Herbert Hönigsberger

Kapitalismuskritik und Realpolitik

Für einen Prozess der nüchternen Selbstaufklärung*

 

 

KAPITALISMUS-DEBATTE
Der Kapitalismus erscheint unerhört erfolgreich und unerhört destruktiv. Doch die alte Diskussion über seine Natur erfährt trotz der neoliberalen Deutungshegemonie einen neuen kritischen Aufschwung. Wir dokumentieren zwei Vorträge einer Ringvorlesung an der Universität Cottbus: Herbert Hönigsberger nimmt die marxsche Kapitalismuskritik zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zum Verhältnis von Politik und Ökonomie. Angesichts der wirtschaftlichen Dynamik, die alle gesellschaftlichen Bereiche durchdrungen hat, stellt er die Frage nach der dominierenden Logik: die des Marktes oder die der Politik? Große Mühen bereitet es der Politik, in dieser Dynamik Autonomie zu bewahren. Große Versprechungen kann sie heute nicht halten. Umgekehrt ist ein Citoyen gefordert, der politische Möglichkeiten und Grenzen auslotet.
Auch für Ralf Fücks ist die kapitalistische Produktionsweise ein Prozess ständiger Veränderung, der seine oppositionellen Kräfte immer wieder in Kräfte zur eigenen Inspiration verwandelt. Er verweist auf den oft unterschätzten Zusammenhang von Eigentum, Selbstverantwortung und Freiheit, auf Demokratie und ihre Erweiterungschancen im Prozess der Globalisierung. Sein Leitbild lautet »grüner Kapitalismus«, Innovation einer ökologisch orientierten Marktwirtschaft.

Ohne Abschied von Illusionen und Utopien über die so genannte Marktwirtschaft und umgekehrt ohne Bezug auf Theorien über den Kapitalismus, ohne Rekurs auf das, was als kritische, aber auch selbstkritische Kapitalismusanalyse firmieren kann, ist Realpolitik heutzutage überhaupt nicht mehr denkbar und schon gar nicht machbar. Das gilt für nationalstaatliche Politik ebenso wie für internationale Institutionen. Sich ein halbwegs zutreffendes Bild von der zeitgenössischen Realität des Kapitalismus, besser von Gesellschaften mit kapitalistischer Produktionsweise ? wie Marx zutreffenderweise sagen würde und was im Folgenden mit Kapitalismus gemeint ist ? zu machen, ist auch ein zentrales Element einer Selbstbehauptungsstrategie, einer Überlebensstrategie der politischen Klasse und des Politischen überhaupt gegenüber einer aggressiv-dynamischen Ökonomie. Nicht alles, was dem theoretisch Interessierten an der aktuellen Kapitalismusdebatte relevant erscheint, gilt auch der Politik als wichtig. Doch finden Versatzstücke aus dieser Kapitalismusdebatte schleichend, bruchstückhaft und selektiv, aber eben doch mit einer gewissen Zwangsläufigkeit Eingang in die Denk- und Deutungsmuster der politischen Klasse. Wendet man die vor sich gehenden Selbstaufklärungsprozesse der politischen Klasse wie der Gesellschaft normativ, dann läuft es auf das Plädoyer für eine realpolitische staatsbürgerliche Gesinnung hinaus, für die Entwicklung der Mentalität eines abgeklärt aufgeklärten, das heißt auch eines desillusionierten Citoyens, für die Haltung eines modernen deutschen Republikaners und Demokraten ? und auf die Hoffnung auf Politiker, die diesen demokratisch gesonnenen Citoyen angemessen repräsentieren.

