Mut gelangen, / mein Herz und meinen Leib ohn Ekel anzusehen!‹ ...
Baudelaire mag noch so sehr leugnen, seine Leugnung wird immer zur Lästerung,
das heißt zum Glaubensakt.« Derlei ist weit mehr als pfäffische Sophisterei,
die sich zwecks Seelenfang geschmeidig an die Moderne andocken möchte. Ohne den
geringsten Dogmatismus wird hier Religiosität zur literarischen Kategorie, und
auch Greene – am deutlichsten in seinen essayistischen Arbeiten – ist weit
davon entfernt, darin etwas Schädliches zu sehen, im Gegenteil. »Einem
Gläubigen bedeutet der Mensch mehr als einem Atheisten. Mit dem Sinn für das
Religiöse verschwand auch das Gefühl für die Bedeutung menschlichen Tuns. Wenn
man sich sagt, dass der Mensch nur ein höheres Tier ist, dass jedes Individuum
maximal 80 Lebensjahre vor sich hat, dann hat der Mensch tatsächlich wenig
Bedeutung. Ich glaube, dass die mangelnde Plastizität der Figuren bei E. M.
Forster, Virginia Woolf oder Sartre, zum Beispiel, verglichen mit der
erstaunlichen Vitalität eines Bloom in Joyces Ulysses oder eines Pére
Goriot oder eines David Copperfield, vom Fehlen der religiösen Dimension bei
den genannten Autoren herrührt. François Mauriacs Figuren besitzen ebenfalls
diese merkwürdige Dichte. Wenn in Die Pharisäerin eine ganz unwichtige
Nebenfigur einen Schulhof überquert, haben wir das Gefühl, sie in Fleisch und
Blut vor uns zu sehen, während Mrs. Dalloway beim Einkaufen uns vollständig
kalt lässt.«
Dennoch sind die
Kältezonen im greenschen Œuvre enorm; die handwerkliche Empathie, die solch
unvergessliche Figuren entstehen lässt wie etwa den mexikanischen
Whiskypriester, den ausgebrannten Kirchenarchitekten Querry, den hoffnungslos
zwischen Gesetz, Liebe und Kameradenverrat hin und her taumelnden Schmuggler
Andrews in Zwiespalt der Seele, den sadistischen Kleinkriminellen Pinkie
in Abgrund des Lebens oder den diabolischen Harry Lime in Der Dritte
Mann – sie weitet sich nicht auf das Verhältnis der Protagonisten
untereinander, Schurken oder Scheiternde in den feinsten Abstufungen und
Nuancen. Es gibt nicht nur keine Sicherheit, sondern auch keine Gnade – es sei
denn jene, die von Gott kommen könnte, jedoch in den meisten Fällen ausbleibt,
sodass der gläubige Kolonialmajor Scobie in Das Herz aller Dinge
angesichts seiner lauen Nicht-Liebe gegenüber Ehefrau und Geliebter (in der
Verfilmung von 1949 kongenial gespielt von Maria Schell) schließlich nur den
nihilistischen Ausweg des Selbstmords sieht, um mit Gott wenigstens durch eine
wirkliche Sünde, die Todsünde schlechthin, verbunden zu sein. »Die Tugend, das
gottgefällige Leben, lockte in der Finsternis wie die Sünde.« In der
nächtlichen westafrikanischen Tropenschwüle seines kargen Heims sitzend und auf
die Wirkung der tödlich dosierten Tabletten wartend, sind des innerlich
vereisten Majors letzte Worte: »Lieber Gott, ich liebe ...« Ohne davon zu
wissen, konstatiert am nächsten Tag seine Frau die Tragödie mit den
müde-bitteren Worten: »Er hat gewiß nur Gott geliebt, sonst niemand.«
Wenn es von Scobie hieß,
»er fühlte sich als Zuseher, als einer der vielen, die das Kreuz umstanden und
über die der Blick des Gekreuzigten auf der Suche nach einem Freund oder einem
Feind hinweggeglitten sein musste«, dann fragten sich Leser in all den
