Marko Martin

 

Der Zuseher. Eine Lektüre-Reise

 

Auf den literarischen und biografischen Spuren von Graham Greene

 

In der begrenzten Lebenssphäre der DDR musste der vielgereiste Autor mit seinen Geschichten und Romanen voller Ambivalenzen und Uneindeutigkeiten wie der Geist einer Gegenwelt erscheinen. Wenn der scho n damals affizierte Junge aus der sächsischen Provinz sich heute auf die Spuren eines auch persönlich so schillernden Autors setzt, sucht er neben den biografischen vor allem die schriftstellerischen Quellen des Reizes, den die Literatur von »Greene-Land« immer noch ausmacht. Hinter dem mit seinem Katholizismus kokettierenden Abenteuerschriftsteller oder politischen Literaten findet unser Autor jemanden, der das Lied von moralischer Schwäche in immer neuen Variationen zu intonieren und einem vor Gespanntsein atemlosen Publikum zu präsentieren in der Lage war wie sonst kein anderer Autor im 20. Jahrhundert.

 

Wenn es tatsächlich so war – und vieles spricht dafür, dass der gesamten Familie Greene das Spionieren quasi im Blut lag, der Romancier selbst ein Meister im Nebelwerfen war und man es darüber hinaus nicht unter Zufall verbuchen will, dass sein letzter, im Alter von 84 Jahren veröffentlichter Roman Ein Mann mit vielen Namen (im Original The Captain and the Enemy) die fast pubertär anmutende Geschichte eines zwielichtigen Halb-Gentleman mit wenig Kontur, dafür aber zahlreichen Pseudonymen erzählt –, dann scheint es beinahe logisch, dass meine Erstbegegnung mit dem Namen Graham Greene auf einem schwarzen Paperback-Umschlag zögernd, abtastend, ja beinahe misstrauisch verlief. Ich war vierzehn oder fünfzehn Jahre alt und wusste, in der Bücherecke eines Ladens tief in der sächsischen Provinz stehend und unschlüssig blätternd, natürlich nichts von Meriten und Mankos dieses Autors, nichts von der Begeisterung des Publikums und von Jurys, die etwa 1952 den Ehebruchroman Das Ende einer Affäre in den USA mit einem katholischen Literaturpreis auszeichneten, während 1981 der renommierte Jerusalem-Preis an einen weltberühmten Schriftsteller ging, der sich stets als »pro-israelisch« bezeichnete, dabei die antisemitischen Stereotype in seinen frühen (und, um ein weiteres Paradox zu erwähnen, ansonsten künstlerisch durchaus gelungenen) Romanen jedoch geflissentlich vergaß; wusste nichts vom britischen Spion, der dennoch von Castro und Ho Chi Minh beeindruckt war, sich aber in seinem Der stille Amerikaner weniger pro-vietnamesisch als anti-amerikanisch zeigte und nichts gegen eine propagandistische Bühnenversion des Romans einzuwenden hatte, gezeigt in Moskau, wohin sich 1963 Kim Philby, sein Geheimdienstvorgesetzter aus dem Zweiten Weltkrieg, abgesetzt hatte – Philbys Memoiren waren dann auch in der DDR erschienen. Möglich, dass diese Doppelagenten-Rechtfertigung, dem informationshungrigen Schüler von damals sofort suspekt, ja gleich neben den greeneschen Taschenbüchern auslag, wenn auch ohne das Greene-Vorwort der englischen Originalausgabe, in der ein offensichtlich moralisch höchst ambivalenter Romancier die Tugend der Illoyalität, ja des Verrates pries, nichtsdestotrotz aber in keiner Zeile irgendein prokommunistisch zu deutendes »antiimperialistisches Engagement« zeigte. In den Verlagen und Zensurstellen des Landes würde man demnach wohl Grund genug gehabt haben, das Vorwort dieses »bedeutendsten englischen Gegenwartsschriftstellers, am 2. Oktober 1904 in Berkhamsted als Sohn eines Schuldirektors geboren«, nicht zu veröffentlichen und von seinen zahlreichen Romanen auch nur jene, die man dem ostdeutschen Leser für zuträglich hielt.

Graham Greene, von Zeitgenossen nicht eben als mitfühlender, geradliniger Charakter geschildert – der entfernte Verwandte Robert Louis Stevensons schien es zeitlebens geradezu zu kultivieren, gleich Dutzende Mister Hydes in sich zu versammeln –, würde sich ins Fäustchen gelacht haben, die leicht vorstehenden blässlich-blauen Augen feucht vor diabolischem Vergnügen: So wie er einst seinen strengen Vater und die brutalen Mitschüler gegeneinander ausgespielt hatte, wie er später auf Geheimdienstkosten ausgedehnte Reisen in die Krisengebiete, Bordelle und Opiumhöhlen dieser Welt machte, wie er den Gläubigen katholische Themen, den Rechten Thriller-Spannung und den Linken rechtsdiktatorenkritische Bücher zu lesen gab – nicht aber lieferte, niemals aber lieferte, Größe einer Illoyalität, die sich wenigstens selbst immer treu blieb –, so hatte er nun, in der Spätphase seines Lebens, auch die Kommunisten ausgetrickst, deren Parteimitglied er ja sogar einmal gewesen war: 1925 in Oxford, vier ganze Wochen lang, in der unerfüllt gebliebenen Hoffnung, als britischer Student und Jungautor sogleich offiziell vom Sowjetregime eingeladen zu werden und daraus literarisch Profit zu schlagen. Nichts davon wusste Mitte der Achtzigerjahre der 15-jährige Junge, als er sich diese merkwürdig gestalteten Bücher aus dem Ostberliner Verlag Volk und Welt anschaute: Dünner schwarzer Pappeinband, darauf in weißer, unterschiedlich dicker Schriftform Autorenname und Romantitel und darunter, seltsam genug, ein kurzer Auszug aus dem Inhalt.

