Balduin Winter

Russlands neue OPEC?

 

 

Vermutlich unbeabsichtigt ist den ehrwürdigen Machern der FAZ eine subtile Dialektik gelungen: Am 17.5. wurde die Bushpredigt des iranischen Präsidenten dokumentiert; umseitig befand sich ein Inserat der »Geiz-ist-geil«-Metro Group, eine große Schar von Matrioschka-Puppen, glubschäugig auf ihre Bekehrung durch Saturn und Media-Markt wartend. Darüber die Textzeile: »Russland wächst / und wächst und wächst. Wir sind dabei.«.

Dabei sein möchten in Putins Reich viele, doch wird es ihnen immer schwerer gemacht. »Russland wächst« ? jedenfalls in einem Wirtschaftssektor, auf den nicht nur Europa, nicht nur der Westen, begehrlich blickt. Umgekehrt sieht die russische Führung im Energiereichtum eine große nationale Chance, wie Frank Umbach ihre »Renationalisierungsbestrebungen« beurteilt, die den persönlichen Stempel Vladimir Putins tragen: »Bereits in seiner Dissertation von 1997 und in einem Artikel von 1999 hat Putin sein Verständnis des russischen Ressourcensektors für Staat und Außenpolitik erkennen lassen. Er ? der den Zerfall der UdSSR als ?größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts? bezeichnet hat ? sieht diesen ?strategischen Sektor? nicht nur als Schlüssel für die wirtschaftliche Wiedergeburt, sondern primär als Instrument des geopolitischen Wiederaufstiegs Russlands als energiepolitische Supermacht der Zukunft.« (IP 2/06)

Die Zukunft liegt in Sibirien. Igor Tomberg vom Institut für Wirtschaft an der Russischen Akademie der Wissenschaften umreißt das Land der ungeahnten Möglichkeiten: »In Sibirien werden knapp 90 Prozent des gesamten russischen Erdgases, 70 Prozent des Erdöls und der Kohle gewonnen. ? Auf Ostsibirien entfallen etwa 14 Prozent der russischen Ölvorräte (ca. zehn Milliarden Tonnen sicher gewinnbarer Reserven). Der russische Schelf, insbesondere in der Arktis, ist einmalig reich an Erdgas. Dort liegen circa 30 Prozent der gesamten Gasreserven des Landes. Etwa 20 Prozent (über 40 Billionen Kubikmeter) entfallen auf Ostsibirien, Jakutien und Sachalin.« (RIA Novosti, 7.1.06)

Allerdings stellt er auch fest: » Manche Analytiker sehen in der jetzigen Situation in Ostsibirien und im Fernen Osten die größte innere Gefahr für das Land und dessen territoriale Integrität. Seit dem Zerfall der Sowjetunion stecken diese Regionen in einer tiefen Krise.« Erschreckend ist die soziale Situation in vielen Regionen (Kriminalität, Alkoholismus, Suizid) und die Deklassierung der indigenen Bevölkerung in Regionen der Rohstoffgewinnung. Die Bevölkerung ist stark geschrumpft, die Einwohnerzahl von Sachalin ist seit 1989 sogar um 25 Prozent gesunken. Zugleich hat Sibirien ein enormes Migrationsproblem, vor allem aus China: »Das russische Innenministerium spricht von 400000 bis 700000, die Zeitungen des Landes nennen Zahlen, die von drei bis zu zwölf Millionen reichen, wobei sie sich stets auf ?kompetente Quellen? beziehen. Die Hälfte dieser Zuwanderer, so heißt es, lebt illegal im Lande.« (zeit-fragen.ch, Nr. 12, 20.3.06)

Russland ist ein »Ressourcenstaat« geworden, Öl und Gas machen über 20 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes aus, seine Rohstoffexporte haben am Gesamtexport einen Anteil von rund 60 Prozent (Angaben nach Roland Götz: »Russlands Ressourcen: Auswirkungen auf die inneren Verhältnisse und die Außenbeziehungen«, Diskussionspapier der SWP, März 2006). Allein schon die Ermittlung dieser Zahlen bereitet große Probleme, da das staatliche Statistikamt Goskomstat Rossij offensichtlich sowjetische Traditionen statistischer Unschärferelationen pflegt, wie Masaaki Kuboniwa, Shinichiro Tabata und Nataliya Ustinova in der Eurasian Geography and Economics (1/05) nachweisen (»How Large is the Oil and Gas Sector of Russia? A Research Report«). Dass es auch insgesamt als Marktwirtschaft nicht so funktioniert, geht aus einem anderen Bericht hervor: Das Moskauer Institute for the Economy in Transition veröffentlichte unter der Federführung des wirtschaftsliberalen Jegor Gaidar und einer Riege namhafter Ökonomen pragmatischer Oppositioneller die Jahresanalyse der russischen Wirtschaft: »Russian Economy In 2005. Trends and Outlooks« (3/2006, ). Vladimir Mau vom Working Centre for Economic Reform of the Russian Federal Government stellt fest, dass Russland »in der Bewertung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit von der 114. auf die 112. Position ?aufrückte? (das Niveau von Indonesien und Kamerun); in der internationalen Bewertung von Transparenz und Korruption fiel es von der 90. auf die 126. Position zurück in eine Gruppe, die von Niger, Albanien und Sierra Leone gebildet wird«. Bei den Auslandsinvestitionen wird eine »konservative Haltung« registriert, trotz der günstigen Lage seien Direktinvestitionen relativ niedrig, China sei noch höher bewertet. Kritisch beurteilt wird das Wirtschaftswachstum wegen seiner »Abhängigkeit von Öl und Energie«, gefordert werden »strukturelle Verschiebungen«, »Diversifikation«, »beschleunigte Förderung der postindustriellen Sektoren«, kritisiert werden »Formen einer ?Mobilisierungswirtschaft? der sowjetischen Art«. Allerdings versandet die Kritik in ökonomistischen Erwägungen, wenn die Autoren die Maßnahmen der Regierung auf marktliberale Verträglichkeit hin durchhecheln und schließlich Wege zu unterschiedlichen Formen von Marktwirtschaft (Mexiko, Polen, Venezuela) diskutieren. Gaidar will sich wohl gegenüber Putin als der bessere Wirtschaftsexperte profilieren.