Jahrzehnten greenescher Produktivität – der erste Roman erschien immerhin
bereits 1929 –, ob der Autor nicht selbst dieser Zuseher gewesen ist,
letztlich ein kühler Beobachter, wenn nicht gar ein knallhart kalkulierender,
nach dem einprägsamsten Effekt Ausschau haltender Literat, dessen Katholizismus
weit eher karrierefördernde Mimikry war. »Obwohl er viel damit verdient«, gab
in den Fünfzigerjahren ein britischer Geheimdienstler über den weltreisenden
»festen freien Mitarbeiter« Greene intern zu Protokoll, »den englischen Lesern
Angst um ihr Seelenheil einzujagen, ist er sehr aufs Geld aus.«
Wäre dies ein
Indizienprozess, wie ihn der
Literaturwissenschaftler Michael Shelden in seiner 1994, drei Jahre nach dem
Tod des Schriftstellers erschienenen Graham-Greene-Biografie ebenso
eindrucksvoll wie eingleisig führte – es gäbe allerlei, um hinter Greenes
Konversion, vorgenommen in Nottingham durch einen Priester, der bis zu seinem
eigenen Übertritt als Schauspieler tätig gewesen war, einige Fragezeichen zu
setzen. »Für einen Menschen«, schreibt Shelden, »der so hingebungsvoll der
Illoyalität anhing, bot der katholische Glaube endlose Möglichkeiten, Unruhe zu
stiften, ohne eine allzu harte Strafe zu riskieren, zumindest nicht auf dieser
Seite des Grabes. Der Katholizismus gab eine äußerst verführerische Zielscheibe
ab und war außerdem ein Thema, das einem Autor gute Dienste leisten konnte, den
die dunkelsten Geheimnisse des Herzens faszinierten. Man fand hier exakte Bezeichnungen
für diffuse Leiden und Begierden, denn Verdammnis und Haß – nicht Gott und die
Liebe – sind die Dinge, die Greenes Interesse wecken und sein Gefühl von
religiöser Inbrunst bestimmen. Auch lag ein gewisser Reiz darin, in einem
protestantischen Land als Katholik aufzutreten.« In der Tat sollte Greene immer
wieder virtuos auf dieser Klaviatur spielen: Nichtkatholische Kritiker seines
Werkes wurden mit dem Hinweis auf ihre Kirchenferne abgefertigt, die ihnen ein
tieferes Verständnis unmöglich mache, während Katholiken, die sich auf Grund
der greeneschen Themen-Obsessionen etwas wunderten, mit dem Hinweis ruhig
gestellt wurden, schließlich schreibe er ja keine Traktate, sondern Literatur,
außerdem wäre er ohnehin kein katholischer Schriftsteller, wohl aber ein
Schriftsteller, der rein zufällig Katholik sei. Nun erklärt jedoch der Zufall
hier ebenso wenig wie der Verweis auf plötzliche Erleuchtung oder kaltes
Kalkül. Auf jeden Fall berühren Greenes »Späße« – wie jeder Quartalsdepressive
mit Alkohol- und Opiumvorlieben neigte er zu eruptiven Heiterkeitsausbrüchen –
äußerst merkwürdig: Eine seiner Lieblingsbeschäftigungen – neben den
Bordellbesuchen – bestand so etwa im »Leutehassen«, bei dem man sich im Bus
oder der U-Bahn willkürlich jemand ausguckte, um dann an ihm lächerliche und
widerwärtige Züge zu entdecken. Ein anderer Witz bestand darin, auf Reisen in
Dorfkirchen zu gehen und bei der Beichte ahnungslose Priester zum Schwitzen zu
bringen: »Vater, ich hab heute nachmittag einen Schäferhund gefickt. Wie viele
Ave Maria?« Wohlgemerkt, dies alles geschah in den Fünfzigerjahren, Greene
musste also die Pubertät schon weit hinter sich gelassen haben. Im gleichen