 

Bedächtig erklomm ich die Stiege zu meiner Wohnung in der Rue Catinat; auf dem ersten Treppenabsatz hielt ich inne, um mich auszuruhen. Die alten Weiber tratschten, wie sie es immer getan hatten. In den Runzeln ihrer Gesichter trugen sie das Schicksal verzeichnet wie andere in den Linien der Hand. Als ich vorüberging, verstummten sie, und ich überlegte, was sie mir, wäre ich ihrer Sprache mächtig gewesen, wohl über die Ereignisse hätten erzählen können, die sich hier zugetragen hatten, während ich im Lazarett der Fremdenlegion an der Straße nach Tanyin gelegen hatte.« – Hörte sich so etwa »Sozialistischer Realismus« an? Trotzdem: Man musste als Leser wachsam sein, nach Kräften das gesamte Umfeld ausspionieren und durfte sich von Oberflächen-Reizen nicht einlullen lassen. Manchmal lag in der Bücherecke nämlich sogar ein plastikverschweißtes »Westbuch«; ästhetisch gar nicht schlecht anzusehen, stammte es zumeist aus dem Verlag Pahl-Rugenstein, einer DKP- und somit SED-finanzierten Institution, die zumeist nur Schauer-Reportagen über die schlimme BRD feilbot. Ein »West-Autor« zu sein, musste also zuerst einmal gar nichts bedeuten: Hatte nicht Luise Rinser eine unsägliche Eloge auf Nordkoreas Gewaltherrscher Kim Il Sung veröffentlicht (eine Art Nachfolgerin des »bürgerlich-humanistischen« Lion Feuchtwanger und dessen terrorrechtfertigendem Moskau 1937), waren Bernt Engelmanns reißerische Doku-Romane und ein deutsch-deutscher Verantwortungsschinken aus der Feder des SPD-Abgeordneten (und später ebenfalls als Stasi-IM enttarnten) Dieter Lattmann nicht ebenfalls in der DDR erschienen? Weshalb sollte es dann nicht auch im ferneren Ausland schreibende Totalitarismus-Sympathisanten geben? Vorsicht vor allem bei Büchern, die aus der Originalsprache sogleich ins DDR-Deutsch übersetzt worden waren, während der Vermerk »Mit Genehmigung der Paul Zsolnay Verlags GmbH, Wien/Hamburg« doch wenigstens eine gewisse Sicherheit versprach. Endgültig entscheiden – und damit sind wir jetzt endlich bei der Literatur angelangt – ließ sich dies sowieso nur durch die Sätze und Wörter im Inneren der Romane. »Ich kehrte ohne viel Hoffnung in ein Land der Furcht und Enttäuschung zurück, dennoch erfüllte mich jetzt, da die Medea einfuhr, jeder vertraute Zug mit einer Art Glücksgefühl. Die gewaltige Masse des Kenscoff, der über der Stadt hing, war wie gewöhnlich bis zur Hälfte in tiefem Schatten. Die späte Sonne funkelte gläsern auf den neuen Gebäuden in der Nähe des Hafens. Ein steinerner Kolumbus sah uns zu, wie wir einfuhren – dort hatten Martha und ich einander immer des Nachts getroffen, bis das Ausgehverbot uns in verschiedene Gefängnisse einschloß, mich in mein Hotel und sie in ihre Botschaft. Ich überlegte mir, ob sie sich im vergangenen Monat, als das Ausgehverbot aufgehoben wurde, ein anderes Rendezvous ausgesucht hatte, und ich fragte mich, mit wem. Niemand baut heutzutage auf Treue.«

Mr. Fowler im Saigon der Fünfzigerjahre, Mister Brown in seinem verwaisten Hotel Trianon im Haiti des Diktators Papa Doc – dunkle Folie für jugendliche Abenteuersehnsüchte, die gleichwohl nicht wie erwartet erfüllt, sondern eher unterlaufen, wenn nicht gar verraten wurden. Wer Graham Greene liest, erfährt nicht nur etwas über Sierra Leone während des Zweiten Weltkriegs, Vietnam in der Zeit des zerfallenden französischen Kolonialismus, über verzweifelte Guerilla-Aktivitäten im Paraguay des Diktators Alfredo Stroessner oder eine Lepra-Kolonie im ehemaligen Belgisch-Kongo, er lernt nicht nur die Katholiken-Verfolgungen im Mexiko der Dreißigerjahre und die ausnahmsweise einmal amüsanten »Reisen mit meiner Tante« oder den widerwärtigen »Dr. Fischer aus Genf« kennen – er macht vor allem die Bekanntschaft mit jener Ambivalenz, von der eilfertige Kritiker meinten, sie existiere in dieser Form nur innerhalb von Greenes Romanen, weshalb man den in ihnen beschriebenen geografischen und Seelenlandschaften das Etikett »Greeneland« verpasste, ein Begriff, der es samt Erläuterung inzwischen sogar ins Oxford English Dictionary geschafft hat. Aber was wäre, wenn die »verschiedenen Spielarten des Glaubens, Halbglaubens und Unglaubens« (so Greene im Vorwort zu seinem 1960 erschienenem Roman Ein ausgebrannter Fall) überall existierten, wenn die exotischen Schauplätze nur den Vorwand böten, von der Schwäche und Stärke des Menschen zu erzählen, wenngleich bestimmte Charaktereigenschaften, Spleens und Obsessionen eindeutig auf des Autors spezielle Psyche hindeuten?

Für den jugendlichen Leser von einst bedeutete die Erkenntnis jedenfalls eine Art heilsamen Schock, das Aufscheinen von Ambivalenz und Uneindeutigkeit, einer unerwarteten Freiheit ex negativo: Diktaturen sind nicht allmächtig; zwar können sie Gefühle des Überdrusses und Ungenügens, der Einsamkeit und des Ausgebranntseins verstärken, aber eine Kausalität existiert nirgendwo. Mr. Brown brauchte Papa Doc ebenso wenig, wie der bindungsunfähige (und am Schluss schließlich doch noch ungewollt heroisch agierende) Dr. Plarr in Der Honorarkonsul einen paraguayischen Juntachef benötigte, um sich auf dieser Welt ortlos zu fühlen. Es gab keine Sicherheit, nirgends. Das in Die Stunde der Komödianten von einem staatenlosen Halbengländer geführte Hotel oberhalb von Port-au-Prince bot keinen Schutz vor den Tonton Macoutes des haitianischen Gewaltherrschers; der Status des alkoholkranken britischen »Honorarkonsuls« Fortnum würde nicht ausreichen, den Verfolgten des Stroessner-Regimes diplomatischen Schutz zu gewähren, aber was noch schwerer wog: Auch der idealistische Charakter des CIA-Agenten Pyle in Der stille Amerikaner bot keine Garantie für ethisches Verhalten, sondern rechtfertigte im Gegenteil Mord im Dienst einer vermeintlich »guten Sache«.