Wir sind Zeugen einer offenen Wissenschaftskontroverse über die Natur des Kapitalismus und wie er theoretisch und praktisch zu kritisieren ist. Wir führen eine offene politische Kontroverse, wie in den Kapitalismus politisch zu intervenieren ist. Das ist eine Open-End-Debatte, solange der Kapitalismus existiert. Und diese Wissenschaftskontroverse, die kontroverse Kapitalismuskritik, kann die Fluidität gesellschaftlicher Verhältnisse und die Flüchtigkeit ihrer Beschreibung nicht auflösen. Ja, sie erzeugt diese Flüssigkeit und Flüchtigkeit selbst und durchaus täglich mehr. Doch hat selbst eine kontroverse kritische Kapitalismusanalyse gegenüber dem Neoliberalismus schon auf den ersten Blick einen unschätzbaren Vorteil und unhintergehbaren Vorzug: Die Empirie, die gesellschaftliche Wirklichkeit. Man muss den Kapitalismus nicht schwarz malen ? es reicht, wenn man ihn malt, wie er ist. Die kritische Kapitalismusanalyse hat aber auch einen zweiten Vorzug: Ihre Generalthese, dass das ganze Elend des Kapitalismus, die fatalen Trends einfach den ureigensten Eigenschaften, den Strukturen dieses Systems des Privateigentums, der Konkurrenz, der Geldwirtschaft und ihren Widersprüchlichkeiten entspringt, hat ungleich höhere Plausibilität als die neoliberale Kernthese, es handle sich um ein an sich gesundes, reibungslos funktionierendes System, das von sich aus auf eine glänzende Zukunft hinsteuern würde, wenn man es sich nur hemmungslos entfalten ließe. Die These von widersprüchlichen Strukturen, von gesellschaftlichen Ambivalenzen und sozialen Paradoxien des Kapitalismus hat erheblich höhere Plausibilität als die Vorstellung, Fehlfunktionen seien ausschließlich die Folge des Fehlverhaltens egoistischer Besitzstandwahrer in den Gewerkschaften, von Leuten, die von Ökonomie keine Ahnung haben oder nichts für ihr Land tun wollen. Die strukturkritische These hat mehr für sich als die, Fehlschläge rührten vor allem von dummen Politikern her, von den Etatisten in den politischen Parteien oder gar von den allerbösesten Buben im Spiel, den 68ern.

Doch hat eine rationale Kapitalismuskritik als ein Projekt gesellschaftlicher Selbstaufklärung nur dann eine Chance, wenn es die Lehren aus dem Scheitern des marxschen Amalgams aus Kritik der politischen Ökonomie und hegelscher Geschichtsphilosophie zieht. Um Kapitalismuskritik und Kapitalismusanalyse zu einem mehrheitsfähigen Projekt gesellschaftlicher Selbstaufklärung zu machen, das die Chance auf ein neues Mainstream-Paradigma hat und an die Stelle des neoliberalen Paradigmas treten kann, sind mehrere Anforderungen an eine Theorie des Kapitalismus zu richten, die gegenüber Marx, dem unverzichtbaren Ahnherren der Kritik kapitalistischer Verhältnisse, mehrere Revisionen vornimmt, das heißt vor allem eine Reihe von theoretischen Abrüstungsschritten.

Erstens: Es ist die fatale Zukunftsgewissheit aufzugeben, die ? inspiriert durch die hegelianische Geschichtsphilosophie ? aus der Konzeption einer Abfolge von Gesellschaftsformationen auf immer höherer Stufe mit dem Endpunkt Kommunismus herrührt. Diese fatale Utopie ist durch ZukunftsUNgewissheit und offene, gestaltbare, aber auch zerstörbare Zukünfte zwischen Hoffnung und Barbarei zu ersetzen. Die Formel vom Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen (Elmar Altvater) resümiert die zeitgenössische Kapitalismusanalyse ebenso wie die Fehlschläge von Kapitalismusanalysen der verblichenen alten Arbeiterbewegung, der Sozialdemokratie ebenso wie der Komintern und der KPdSU oder der KP Chinas und der Jugoslawen. Diese Formel entkernt die Kapitalismusanalyse und die Kapitalismuskritik von der hegelianischen Geschichtsmythologie, verabschiedet diese quasi religiöse Geschichtszwangsläufigkeit, die fatale Stadientheorie vom Kapitalismus zum Sozialismus zum Kommunismus. Diese Konzeption einer krisenhaften, möglicherweise katastrophalen Zuspitzung kapitalistischer Verhältnisse hält danach auch einen Kapitalismus, wie wir ihn noch nicht kennen, als Variante parat. Und das ist ? nach allem, was wir gegenwärtig wissen können ? die wahrscheinlichere Variante. Wenn nicht auch in den klassischen kapitalistischen Ländern jene andere Perspektive droht, die in der Formel Sozialismus oder Barbarei enthalten ist.