Jahrzehnt war es ihm auch wichtig, auf einer Italienreise mit seiner neuen
Freundin Catherine – die Ehefrau Vivien, wegen der er angeblich doch 1925
konvertiert war, lebte mit den Kindern längst allein, wenn auch gut versorgt,
in einem Haus in Oxford – in den dortigen Kirchen keinen Hochaltar auszulassen,
hinter dem man Sex haben konnte. All das bedenkend, kommen dann auch all die
beunruhigend intensiven Schilderungen des Bösen, des am Herz anderer Menschen
Schuldigwerdens wieder in den Blick, die Greenes Romanen bis heute ihre
atmosphärische Dichte und ihr ästhetisch wirkungsmächtiges Verunsicherungspotenzial
geben. Fast rührend zu sehen, wie damals wohlmeinende Interpreten Autor und
Werk doch noch für sich zu retten versuchten: »Das haßerfüllt herausgestoßene
›Credo in unum Satanum‹ des verbrecherischen Pinkie Brown (im Brighton-Roman Am
Abgrund des Lebens; M. M.) setzt auch die Kenntnis des gottbejahenden
Urtextes voraus«, heißt es in einem 1955 in Heidelberg erschienenem Sammelband
mit dem Titel Christliche Dichter der Gegenwart, dessen mit Greene
befasster Interpret gleichwohl anmerkt, in seinen Romanen würde allzu oft
»Katholizismus nur im Nebensatz« betrieben. Auch der geradlinige George Orwell
musste das Seltsame dieser Art Literatur gespürt haben, als er in einer
Buchkritik schrieb, Greene hänge wohl der Idee an, »daß es recht distingué
ist, verdammt zu sein: Die Hölle als ein exklusiver Nachtklub, zu dem nur
Katholiken Zutritt haben.«
Dennoch wäre der Vorwurf
ungerecht, dem Romancier wäre es allein um ein metaphysisch-spirituelles
Aufpeppen seiner an exotischen Orten spielenden Geschichten gegangen, denn im
Grunde war Greene weder ein Abenteuerschriftsteller noch ein genuin politischer
Literat, sondern eher einer, der das Lied von moralischer Schwäche in immer
neuen Variationen zu intonieren und einem vor Gespanntsein atemlosen Publikum
zu präsentieren in der Lage war wie sonst keiner im 20. Jahrhundert. »Der
Christ«, schrieb er einmal, »wohnt in einer Grenzzone zwischen Gut und Böse,
und es ist ein Land von Räubern. Das Hauptelement, das ich am Christentum
bewundere, ist sein Sinn für moralisches Scheitern.« Unsinnig, derlei nur unter
Taktik verbuchen zu wollen. Immerhin hat die der judäo-christlichen Religion
innewohnende Kraft zur Selbstbefragung den Autor dazu gebracht, die in einigen
der frühen Romane wie Orient-Express, Jagd im Nebel oder The
Name of Action noch spürbaren antisemitischen Ressentiments abzulegen. Was
wäre für einen Experten für wachsende Selbsterkenntnis auch peinlicher, als
gewisse negativ wahrgenommene Charaktereigenschaften weiterhin auf eine
spezielle Personengruppe zu projizieren und sie somit bequem aus dem dunklen
eigenen Inneren zu entsorgen? (Allein im Falle der »heuchlerischen Amerikaner«
konnte sich Greene nie entschließen, erwachsen zu werden, und noch 1988
beantwortete er die Frage der Washington Post nach seiner dubiosen
Freundschaft mit dem kriminellen General Manuel Noriega: »Ein Feind meines
Feindes ist mein Freund. Und mein Feind ist Reagan.« Der trotzige Satz wird
doppelt töricht, wenn man daran denkt, dass sich der vermeintliche
»Anti-Imperialist« Noriega ja nicht nur von Castro, sondern auch von der CIA
hatte bezahlen lassen.)