 

Lesefutter für Dritte-Welt-Enthusiasten, randvoll mit den Slogans von »internationaler Solidarität«, war derlei bestimmt nicht – ein Wunder des Missverstehens, dass Graham Greene in Gestalt der schwarzweißen Paperbacks dennoch seinen Weg in die DDR gefunden hatte. (Gehorchte die Freude mancher Katholiken, den anscheinend permanent mit Sex, Sünde und Selbstzweifel beschäftigten Romancier letztlich doch als einen der ihren bezeichnen zu können, nicht der gleichen Illusion des mühelosen Eingemeindens, der auch die ostdeutschen Zensoren erlegen waren?)

Im Fall seines autobiografischen Mein Freund, der General – im Original Getting to know the General – schien die Lizenz-Veröffentlichung noch am plausibelsten: In dem 1984 erschienenen Buch erzählt der alternde, inzwischen mit seiner letzten Geliebten im südfranzösischen Antibes lebende Globetrotter Greene von seiner Freundschaft mit dem (1981 bei einem mysteriösen Hubschrauberabsturz umgekommenen) Präsidenten-General Omar Torrijos in der Zeit der Ratifizierung des Panama-Kanal-Abkommens. »Das mit starker innerer Beteiligung gezeichnete Porträt des fortschrittlichen, um die demokratische Erneuerung Panamas bemühten Obersten Führers der Revolution ist eingebettet in eine Fülle abenteuerlicher Situationen«: Fast scheint es, als wäre auch den ostdeutschen Klappentext-Verfassern dieser Autor nicht ganz geheuer gewesen, der zwar einen diffus links gerichteten, dennoch reichlich korrupten Tropen-Potentaten zum heroischen Volksfreund umdichtet, bei all dem aber vor allem daran interessiert ist, sich in Hängematten zu räkeln, auf Empfängen Cocktails zu schlürfen, wunderbare Szenen- und Landschaftsbeschreibungen zu verfassen, seines ständigen Begleiters Chuchus Frauengeschichten zu kolportieren und (nicht ohne kleine, in einer DDR-Ausgabe erfrischend konterrevolutionär wirkende Bemerkungen über das »parlamentarische System Englands, das nun schon seit etwa zweihundert Jahren zufrieden stellend funktioniert«) der Atmosphäre den Vorrang vor jeglicher Ideologie zu geben. Eine etwas windige Angelegenheit? Und wenn schon. Jenseits der greeneschen Skrupel, des unheilschwangeren Ambientes und all seiner durch Alkohol und Seelenqual wankenden Helden gab es doch vor allem auch dies: Geruch von Freiheit und Gefahr, Welt der Flugtickets, Airports und großen Städte, der palmenbestandenen Alleen und zweifelhaften Altstadt-Bars, Londoner Regen-Nachmittage und tropische Sonnenuntergänge, Welt der Affären und Erwachsenen-Erfahrungen, Transformation des Physischen ins Geistige und vice versa, rasanter Wechsel von Bordell- zu Lektüre-Erinnerungen.

»Ce n’est pas très catholique«, würde hier wohl die schmallippige Verdammungsformel lauten, wäre sie nicht so grundfalsch: Katholisch, in des griechischen Wortes Ursprungsbedeutung »allgemein«, also durchaus nicht nur in den Randzonen der Existenz angesiedelt. Aber was kümmerte es schon einen 15-Jährigen, ob der Autor, den er da gerade für sich entdeckt hatte, nun ein katholischer Romancier war oder nicht? Vorerst ging es nur darum, auch einmal selbst in jene Länder zu gelangen, in denen es noch möglich schien, eine abenteuerliche Existenz zu führen – pubertäre Phase der Lektürereise. Blieb in diesem Sehraster in Die Stunde der Komödianten nicht jene Szene am eindringlichsten, die gar nichts mit Haiti, dafür aber mit Mr. Browns Jugend zu tun hatte, und zwar seine erste Liebesnacht mit einer etwas älteren Frau in Monte Carlo, der Erfahrung, einer unbekannten Situation nicht gewachsen zu sein, bis plötzlich eine verirrte Möwe ins Hotelzimmer flattert, die souveräne Frau für einen Moment zittern macht und dem Jungen die Energie verschafft, zum Mann zu werden? Und doch: Relativität auch des Sex, denn bleibt nicht der Amerikaner Pyle sogar in den Armen seiner vietnamesischen Geliebten Phuong der gleiche naive College-Boy? Fragen, die letztlich nur die reale Welt da draußen beantworten konnte, kometenweit entfernt der protestantischen Grübelei Christa Wolfs Kindheitsmuster.

 