Dagegen spricht Lilija ?evcova vom unabhängigen Moskauer Carnegie Center (»idealistische Opposition«) unter Berufung auf Putins Ex-Berater Andrej Illarionov davon, dass Russland beim »Versuch gescheitert ist, die russländische Wirtschaft zu diversifizieren« (Osteuropa, 3/06). Im Steigen sind, so Illarionov in Argumenty i fakty (14.12.05) die Energiepreise und -gewinne, die Investitionen des Staates in staatlich kontrollierte Betriebe, der Kapitalabfluss in den Westen und die Inflation; die marktwirtschaftlichen Daten seien jedoch rückläufig, da die Regierung eine »Absage an den Markt« erklärt habe. Eine Reihe von Regierungsmaßnahmen im vorgeblich nationalen Interesse »deformiert die Arbeit der Wirtschaft«, er fragt polemisch, ob Russland »saudiarabisiert« werden solle. An anderer Stelle spricht er von der »venezolanischen Krankheit«. ?evcova fasst Illarionovs Ausführungen in der Formel »Apparatschik-Kapitalismus« zusammen. Angesichts der politischen Lage sieht sie die Gefahr einer Entwicklung zum »Petrostaat«: »Freilich werden nicht alle rohstoffreichen Länder zu Petrostaaten. Die USA, Kanada, Großbritannien und Norwegen haben es geschafft, dies zu vermeiden. Doch dieser Herausforderung waren nur jene Länder gewachsen, die eine entwickelte Bürgerschaft und eine verantwortungsbewusste Führungsschicht besaßen.« Im Zentrum stehen bei ihr Gesellschaft und Politik, die ökonomischen Erfolge erleichtern es nur der politischen Führung, bestimmte Maßnahmen zu setzen, Verstaatlichungen, Investitionsprogramme, Befriedung der Bevölkerung durch Finanzierung von Sozialreformen und nicht zuletzt auch die notwendige ökonomische Power für die Yukos-Intervention zur Verhinderung der Übernahme durch ausländische Konzerne unter Umgehung aller rechtsstaatlichen Kriterien. Zugleich nutzt die Regierung auch, so ?evcova, ihre relativ starke Position aus, um institutionelle Parallelstrukturen aufzubauen, verstärkt die Medien zu kontrollieren, Legislative, Exekutive und Judikative staatlich anzubinden und die unabhängigen Kräfte der Zivilgesellschaft weiter zu schwächen. Im Ranking des World Economic Forum (117 Länder) fiel Russland 2005 bei »Unabhängigkeit der Justiz« vom 84. auf den 102. Rang zurück, bei »Schutz der Eigentumsrechte« vom 88. auf den 108. Rang.