Es brauchte aber gewiss
nicht die etwas glättende
Hollywood-Verfilmung mit Henry Fonda in der Rolle des alkoholisierten, mit sich
und Gott hadernden Priesters, um Greenes Die Kraft und die Herrlichkeit
aus dem Jahre 1940 zu einem der größten Romane des Jahrhunderts zu machen. Und
werden nicht alle Spekulationen über seine Religiosität hinfällig, wenn man
liest, wie der Padre – gegen Ende der Dreißigerjahre in einem abgelegenen, von
den Furien des revolutionären Atheismus heimgesuchten Staat Mexikos der letzte
noch nicht geflüchtete oder umgebrachte Seelsorger – auf der Flucht in jenes
Indiodorf kommt, in dem er früher Dienst getan und in einem Augenblick der
Verzweiflung mit seiner Haushälterin ein Kind gezeugt hatte?
»Er versuchte die
Schnapsflasche zu verbergen, aber es gab kein Versteck dafür; also suchte er
ihre Bedeutung abzuschwächen, indem er sie freimütig in der Hand hielt. Dabei
sah er das Kind an und empfand in jäher Erschütterung die Liebe zum Menschen.«
Jenseits der packenden
Story scheint hier geradezu mit Händen greifbar, wie der Autor diese Empathie –
Mitgefühl ohne jegliche Verzuckerung – auch der eigenen Misanthropie und
Bosheit abgerungen haben musste. Wenig später hält der Padre eine Messe,
schnell und hastig im Morgengrauen, um den bereits anrückenden Militärs doch
noch zu entkommen. Angst in der Stimme, Zweifel am Sinn seines Tuns, hält er
ein altes Stück Brot in die Höhe und gießt ein wenig Wein in eine alte,
angeschlagene Tasse; auf seiner Flucht einen Messkelch mitzuführen, wäre zu
riskant gewesen. Wer würde bei einer solchen Szene nicht an die unvergesslich
suggestiven Psalmistenworte des Du bereitest mir den Tisch im Angesicht
meiner Feinde denken?
»Der Mensch war so
beschränkt; er besaß nicht einmal die Fähigkeit, neue Laster zu erfinden; die
Tiere kannten genauso viele. Und für diese Welt war Christus gestorben. Es war
allzu leicht, für das zu sterben, was gut und schön ist, für die Heimat, für
die Kinder, für eine Kultur – man musste ein Gott sein, um für die
Gleichgültigen und die Verderbten sein Leben hinzugeben ... Wenn man sich aber
das Bild eines Menschen in allen Einzelheiten vergegenwärtigte, dann stellte
sich sehr leicht das Erbarmen ein. Das war eine Eigenschaft, die Gottes
Ebenbild besaß: Wenn man die kleinen Falten um die Augen sah, den Schnitt des
Mundes, die Art des Haarwuchses, dann konnte man nicht mehr hassen. Der Haß
entsprang nur der Unzulänglichkeit der Vorstellungskraft.«
Zurückübersetzt in den autobiografischen
Rahmen hieße das: »Leutehassen« mag ein kurzfristiges U-Bahn-Vergnügen sein,
jedoch auch eine ernstliche Gefahr für das Gelingen eines Romans, denn
schlechte Menschen ohne das Bewusstsein ihrer Schlechtigkeit schreiben nun
einmal genauso miserable Bücher wie jene Gutmenschen, die der Hauch des
Selbstzweifels niemals getroffen hat. »Hier«, heißt es in Das Herz aller
Dinge über die kleine Kolonialstation, »konnte man seine Mitmenschen
beinahe so lieben, wie Gott die Menschen liebte: Man wusste um das Schlimmste.«
Weiß man es
tatsächlich? Doch die Frage nach der Ernsthaftigkeit von Greenes Katholizismus
wandert angesichts seiner großartigen Prosa in die verstaubten, heute zum Glück
kaum noch existenten Bezirke einer kriminalistisch betriebenen Verdachts-Theologie
ab; unwesentlich, kleinkariert. Die Tatsache, dass 59200, seine Mitgliedsnummer
beim Geheimdienst SIS, auch jene des Vorgesetzten in Unser Mann in Havanna
war – kleine Neckereien angesichts von Greenes in noch ganz andere Gefilde
führende Reisen, Entdeckungstouren in das Dunkel von Trieb und Seele oder was
dergleichen mehr abstrakte Begriffe sind für das, was er zu genialen Geschichten
gemacht hat.