Entdeckungen, zehn Jahre später: All das, was Greene beschrieben hatte, existierte wirklich. Es gab in Port-au-Prince tatsächlich das Hotel Oloffson alias »Trianon« mit seinen verzierten, von der tropischen Schwüle morsch gemachten Balustraden, quietschenden Dielen und abrupten Lichtausfällen bei hereinbrechender Dunkelheit, es gab den Swimmingpool, in dem Mr. Brown eines Abends die Leiche des Regimegegners Dr. Magiot entdeckt hatte (eine der wenigen nichtambivalenten, ethisch untadeligen Personen in Greenes Werk, die bezeichnenderweise stets ziemlich thesenhaft reden, als Figuren eher blass bleiben und von ihrem Erfinder alsbald entsorgt werden, als sei das Gute tatsächlich ein wenig peinlich und peripher), es gab den Ventilator über der Bar, das Klirren der Eiswürfel, es gab schwitzende, frustrierte, aufopferungsvolle, lächerliche, tapfere UN- und NGO-Mitarbeiter. Der drogenabhängige Hotelbesitzer George Morse schien ein Wiedergänger Browns zu sein, während das Vorbild für die Romanfigur des stets gut informierten, weil spitzelnden Petit Pierre sogar noch leibhaftig, wenn auch inzwischen glatzköpfig, unter einem fleckigen Spiegel in weißem Anzug und Krawatte in einem Lehnstuhl saß und an einer Zigarettenspitze zog: Aubelin Jolicoeur, charmant-skrupelloser Klatschjournalist, Günstling wechselnder Regimes, ein haitianischer Zombie und gleichzeitig unsterbliches Symbol für die lächelnde Verführungskraft des Bösen, der dem Romancier bereits im Jahre 1954 von seinem ebenso skandalsüchtigen Kollegen Truman Capote vorgestellt worden war. Während jedoch in Die Stunde der Komödianten die good guys immer auch ein wenig als die Naiven und Eifernden dargestellt wurden – wie kalt spottete Autor Greene, zerfressen vom Antiamerikanismus, über das wohlmeinende Vegetarier-Ehepaar Smith, während die Blutsauger der Diktatur mit desto größerer Faszination beschrieben wurden! –, bot die Realität dieser Haiti-Reise 1998 auch weit anderes als den Uralt-Topos von der Banalität des Guten: Laennec Hurbon, haitianischer Intellektueller und Soziologe, war etwa ebenso humorvoll wie luzide, ein mutiger Einzelkämpfer mit moralischen Maßstäben, und auch dem alten Ehepaar Denis, Besitzer des einzigen Klassikmusik-Geschäfts in der Karibik, eignete nichts Lächerliches, wie sie da in ihrem Häuschen oben in Pétionville saßen und uns von Bach und Schubert sprachen, und Madame, am Flügel Chopin spielend, sich an ihren deutschen Lehrer Hubert Giesen erinnerte, dessen 1972 bei S. Fischer erschienene Autobiografie sichtbar im Bücherregal dieses zivilen Refugiums stand, während draußen in stockdunkler Nacht ein tropischer Regenguss niederging und wütende Rufe und Schreie zu hören waren, die von nass gewordenen Zivilisten, aber auch von anderen, ganz anderen Zeitgenossen hätten stammen können; who knows. Der Graham-Greene-Leser erinnerte sich in diesem Moment jedenfalls an seine Erstlektüre und dieses bereits damals manifeste Gefühl eines gewissen Mankos: Da gab es nämlich etwas, und zwar einen ganzen Kontinent voll unprätentiöser Alltagsanständigkeit und nichtauftrumpfender Güte, von dem wusste selbst dieser welterfahrene Menschenkenner nichts. Oder wollte nichts davon wissen, weil er, wie der Teufel das Weihwasser, Frömmelei und Kitschbildproduktion als stilistische Verfälschung fürchtete und sich, Konvertit des Jahres 1925, stets auf die Worte des im 19. Jahrhundert vom Anglikaner zum Katholiken gewordenen Kardinals Newman bezog: »Es ist ein Widerspruch in sich, über sündige Menschen eine von Sünden freie Literatur zusammenstellen zu wollen. Man kann vielleicht etwas sehr Herrliches zusammentragen, aber wenn man es recht besieht, zeigt es sich, dass es überhaupt keine Dichtung ist. Die heute einzig auf das Leben der Heiligen Angewiesenen sind morgen einem Babylon überlassen. Ihr verweigert ihnen die Meister, die sie in gewissem Sinne belehrt haben würden, weil sie gelegentlich korrupt sind.«

 

Ein wenig korrupt war auch der englische Journalist Fowler, Icherzähler im Saigon-Roman Der stille Amerikaner von 1955, und korrupt war auch die Stadt – und ist es heute noch immer, da sie sich längst wieder ihres kämpferischen Namens Ho-Chi-Minh-City entledigt hat. Oh süße, synkretistische Indolenz Asiens: Madonna-Musik vor Jungpionieren samt schlafenden Eltern im Opernhaus an der Rue Catinat, die nach der Vertreibung der auf die Franzosen folgenden Amerikaner – zwei Jahrzehnte nach dem Erscheinen von Greenes Welterfolg – zur Dong Khoi (»Straße der Volkserhebung«) wurde und bis heute so heißt; grell erleuchtete Massage-Center hinter Straßen, auf denen Fahrräder, Vespas und W 50 aus alter DDR-Produktion kreisen und dröhnen; Klänge von tschechoslowakischem (sic!) Pop aus den schadhaften Lautsprechern über dem palmenumstandenen, blau verzierten Bassin der vom »Cercle Sportif« zum »Arbeiter-Klub« gewordenen Sporteinrichtung, in dessen Dusch- und Umkleideräumen dann freilich jener Sport betrieben wird, der auch den selbst erklärten »Sünder« Greene interessiert haben würde – alles ganz romanhaft diese Wirklichkeit, atmend, schwatzend, keuchend und nach tausend Dingen und Nuancen riechend. Und doch dürfte sich der im rumsfeldschen Sinne nihilistische Alt-Europäer Thomas Fowler (in der jüngsten, zweiten und dabei besten Roman-Adaption unnachahmlich gespielt von Michael Caine) mit seinen quasirealistischen Einschätzungen geirrt haben, als er Alden Pyle, seinem Nebenbuhler und idealistisch-amerikanischen Widerpart – einer Art Vorläufer der heutigen neoconservatives im intellektuellen Umfeld der Bush-Administration –, seine reine, angeblich von der Wirklichkeit beglaubigte Lehre erläuterte: »Sie wollen hier nur genug Reis haben. Sie wollen nicht, dass die Weißen immer hier sind und ihnen sagen, was sie wollen. Gehen Sie im Osten nicht mehr mit dem gedankenlos nachgeplapperten Schlagwort von der Bedrohung der Seele des Individuums umher.« Weshalb aber flüchteten dann nach dem Sieg der marxistisch-materialistischen Genug-Reis-Geber (wobei es, logische Ironie der Geschichte, natürlich bereits daran haperte) Zehntausende boat people aus Vietnam und ließen ganze Stadtteile Saigons entvölkert zurück?

Andererseits: Wer käme schon auf die Idee, in eine Stadt zu reisen und sie mit der Erfahrungswelt eines Romanciers abzugleichen, hieße dieser nicht Graham Greene, sondern, sagen wir, Pearl S. Buck (der anspruchsvoll moralischen Unterhaltungstante wurde übrigens der Nobelpreis nicht wie Greene verweigert) oder Bruce Marshall, in den Vierziger- und Fünfzigerjahren immerhin Englands meistgelesener katholischer Romancier, der auch in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit eine weite, treue Leserschaft besaß? Vergangen, vergessen, in den Antiquariaten verstaubt. Selbst von François Mauriac, passionierter Leser Greenes und neben Julien Green und Georges Bernanos prominentester Vertreter des französischen renouveau catholique, bleiben wohl weniger die Romane als vielmehr die grandiosen autobiografischen Schriften im Gedächtnis, aber was könnte dann auch in den Mémoires intérieures kraftvoller und weniger bigott sein als des gläubigen Nobelpreisträgers Verteidigung und Interpretation von Baudelaires Blumen des Bösen aus dem Geiste christlicher Menschenkenntnis: »›O Herr, laß mich nun zu Kraft und Mut gelangen, / mein Herz und meinen Leib ohn Ekel anzusehen!‹ ... Baudelaire mag noch so sehr leugnen, seine Leugnung wird immer zur Lästerung, das heißt zum Glaubensakt.« Derlei ist weit mehr als pfäffische Sophisterei, die sich zwecks Seelenfang geschmeidig an die Moderne andocken möchte. Ohne den geringsten Dogmatismus wird hier Religiosität zur literarischen Kategorie, und auch Greene – am deutlichsten in seinen essayistischen Arbeiten – ist weit davon entfernt, darin etwas Schädliches zu sehen, im Gegenteil. »Einem Gläubigen bedeutet der Mensch mehr als einem Atheisten. Mit dem Sinn für das Religiöse verschwand auch das Gefühl für die Bedeutung menschlichen Tuns. Wenn man sich sagt, dass der Mensch nur ein höheres Tier ist, dass jedes Individuum maximal 80 Lebensjahre vor sich hat, dann hat der Mensch tatsächlich wenig Bedeutung. Ich glaube, dass die mangelnde Plastizität der Figuren bei E. M. Forster, Virginia Woolf oder Sartre, zum Beispiel, verglichen mit der erstaunlichen Vitalität eines Bloom in Joyces Ulysses oder eines Pére Goriot oder eines David Copperfield, vom Fehlen der religiösen Dimension bei den genannten Autoren herrührt. François Mauriacs Figuren besitzen ebenfalls diese merkwürdige Dichte. Wenn in Die Pharisäerin eine ganz unwichtige Nebenfigur einen Schulhof überquert, haben wir das Gefühl, sie in Fleisch und Blut vor uns zu sehen, während Mrs. Dalloway beim Einkaufen uns vollständig kalt lässt.«