Über Russlands politische Verhältnisse und sein leitendes Personal existieren unterschiedliche Meinungen. Ein Zusammenhang mit Interessen ist dabei zu vermuten. Wenn Gerhard Schröder seinen Freund Vladimir Putin einen putenreinen Demokraten nennt, ist das von geringer analytischer Schärfe. Ex-DDR-Botschafter Wolfgang Grabowski schlägt das Herz höher angesichts zunehmender Stärke Russlands unter Putin und einem von ihm ersehntes und gegen den »Hegemonisten USA« gerichtetes »Triangel« Russland, China und Indien ? nachdem Putin Rüstungshochtechnologie nach China und ein AKW nach Indien lieferte. Für Zbigniew Brzezinski hingegen ist Putin »Der Moskauer Mussolini« (The Wall Street Journal, 20.9.04), und Michail Chodorkowski wiederum hat in seiner Haft ein Manifest verfasst, in dem er die Regierung als »Putins Büroklatur« und den Präsidenten als »Schmarotzer« bezeichnet (russland.ru, 16.11.05). Der linke Experte Kai Ehlers hat beim Friedenspolitischen Ratschlag an der Uni Kassel Russland als ein »Entwicklungsland neuen Typs« und eine »gelenkte Demokratie« bezeichnet. In der Welt (24.4.) fordert Roger Köppel »Respekt für Russland«, »Putin hat einer auseinander krachenden Staatsruine Stabilität verschafft«. Im Rahmen des Council on Foreign Relations haben John Kerrys Mitstreiter John Edwards und Jack Kemp einen Report vorgelegt, »Russia?s Wrong Direction: What the United States Can and Should Do«, mit der Einschätzung, dass die »Entdemokratisierung« »in wenigen Jahren aus Russland einen autoritären Staat machen« werde. Die polnische Regierung sieht in Putins Russland eine außenpolitische Bedrohung; aufgrund der Erfahrung der russischen Machtpolitik im Gasstreit gegen die Ukraine wirbt sie ? bisher glücklos ? für einen europäischen Energiesicherheitsvertrag mit einer Beistandsklausel nach Art des Artikel 5 des NATO-Vertrags (militärische Beistandsklausel). Klaus-Dieter Frankenberger (FAZ, 29.4.) bemerkt in den USA eine zunehmende kritische Stimmung, die deutsche Regierung verortet er jedoch »am anderen Ende des Meinungsspektrums«. Sie wird gescholten, weil sie in Russland weiterhin einen »strategischen Partner« sieht. »Pragmatische Zusammenarbeit« ja, denn man braucht Russland als Energielieferanten. »Aber der Westen, also auch das mit Russland wirtschaftlich so eng verbundene Deutschland, darf Moskau zuliebe nicht seine politischen Grundprinzipien aufgeben.« Dies befürchtet auch Paul Gallis, Autor eines Berichts an den US-Kongress (Congressional Review Service, 21.3.). Er hält es für möglich, »dass Deutschland, auf russische Energieeinfuhren in zunehmendem Maße vertrauend, politisch von seinen EU-Partnern und von den Vereinigten Staaten abrückt«.

Ohne Zweifel hat sich der Kreml unter Putin bisher recht geschickt auf dem internationalen Parkett bewegt. Russland hat am 1. Januar die Präsidentschaft der G 8 übernommen und bereitet den Gipfel in St. Petersburg vor. Es hofft, trotz zahlreicher Defizite, nächstes Jahr in die WTO aufgenommen zu werden. Zahlreiche Kritiker bemängeln jedoch die einseitige Entwicklung der Volkswirtschaft und das Fehlen demokratischer Strukturen für die Modernisierung des Landes. Alexander Rahr von der DGAP befürchtet, Russland könne sich, vom Westen enttäuscht, abwenden: »Russland, Zentralasien und der Iran hätten rund zwei Drittel aller Gasreserven unter ihrer Kontrolle und könnten durchaus ein mächtiges Gaskartell begründen, das von seiner Bedeutung her der herkömmlichen OPEC, deren Mitgliedsstaaten 40 Prozent der Weltölreserven kontrollieren, gleichwertig wäre.« (Eurasisches Magazin, 2/06) Auch punkten die Russen in der Türkei wieder, seit sich deren Beziehungen zu den USA verschlechtert haben. »Turkey and Russia: Axis of the Excluded?«, fragen Fiona Hill und Omer Taspinar in Survival, vol. 48, no. 1 (spring 2006) und bezeichnen die Annäherung als »Zweckbündnis«, aus dem bei weiterer Passivität der USA mehr werden könne. Zugleich waren es gerade die Aktivitäten der USA in Mittelost und Zentralasien, die die Annäherung förderten. In diesem Raum ist auch die Haltung zum Iran eine andere, und daran orientiert sich auch Russlands Mittlerposition.

Von strategischer Bedeutung ist die Shanghai Organisation für Zusammenarbeit (SCO), die Rahr als »Vehikel einer neuen OPEC« bezeichnet: »Die SCO bündelt inzwischen die Interessen von vier regionalen Wirtschaftsbündnissen, die in den Neunzigerjahren gegründet wurden: Die Zentralasiatische Organisation für Zusammenarbeit, der Eurasische Rat für Wirtschaftliche Zusammenarbeit, die ECO (Economic Cooperation Organisation) ? eine von Pakistan, Iran und der Türkei mit zentralasiatischen Staaten gegründete Interessengemeinschaft ? sowie Teile der GUS könnten bald in der SCO vereint werden.«

Ein neuer globaler Akteur auf der weltpolitischen Bühne, dem, wie Rahr vermutet, im Konfliktfall »auch die Supermacht USA nicht viel entgegenzusetzen hätte«? Das sei dahingestellt. Jedenfalls richtet sich Russlands Blick verstärkt über Sibirien hinaus nach Asien, hin zu Regionen, wo Demokratie nicht so hoch im Kurs steht.

»Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur«, 3/2006