Dann aber, zwanzig
Jahre nach der Erst-Lektüre, zwei
Jahrzehnte nach dem so rasant und spannend erzählten semipolitischen Roadmovie
Mein Freund, der General taucht beim Lesen von Michael Sheldens skrupulös
recherchierter Greene-Biografie plötzlich der Name von Padre Hector Galegos
auf. Wer war dieser junge kolumbianische Priester, der 1971 entführt,
zusammengeschlagen und anschließend aus einem Hubschrauber hinab ins Meer
geworfen wurde?
Zumindest hatte er einen
Namen und war nicht anonym wie jener Pfarrer von Luzarches, der erst durch
hartnäckige Nachforschungen eines Biografen zu jenem Abbé Oudaille wurde, den man
vor dem Direktorium der französischen Revolution denunzierte, anschließend
verbannte und ihn – nach neuer, gnadenloser Zeitrechnung – am »7. Vendémiaire
des Jahres VII« auf jener Teufelsinsel Guyana verrecken ließ, auf der später
auch Leutnant Dreyfus gestorben wäre, hätte sich im fernen Paris nicht mit
Emile Zola ein Schriftsteller für ihn eingesetzt, der ein etwas anderes
Loyalitätsverständnis besaß als Mister Graham Greene.
Weshalb aber jetzt diese
Schlangenlinie von Namen und Episoden über zwei Jahrhunderte hinweg?
In einem Briefwechsel mit
seinen Schriftsteller-Kollegen V. S. Pritchett und Elizabeth Bowen schreibt
Greene Ende der Vierzigerjahre: »Im Kampf für die Gerechtigkeit hat der
Schriftsteller größere Möglichkeiten und darum auch größere Verpflichtungen als
etwa ein Apotheker oder ein Grundstücksmakler. Denn er ist, sobald er einen
gewissen Erfolg hat, unabhängiger als die anderen: er ist sein eigener
Brotgeber und kann es sich leisten, anzugreifen.« Ebenso sympathisch klingt es,
wenn er hinzufügt: »Sind wir loyal, so bleiben wir in den einmal angenommenen
Ansichten eingeschlossen; sind wir loyal, so dürfen wir für Andersdenkende
weder Verständnis noch Sympathie aufbringen. Sind wir aber nicht loyal, dann
können wir uns in jedes menschliche Gemüt versetzen. Das gibt dem
Romanschriftsteller eine neue Dimension: die Sympathie.«
Hatte der Junge von
damals, in jener Bücherecke des Dorfladens, nicht genau aus diesem Grund nach
Greenes Büchern gegriffen, da sie für ideologische Gewissheiten nur eine
wegwerfende Handbewegung bereithielten? Weshalb aber fühlte sich dann Greene im
weiteren Briefwechsel gezwungen, jene hoffärtige Pose der Abgrenzung
einzunehmen? »Wenn mein Gewissen so zart besaitet wäre wie das Monsieur
Mauriacs, dann könnte ich keine Zeile schreiben.«
Auf was bezieht sich die
Anspielung, welchen eigenen Defekt soll sie womöglich kaschieren? François
Mauriacs Gewissen war nämlich keinesfalls »zart besaitet« im Sinne einer rein
erbaulichen Wirklichkeitswahrnehmung. Im Gegenteil. Als er, wie er sich in
seinen Mémoires intérieures erinnert, zum ersten Mal von den Vorwürfen
gegen den großen Benjamin Constant – luzider Schriftsteller, Freund von Madame
de Stael und geistiger Vater des liberalen Staatsgedankens – hört, vermutet er
zuerst den eifernden Moralismus eines nachgeborenen Biografen am Werk, der sich