Dennoch sind die Kältezonen im greenschen Œuvre enorm; die handwerkliche Empathie, die solch unvergessliche Figuren entstehen lässt wie etwa den mexikanischen Whiskypriester, den ausgebrannten Kirchenarchitekten Querry, den hoffnungslos zwischen Gesetz, Liebe und Kameradenverrat hin und her taumelnden Schmuggler Andrews in Zwiespalt der Seele, den sadistischen Kleinkriminellen Pinkie in Abgrund des Lebens oder den diabolischen Harry Lime in Der Dritte Mann – sie weitet sich nicht auf das Verhältnis der Protagonisten untereinander, Schurken oder Scheiternde in den feinsten Abstufungen und Nuancen. Es gibt nicht nur keine Sicherheit, sondern auch keine Gnade – es sei denn jene, die von Gott kommen könnte, jedoch in den meisten Fällen ausbleibt, sodass der gläubige Kolonialmajor Scobie in Das Herz aller Dinge angesichts seiner lauen Nicht-Liebe gegenüber Ehefrau und Geliebter (in der Verfilmung von 1949 kongenial gespielt von Maria Schell) schließlich nur den nihilistischen Ausweg des Selbstmords sieht, um mit Gott wenigstens durch eine wirkliche Sünde, die Todsünde schlechthin, verbunden zu sein. »Die Tugend, das gottgefällige Leben, lockte in der Finsternis wie die Sünde.« In der nächtlichen westafrikanischen Tropenschwüle seines kargen Heims sitzend und auf die Wirkung der tödlich dosierten Tabletten wartend, sind des innerlich vereisten Majors letzte Worte: »Lieber Gott, ich liebe ...« Ohne davon zu wissen, konstatiert am nächsten Tag seine Frau die Tragödie mit den müde-bitteren Worten: »Er hat gewiß nur Gott geliebt, sonst niemand.«

Wenn es von Scobie hieß, »er fühlte sich als Zuseher, als einer der vielen, die das Kreuz umstanden und über die der Blick des Gekreuzigten auf der Suche nach einem Freund oder einem Feind hinweggeglitten sein musste«, dann fragten sich Leser in all den Jahrzehnten greenescher Produktivität – der erste Roman erschien immerhin bereits 1929 –, ob der Autor nicht selbst dieser Zuseher gewesen ist, letztlich ein kühler Beobachter, wenn nicht gar ein knallhart kalkulierender, nach dem einprägsamsten Effekt Ausschau haltender Literat, dessen Katholizismus weit eher karrierefördernde Mimikry war. »Obwohl er viel damit verdient«, gab in den Fünfzigerjahren ein britischer Geheimdienstler über den weltreisenden »festen freien Mitarbeiter« Greene intern zu Protokoll, »den englischen Lesern Angst um ihr Seelenheil einzujagen, ist er sehr aufs Geld aus.«

 