Zweitens: Es wäre um die Relevanz der Kapitalismuskritik schlecht bestellt, wenn sie sich auf das theoretische Rüstzeug besonderer und bestimmter Interessen oder gar nur theoretische Leitlinie separater politischer Parteien oder einzelner sozialer Klassen reduzieren ließe. Entweder entfaltet sie sich als Projekt allgemeiner gesellschaftlicher Selbstaufklärung und wird damit auch hegemoniales Leitparadigma im wissenschaftlichen und im öffentlichen Diskurs ? oder sie bleibt einflusslos.

Drittens: Damit sie nicht einflusslos bleibt, sondern die Chance auf das hegemoniale Leitparadigma wahrt, besteht der Fortschritt in einem Rückzug, im Rückzug auf den rationalen Kern: Die Kritik der politischen Ökonomie und auf die schonungslose Entfaltung der Empirie kapitalistischer Verhältnisse. Die Lektüre der Grundrisse, des Kapitals, von Lohn-Preis und Profit oder Lohnarbeit und Kapital lohnt noch immer oder erneut. Es ist erstaunlich, welch prognostische Wucht das kommunistische Manifest, aber auch zahlreiche Passagen aus den Grundrissen oder den drei Bänden des Marxschen Kapitals auch heute noch entfalten. Das ist auch der Grund, warum amerikanische Ökonomieprofessoren ihre Studenten diese Passagen lesen lassen und amerikanische Business Schools, die die Banker trainieren, ihren Klienten damit das Gruseln lehren.

Der marxsche Begriff von Gesellschaften mit kapitalistischer Produktionsweise erscheint von vornherein differenzierter als der später geprägte Begriff des Kapitalismus. Von Gesellschaften mit kapitalistischer Produktionsweise anstatt vorschnell von Kapitalismus zu reden, ist keineswegs Begriffshuberei, sondern nachgerade essenziell. Denn damit werden Gesellschaft und Produktionsweise unterschieden, wird Gesellschaft entweder als Oberbegriff, die materielle Produktionsweise, die ökonomische Basis als gesellschaftliches Subsystem oder auch die Gesellschaft als etwas anderes gefasst, was der Ökonomie gegenübersteht. Jedenfalls fallen Gesellschaft und kapitalistische Produktionsweise nie in eins, sind nie identisch.

Glanz und Elend des Kapitalismus prallen global in einer Weise aufeinander, die das menschliche Fassungsvermögen durchaus zu sprengen droht. Der maßlose Glanz blendet und macht blind ? und das maßlose Elend ist nur aushaltbar, wenn man es ausblendet. Der Westen leuchtet unglaublich brillant ? und er hat unglaublich düstere und dunkle Seiten. Er zieht an und er stößt ab. Eine soziale Konfiguration dieser Art erscheint im Grund unglaublich und höchst unwahrscheinlich. Und doch bewegt man sich auf absehbare Zeit auf einer empirisch-analytisch und theoretisch wesentlich sichereren Seite, wenn man von allen Spekulationen über ihren Zusammenbruch und über eine Gesellschaft danach Abstand hält und dem Kapitalismus stattdessen krisenhafte Kontinuität und selbstzerstörerische Selbstreproduktion unterstellt.