völlig unnötig an einem Mann abarbeitet, der sich in seinem Journal intime
ja bereits selbst immer wieder gnadenlos seelisch seziert hatte, ein
»Illoyaler« des 18. Jahrhunderts. Weshalb aber war dann Constant, Verfasser des
sublimen Adolphe, mit keiner Zeile auf jene Episode kurz vor dem
Jahrhundertwechsel eingegangen, die einem anderen Menschen, eben jenem von
ihm persönlich denunzierten Pfarrer von Luzarches, das Leben gekostet
hatte? Mauriac, sich immer weiter in diese Geschichte versenkend, sucht ab nun
nach bestimmten Passagen im Werk des von ihm hochverehrten Schriftstellers und
Intellektuellen, die auf ein Schuldbewusstsein oder auch nur auf eine
Erinnerung schließen ließen. Fehlanzeige. Was er findet, sind allein unzählige
Reflexionen und Selbstgeißelungen über das doch eher harmlose Doppelleben
zwischen staatsbürgerlichem Engagement und grenzenloser Spielleidenschaft,
zwischen agnostischer Skepsis und Gottessehnsucht. Wäre Mauriac tatsächlich so
»zart besaitet« gewesen, wie dies Greene behauptet, der katholische Romancier
hätte dieses Kapitel zufrieden schließen können, im Wissen, dass sein Held
Benjamin Constant schließlich doch noch zum Glauben gefunden habe. Stattdessen
schreibt Mauriac: »Was hilft es, dass wir uns mit uns selbst konfrontieren, bis
uns der Schauder packt, wenn wir nicht zugleich auf den unschuldig Gekreuzigten
schauen, dessen Zeichen der Sträfling von Guyana unsichtbar an seinen Händen,
seiner Seite und seinen Füßen trug.«
Der Zufall (oder was auch
immer) wollte es nun, dass knapp zwei Jahrhunderte später in unmittelbarer
Nachbarschaft zu Guyana erneut auf Grund politischen Wahns ein unschuldiger
Priester umgebracht wurde, gefoltert und anschließend ins karibische Meer
geworfen. Auftraggeber des Mordes: Oberstleutnant Manuel Noriega, in jenem Jahr
1971 Geheimdienstchef unter Panamas Militärpräsident General Omar Torrijos.
Mein Freund, der General. Höchst unwahrscheinlich, dass Greene, der von
Besuch zu Besuch mit der Landesgeschichte immer intimer vertraut Werdende,
davon nichts gewusst haben sollte. Noch Mitte der Achtzigerjahre, also nach dem
Tod von Torrijos, besuchte Graham Greeene sogar in Noriegas Auftrag Fidel
Castro, um Reagans (wohl ebenso kriminelle) Mittelamerika-Politik zu
durchkreuzen. Als Dank durfte dann 1987 der Romancier – Schöpfer des mutigen
Whiskypriesters und des satanischen Pinkie Brown – zusammen mit dem
Foltergeneral Noriega auf dem Podium eines Stadions erscheinen, wo sich beide,
umjubelt von den Massen, herzlich umarmten. Kurz darauf, Noriega war inzwischen
bei Rechten und Linken in Ungnade gefallen, bekommt Greene plötzlich
Erinnerungslücken und fertigt einen Interviewer mit den Worten ab: »Noriega war
vollkommen uninteressant, und er hatte etwas an sich, was mir nicht gefiel.«
Die subversive Tugend der
Illoyalität, geschrumpft zu kleinlichen Ausflüchten und Lügen – und im
Hintergrund immer »der unschuldig Gekreuzigte«, diesmal jedoch nicht als
mythische Staffage, sondern als pure Realität: Padre Hector Gallegos.