Wäre dies ein Indizienprozess, wie ihn der Literaturwissenschaftler Michael Shelden in seiner 1994, drei Jahre nach dem Tod des Schriftstellers erschienenen Graham-Greene-Biografie ebenso eindrucksvoll wie eingleisig führte – es gäbe allerlei, um hinter Greenes Konversion, vorgenommen in Nottingham durch einen Priester, der bis zu seinem eigenen Übertritt als Schauspieler tätig gewesen war, einige Fragezeichen zu setzen. »Für einen Menschen«, schreibt Shelden, »der so hingebungsvoll der Illoyalität anhing, bot der katholische Glaube endlose Möglichkeiten, Unruhe zu stiften, ohne eine allzu harte Strafe zu riskieren, zumindest nicht auf dieser Seite des Grabes. Der Katholizismus gab eine äußerst verführerische Zielscheibe ab und war außerdem ein Thema, das einem Autor gute Dienste leisten konnte, den die dunkelsten Geheimnisse des Herzens faszinierten. Man fand hier exakte Bezeichnungen für diffuse Leiden und Begierden, denn Verdammnis und Haß – nicht Gott und die Liebe – sind die Dinge, die Greenes Interesse wecken und sein Gefühl von religiöser Inbrunst bestimmen. Auch lag ein gewisser Reiz darin, in einem protestantischen Land als Katholik aufzutreten.« In der Tat sollte Greene immer wieder virtuos auf dieser Klaviatur spielen: Nichtkatholische Kritiker seines Werkes wurden mit dem Hinweis auf ihre Kirchenferne abgefertigt, die ihnen ein tieferes Verständnis unmöglich mache, während Katholiken, die sich auf Grund der greeneschen Themen-Obsessionen etwas wunderten, mit dem Hinweis ruhig gestellt wurden, schließlich schreibe er ja keine Traktate, sondern Literatur, außerdem wäre er ohnehin kein katholischer Schriftsteller, wohl aber ein Schriftsteller, der rein zufällig Katholik sei. Nun erklärt jedoch der Zufall hier ebenso wenig wie der Verweis auf plötzliche Erleuchtung oder kaltes Kalkül. Auf jeden Fall berühren Greenes »Späße« – wie jeder Quartalsdepressive mit Alkohol- und Opiumvorlieben neigte er zu eruptiven Heiterkeitsausbrüchen – äußerst merkwürdig: Eine seiner Lieblingsbeschäftigungen – neben den Bordellbesuchen – bestand so etwa im »Leutehassen«, bei dem man sich im Bus oder der U-Bahn willkürlich jemand ausguckte, um dann an ihm lächerliche und widerwärtige Züge zu entdecken. Ein anderer Witz bestand darin, auf Reisen in Dorfkirchen zu gehen und bei der Beichte ahnungslose Priester zum Schwitzen zu bringen: »Vater, ich hab heute nachmittag einen Schäferhund gefickt. Wie viele Ave Maria?« Wohlgemerkt, dies alles geschah in den Fünfzigerjahren, Greene musste also die Pubertät schon weit hinter sich gelassen haben. Im gleichen Jahrzehnt war es ihm auch wichtig, auf einer Italienreise mit seiner neuen Freundin Catherine – die Ehefrau Vivien, wegen der er angeblich doch 1925 konvertiert war, lebte mit den Kindern längst allein, wenn auch gut versorgt, in einem Haus in Oxford – in den dortigen Kirchen keinen Hochaltar auszulassen, hinter dem man Sex haben konnte. All das bedenkend, kommen dann auch all die beunruhigend intensiven Schilderungen des Bösen, des am Herz anderer Menschen Schuldigwerdens wieder in den Blick, die Greenes Romanen bis heute ihre atmosphärische Dichte und ihr ästhetisch wirkungsmächtiges Verunsicherungspotenzial geben. Fast rührend zu sehen, wie damals wohlmeinende Interpreten Autor und Werk doch noch für sich zu retten versuchten: »Das haßerfüllt herausgestoßene ›Credo in unum Satanum‹ des verbrecherischen Pinkie Brown (im Brighton-Roman Am Abgrund des Lebens; M. M.) setzt auch die Kenntnis des gottbejahenden Urtextes voraus«, heißt es in einem 1955 in Heidelberg erschienenem Sammelband mit dem Titel Christliche Dichter der Gegenwart, dessen mit Greene befasster Interpret gleichwohl anmerkt, in seinen Romanen würde allzu oft »Katholizismus nur im Nebensatz« betrieben. Auch der geradlinige George Orwell musste das Seltsame dieser Art Literatur gespürt haben, als er in einer Buchkritik schrieb, Greene hänge wohl der Idee an, »daß es recht distingué ist, verdammt zu sein: Die Hölle als ein exklusiver Nachtklub, zu dem nur Katholiken Zutritt haben.«

Dennoch wäre der Vorwurf ungerecht, dem Romancier wäre es allein um ein metaphysisch-spirituelles Aufpeppen seiner an exotischen Orten spielenden Geschichten gegangen, denn im Grunde war Greene weder ein Abenteuerschriftsteller noch ein genuin politischer Literat, sondern eher einer, der das Lied von moralischer Schwäche in immer neuen Variationen zu intonieren und einem vor Gespanntsein atemlosen Publikum zu präsentieren in der Lage war wie sonst keiner im 20. Jahrhundert. »Der Christ«, schrieb er einmal, »wohnt in einer Grenzzone zwischen Gut und Böse, und es ist ein Land von Räubern. Das Hauptelement, das ich am Christentum bewundere, ist sein Sinn für moralisches Scheitern.« Unsinnig, derlei nur unter Taktik verbuchen zu wollen. Immerhin hat die der judäo-christlichen Religion innewohnende Kraft zur Selbstbefragung den Autor dazu gebracht, die in einigen der frühen Romane wie Orient-Express, Jagd im Nebel oder The Name of Action noch spürbaren antisemitischen Ressentiments abzulegen. Was wäre für einen Experten für wachsende Selbsterkenntnis auch peinlicher, als gewisse negativ wahrgenommene Charaktereigenschaften weiterhin auf eine spezielle Personengruppe zu projizieren und sie somit bequem aus dem dunklen eigenen Inneren zu entsorgen? (Allein im Falle der »heuchlerischen Amerikaner« konnte sich Greene nie entschließen, erwachsen zu werden, und noch 1988 beantwortete er die Frage der Washington Post nach seiner dubiosen Freundschaft mit dem kriminellen General Manuel Noriega: »Ein Feind meines Feindes ist mein Freund. Und mein Feind ist Reagan.« Der trotzige Satz wird doppelt töricht, wenn man daran denkt, dass sich der vermeintliche »Anti-Imperialist« Noriega ja nicht nur von Castro, sondern auch von der CIA hatte bezahlen lassen.)

 

Es brauchte aber gewiss nicht die etwas glättende Hollywood-Verfilmung mit Henry Fonda in der Rolle des alkoholisierten, mit sich und Gott hadernden Priesters, um Greenes Die Kraft und die Herrlichkeit aus dem Jahre 1940 zu einem der größten Romane des Jahrhunderts zu machen. Und werden nicht alle Spekulationen über seine Religiosität hinfällig, wenn man liest, wie der Padre – gegen Ende der Dreißigerjahre in einem abgelegenen, von den Furien des revolutionären Atheismus heimgesuchten Staat Mexikos der letzte noch nicht geflüchtete oder umgebrachte Seelsorger – auf der Flucht in jenes Indiodorf kommt, in dem er früher Dienst getan und in einem Augenblick der Verzweiflung mit seiner Haushälterin ein Kind gezeugt hatte?

»Er versuchte die Schnapsflasche zu verbergen, aber es gab kein Versteck dafür; also suchte er ihre Bedeutung abzuschwächen, indem er sie freimütig in der Hand hielt. Dabei sah er das Kind an und empfand in jäher Erschütterung die Liebe zum Menschen.«

Jenseits der packenden Story scheint hier geradezu mit Händen greifbar, wie der Autor diese Empathie – Mitgefühl ohne jegliche Verzuckerung – auch der eigenen Misanthropie und Bosheit abgerungen haben musste. Wenig später hält der Padre eine Messe, schnell und hastig im Morgengrauen, um den bereits anrückenden Militärs doch noch zu entkommen. Angst in der Stimme, Zweifel am Sinn seines Tuns, hält er ein altes Stück Brot in die Höhe und gießt ein wenig Wein in eine alte, angeschlagene Tasse; auf seiner Flucht einen Messkelch mitzuführen, wäre zu riskant gewesen. Wer würde bei einer solchen Szene nicht an die unvergesslich suggestiven Psalmistenworte des Du bereitest mir den Tisch im Angesicht meiner Feinde denken?

»Der Mensch war so beschränkt; er besaß nicht einmal die Fähigkeit, neue Laster zu erfinden; die Tiere kannten genauso viele. Und für diese Welt war Christus gestorben. Es war allzu leicht, für das zu sterben, was gut und schön ist, für die Heimat, für die Kinder, für eine Kultur – man musste ein Gott sein, um für die Gleichgültigen und die Verderbten sein Leben hinzugeben ... Wenn man sich aber das Bild eines Menschen in allen Einzelheiten vergegenwärtigte, dann stellte sich sehr leicht das Erbarmen ein. Das war eine Eigenschaft, die Gottes Ebenbild besaß: Wenn man die kleinen Falten um die Augen sah, den Schnitt des Mundes, die Art des Haarwuchses, dann konnte man nicht mehr hassen. Der Haß entsprang nur der Unzulänglichkeit der Vorstellungskraft.«

Zurückübersetzt in den autobiografischen Rahmen hieße das: »Leutehassen« mag ein kurzfristiges U-Bahn-Vergnügen sein, jedoch auch eine ernstliche Gefahr für das Gelingen eines Romans, denn schlechte Menschen ohne das Bewusstsein ihrer Schlechtigkeit schreiben nun einmal genauso miserable Bücher wie jene Gutmenschen, die der Hauch des Selbstzweifels niemals getroffen hat. »Hier«, heißt es in Das Herz aller Dinge über die kleine Kolonialstation, »konnte man seine Mitmenschen beinahe so lieben, wie Gott die Menschen liebte: Man wusste um das Schlimmste.«

Weiß man es tatsächlich? Doch die Frage nach der Ernsthaftigkeit von Greenes Katholizismus wandert angesichts seiner großartigen Prosa in die verstaubten, heute zum Glück kaum noch existenten Bezirke einer kriminalistisch betriebenen Verdachts-Theologie ab; unwesentlich, kleinkariert. Die Tatsache, dass 59200, seine Mitgliedsnummer beim Geheimdienst SIS, auch jene des Vorgesetzten in Unser Mann in Havanna war – kleine Neckereien angesichts von Greenes in noch ganz andere Gefilde führende Reisen, Entdeckungstouren in das Dunkel von Trieb und Seele oder was dergleichen mehr abstrakte Begriffe sind für das, was er zu genialen Geschichten gemacht hat.

 

Dann aber, zwanzig Jahre nach der Erst-Lektüre, zwei Jahrzehnte nach dem so rasant und spannend erzählten semipolitischen Roadmovie Mein Freund, der General taucht beim Lesen von Michael Sheldens skrupulös recherchierter Greene-Biografie plötzlich der Name von Padre Hector Galegos auf. Wer war dieser junge kolumbianische Priester, der 1971 entführt, zusammengeschlagen und anschließend aus einem Hubschrauber hinab ins Meer geworfen wurde?

Zumindest hatte er einen Namen und war nicht anonym wie jener Pfarrer von Luzarches, der erst durch hartnäckige Nachforschungen eines Biografen zu jenem Abbé Oudaille wurde, den man vor dem Direktorium der französischen Revolution denunzierte, anschließend verbannte und ihn – nach neuer, gnadenloser Zeitrechnung – am »7. Vendémiaire des Jahres VII« auf jener Teufelsinsel Guyana verrecken ließ, auf der später auch Leutnant Dreyfus gestorben wäre, hätte sich im fernen Paris nicht mit Emile Zola ein Schriftsteller für ihn eingesetzt, der ein etwas anderes Loyalitätsverständnis besaß als Mister Graham Greene.

Weshalb aber jetzt diese Schlangenlinie von Namen und Episoden über zwei Jahrhunderte hinweg?

In einem Briefwechsel mit seinen Schriftsteller-Kollegen V. S. Pritchett und Elizabeth Bowen schreibt Greene Ende der Vierzigerjahre: »Im Kampf für die Gerechtigkeit hat der Schriftsteller größere Möglichkeiten und darum auch größere Verpflichtungen als etwa ein Apotheker oder ein Grundstücksmakler. Denn er ist, sobald er einen gewissen Erfolg hat, unabhängiger als die anderen: er ist sein eigener Brotgeber und kann es sich leisten, anzugreifen.« Ebenso sympathisch klingt es, wenn er hinzufügt: »Sind wir loyal, so bleiben wir in den einmal angenommenen Ansichten eingeschlossen; sind wir loyal, so dürfen wir für Andersdenkende weder Verständnis noch Sympathie aufbringen. Sind wir aber nicht loyal, dann können wir uns in jedes menschliche Gemüt versetzen. Das gibt dem Romanschriftsteller eine neue Dimension: die Sympathie.«

Hatte der Junge von damals, in jener Bücherecke des Dorfladens, nicht genau aus diesem Grund nach Greenes Büchern gegriffen, da sie für ideologische Gewissheiten nur eine wegwerfende Handbewegung bereithielten? Weshalb aber fühlte sich dann Greene im weiteren Briefwechsel gezwungen, jene hoffärtige Pose der Abgrenzung einzunehmen? »Wenn mein Gewissen so zart besaitet wäre wie das Monsieur Mauriacs, dann könnte ich keine Zeile schreiben.«

Auf was bezieht sich die Anspielung, welchen eigenen Defekt soll sie womöglich kaschieren? François Mauriacs Gewissen war nämlich keinesfalls »zart besaitet« im Sinne einer rein erbaulichen Wirklichkeitswahrnehmung. Im Gegenteil. Als er, wie er sich in seinen Mémoires intérieures erinnert, zum ersten Mal von den Vorwürfen gegen den großen Benjamin Constant – luzider Schriftsteller, Freund von Madame de Stael und geistiger Vater des liberalen Staatsgedankens – hört, vermutet er zuerst den eifernden Moralismus eines nachgeborenen Biografen am Werk, der sich völlig unnötig an einem Mann abarbeitet, der sich in seinem Journal intime ja bereits selbst immer wieder gnadenlos seelisch seziert hatte, ein »Illoyaler« des 18. Jahrhunderts. Weshalb aber war dann Constant, Verfasser des sublimen Adolphe, mit keiner Zeile auf jene Episode kurz vor dem Jahrhundertwechsel eingegangen, die einem anderen Menschen, eben jenem von ihm persönlich denunzierten Pfarrer von Luzarches, das Leben gekostet hatte? Mauriac, sich immer weiter in diese Geschichte versenkend, sucht ab nun nach bestimmten Passagen im Werk des von ihm hochverehrten Schriftstellers und Intellektuellen, die auf ein Schuldbewusstsein oder auch nur auf eine Erinnerung schließen ließen. Fehlanzeige. Was er findet, sind allein unzählige Reflexionen und Selbstgeißelungen über das doch eher harmlose Doppelleben zwischen staatsbürgerlichem Engagement und grenzenloser Spielleidenschaft, zwischen agnostischer Skepsis und Gottessehnsucht. Wäre Mauriac tatsächlich so »zart besaitet« gewesen, wie dies Greene behauptet, der katholische Romancier hätte dieses Kapitel zufrieden schließen können, im Wissen, dass sein Held Benjamin Constant schließlich doch noch zum Glauben gefunden habe. Stattdessen schreibt Mauriac: »Was hilft es, dass wir uns mit uns selbst konfrontieren, bis uns der Schauder packt, wenn wir nicht zugleich auf den unschuldig Gekreuzigten schauen, dessen Zeichen der Sträfling von Guyana unsichtbar an seinen Händen, seiner Seite und seinen Füßen trug.«