Ist es womöglich
ungerecht, einen Autor vom weltliterarischen Rang Graham Greenes auf diese
zeitweilige Kumpelei mit einem Mörder zu reduzieren? Aber irgendetwas Vages,
Falsches, Nichtausgesprochenes gab es ja auch in der Literatur, in Mein
Freund, der General. Weshalb auch sonst der Aufwand, mitten in der
DDR-Provinz über einen westdeutschen Freund an die Postadresse von Greene
herankommen zu wollen – eine durch die Briefüberwachung geschmuggelte Who is
who in France-Kopie des Buchstabens G – um schließlich dem in Antibes,
Avenue Pasteur, La Résidence des Fleurs, lebenden Verfasser einige Fragen zu
stellen? Der knapp sieben Jahrzehnte Ältere antwortete schnell, höflich und
nichts sagend.
»I am afraid I am too busy to answer all your questions but I do wish
you all good wishes for your future. Yours
sincerely ...«
Wenig später kam über
seinen westdeutschen Verlag ein Päckchen: Die aus guten Gründen in der DDR nie
erschienenen Romane Die Kraft und die Herrlichkeit, Monsignore Quijote
sowie der gerade publizierte Der Mann mit vielen Namen. Und vielleicht
war es ja gerade in diesem Buch, dem letzten zu Lebzeiten erschienenen Roman,
in dem Graham Greene eine Art Antwort gab auf Fragen, denen er zeitlebens
ebenso dubios wie elegant ausgewichen war.
»Er legte mir eine Hand
auf die Schulter; und ich spürte an der Berührung, dass er es gut mit mir
meinte. Er sagte: ›Wenn du mich erst ein wenig besser kennst, Junge, wirst du
feststellen, dass ich nicht immer die ganze Wahrheit sage – wie du vermutlich
auch nicht.‹ ›Aber ich werde immer erwischt.‹
›Oha! Du wirst eben lernen
müssen, richtig zu lügen. Was nützt eine Lüge, die durchschaut wird? Bei mir
kann niemand Lüge von Wahrheit unterscheiden. Manchmal kann ich’s nicht mal
selbst.‹«
Sollte so also tatsächlich
die Quintessenz eines ganzen Menschen- und Schriftstellerlebens aussehen? In
Greenes frühem Romanthriller Jagd im Nebel (im Original The
Confidential Agent) findet sich der Satz: »In einem glücklichen
Menschenleben fiel die letzte endgültige Enttäuschung irgendwie mit dem Tod
zusammen.« Müssen wir uns den in allerlei Komplexe und Defekte verstrickten
Greene demnach doch als glücklichen Menschen vorstellen, der erst zuallerletzt
im Spiegel ein reichlich verlogenes Genie entdeckte? Banale, müßige, unsinnige
Spekulation. Er hat, das ist nicht wenig, mit seinen Büchern Menschen in aller
Welt glücklich gemacht, das heißt ihnen – wider Willen oder mit voller Absicht,
who cares – jenes tragische Glück beschert, das Albert Camus ein wissendes
nannte, ein Bewusstsein unserer Leidenschaften, Anstrengungen und
Fehlbarkeiten, zuletzt auch unserer Endlichkeit. Um es ein wenig salopper zu
formulieren: Sir, wahrscheinlich taten wir gut daran, Ihnen nicht von zwölf bis
Mittag zu trauen, und dennoch – wir haben uns bei keiner Ihrer Zeilen
gelangweilt.
Graham Greenes Werk erscheint in deutscher Übersetzung im
Zsolnay Verlag sowie bei dtv. – Bei dtv ist eine neue, wenn auch leicht
hagiographisch getönte Biografie von Ulrich Greiwe über den englischen Schriftsteller
erschienen.