 

Der Zufall (oder was auch immer) wollte es nun, dass knapp zwei Jahrhunderte später in unmittelbarer Nachbarschaft zu Guyana erneut auf Grund politischen Wahns ein unschuldiger Priester umgebracht wurde, gefoltert und anschließend ins karibische Meer geworfen. Auftraggeber des Mordes: Oberstleutnant Manuel Noriega, in jenem Jahr 1971 Geheimdienstchef unter Panamas Militärpräsident General Omar Torrijos. Mein Freund, der General. Höchst unwahrscheinlich, dass Greene, der von Besuch zu Besuch mit der Landesgeschichte immer intimer vertraut Werdende, davon nichts gewusst haben sollte. Noch Mitte der Achtzigerjahre, also nach dem Tod von Torrijos, besuchte Graham Greeene sogar in Noriegas Auftrag Fidel Castro, um Reagans (wohl ebenso kriminelle) Mittelamerika-Politik zu durchkreuzen. Als Dank durfte dann 1987 der Romancier – Schöpfer des mutigen Whiskypriesters und des satanischen Pinkie Brown – zusammen mit dem Foltergeneral Noriega auf dem Podium eines Stadions erscheinen, wo sich beide, umjubelt von den Massen, herzlich umarmten. Kurz darauf, Noriega war inzwischen bei Rechten und Linken in Ungnade gefallen, bekommt Greene plötzlich Erinnerungslücken und fertigt einen Interviewer mit den Worten ab: »Noriega war vollkommen uninteressant, und er hatte etwas an sich, was mir nicht gefiel.«

Die subversive Tugend der Illoyalität, geschrumpft zu kleinlichen Ausflüchten und Lügen – und im Hintergrund immer »der unschuldig Gekreuzigte«, diesmal jedoch nicht als mythische Staffage, sondern als pure Realität: Padre Hector Gallegos.

Ist es womöglich ungerecht, einen Autor vom weltliterarischen Rang Graham Greenes auf diese zeitweilige Kumpelei mit einem Mörder zu reduzieren? Aber irgendetwas Vages, Falsches, Nichtausgesprochenes gab es ja auch in der Literatur, in Mein Freund, der General. Weshalb auch sonst der Aufwand, mitten in der DDR-Provinz über einen westdeutschen Freund an die Postadresse von Greene herankommen zu wollen – eine durch die Briefüberwachung geschmuggelte Who is who in France-Kopie des Buchstabens G – um schließlich dem in Antibes, Avenue Pasteur, La Résidence des Fleurs, lebenden Verfasser einige Fragen zu stellen? Der knapp sieben Jahrzehnte Ältere antwortete schnell, höflich und nichts sagend.

»I am afraid I am too busy to answer all your questions but I do wish you all good wishes for your future. Yours sincerely ...«

Wenig später kam über seinen westdeutschen Verlag ein Päckchen: Die aus guten Gründen in der DDR nie erschienenen Romane Die Kraft und die Herrlichkeit, Monsignore Quijote sowie der gerade publizierte Der Mann mit vielen Namen. Und vielleicht war es ja gerade in diesem Buch, dem letzten zu Lebzeiten erschienenen Roman, in dem Graham Greene eine Art Antwort gab auf Fragen, denen er zeitlebens ebenso dubios wie elegant ausgewichen war.

»Er legte mir eine Hand auf die Schulter; und ich spürte an der Berührung, dass er es gut mit mir meinte. Er sagte: ›Wenn du mich erst ein wenig besser kennst, Junge, wirst du feststellen, dass ich nicht immer die ganze Wahrheit sage – wie du vermutlich auch nicht.‹ ›Aber ich werde immer erwischt.‹

›Oha! Du wirst eben lernen müssen, richtig zu lügen. Was nützt eine Lüge, die durchschaut wird? Bei mir kann niemand Lüge von Wahrheit unterscheiden. Manchmal kann ich’s nicht mal selbst.‹«

Sollte so also tatsächlich die Quintessenz eines ganzen Menschen- und Schriftstellerlebens aussehen? In Greenes frühem Romanthriller Jagd im Nebel (im Original The Confidential Agent) findet sich der Satz: »In einem glücklichen Menschenleben fiel die letzte endgültige Enttäuschung irgendwie mit dem Tod zusammen.« Müssen wir uns den in allerlei Komplexe und Defekte verstrickten Greene demnach doch als glücklichen Menschen vorstellen, der erst zuallerletzt im Spiegel ein reichlich verlogenes Genie entdeckte? Banale, müßige, unsinnige Spekulation. Er hat, das ist nicht wenig, mit seinen Büchern Menschen in aller Welt glücklich gemacht, das heißt ihnen – wider Willen oder mit voller Absicht, who cares – jenes tragische Glück beschert, das Albert Camus ein wissendes nannte, ein Bewusstsein unserer Leidenschaften, Anstrengungen und Fehlbarkeiten, zuletzt auch unserer Endlichkeit. Um es ein wenig salopper zu formulieren: Sir, wahrscheinlich taten wir gut daran, Ihnen nicht von zwölf bis Mittag zu trauen, und dennoch – wir haben uns bei keiner Ihrer Zeilen gelangweilt.

 

Graham Greenes Werk erscheint in deutscher Übersetzung im Zsolnay Verlag sowie bei dtv. – Bei dtv ist eine neue, wenn auch leicht hagiographisch getönte Biografie von Ulrich Greiwe über den englischen Schriftsteller erschienen.