Doch lässt sich die kapitalistische Produktionsweise auch heute noch wie zu allen Zeiten als ein ökonomisches System charakterisieren, das auf dem Privateigentum an Produktionsmitteln beruht und keinen anderen Zweck kennt als die Verwandlung von Geld in Kapital zwecks Geldvermehrung. Es bedient sich dabei der Warenproduktion mittels lohnabhängiger Arbeitskräfte und produziert deshalb gesellschaftlichen Reichtum als ungeheure Warenansammlung. Dieser Reichtum ist aber den in den Unternehmen gleichzeitig zusammengefassten wie voneinander separierten, produktionsmittellosen unmittelbaren Produzenten nur dann zugänglich, sofern sie über Geldmittel verfügen, die primär und überwiegend aus Lohnarbeit stammen. Am gesellschaftlichen Reichtum können sie nur teilhaben, sofern sie überhaupt Arbeit haben, ihre Arbeitskraft als Ware verkaufen können, was sie überhaupt erst dazu befähigt, als zahlungskräftige Nachfrager auf Gütermärkten aufzutreten. Marx hat den Zweck der kapitalistischen Produktionsweise mit der berühmten Formel G ? W ? G? beschrieben, das heißt Geld wird mittels Warenproduktion in mehr Geld verwandelt. Diese Formel enthält auch den Hinweis auf die eigentümliche Sondersituation der kapitalistischen Produktionsweise in der Menschheitsgeschichte. Die Herstellung von Gütern, von Lebensmitteln, ist nicht mehr eigentlicher Zweck oder Selbstzweck produktiver Tätigkeit, sondern Mittel zum Zweck. Der Zweck ist Geldvermehrung, Profit. Die produktive Auseinandersetzung der Menschen mit der Natur wird aus einem Zweck in ein Mittel verkehrt. Damit ist die kurze Geschichte des Kapitalismus gegenüber langen Epochen der Menschheitsentwicklung als verkehrte Welt gefasst.

Die untrennbare Folge und Kehrseite der banalen Verwandlung von Geld mittels Warenproduktion in mehr Geld, die ewige Erzeugung von mehr vom selben, die grundlegende quantitative Orientierung, ist die ultimate Gleichgültigkeit gegenüber jedweder Kultur, Geschichte, sozialen Beziehungen, der Nation, der Religion, der Familie, der Region, gegenüber allen lokalen Besonderheiten. Sie forciert jene nervtötende Ignoranz ebenso wie die aufgesetzte Zuwendung, aber letztendliche Beliebigkeit ökonomischer Akteure gegenüber jedweder Kultur und Geschichte. Kommt G? heraus: her damit. Wenn nicht: weg damit. Diese ultimate Gleichgültigkeit zeigt sich in der skrupellosen Adaption vorfindbarer gesellschaftlicher Verhältnisse, der Adaption an jeweilige gesellschaftliche Besonderheiten in den abwegigsten Weltgegenden ebenso wie in der skrupellosen Vernichtung all dieser Besonderheiten. Kultur, Geschichte, Moral, Menschen sind bloßer Stoff der Warenproduktion, ist dieser Stoff zäh, resistent und manifest, wird er inkorporiert und adaptiert, ist er zerbrechlich, erlahmt und hinderlich, wird er exkludiert, abgestoßen und zerstört. Die angeblich bunte Welt der vielfältigen Kapitalismen folgt aus der repetitiven Fantasielosigkeit von G ? W ? G?. Der Systemtrottel ist mal für die Emanzipation der Frau, mal dagegen, mal für Umwelttechnologien, mal dagegen, mal Patriot, mal Internationalist. Das Interesse an G? macht alle ökonomischen Akteure grundsätzlich zu Opportunisten. Für die Politik hat das fundamentale strategische wie taktische Folgen. Ökonomische Akteure, die sich ans Politisieren machen, sind strategisch grundsätzlich unzuverlässig, doch taktisch ungeheuer nützlich.

Diese Verhältnisse wurden und werden von Menschen gemacht. Aber sie wissen oft weder was sie tun und warum, noch wer was getan hat und warum. Ihre Milliarden und Abermilliarden einzelner, voneinander isolierter Tätigkeiten während der ganzen Menschheitsgeschichte türmen sich zu einem Gebirge von geschichtlichen Ereignissen, von Kultur und Tradition, von zementierten gesellschaftlichen Verhältnissen und verfestigten ökonomischen Strukturen auf. Und gleichzeitig sprengt die Dynamik der ökonomischen Konkurrenz, die sich pausenlos technisch-wissenschaftlicher Innovationen bedient, diese Verhältnisse immer wieder auf. Kehrt das Unterste zuoberst, entwertet Kultur und Tradition, zerstört vertraute soziale Zusammenhänge. Mehr Sinn, Zweck und Richtung als die Anhäufung von immer mehr Geld scheint diesem Prozess nicht inhärent. Die alte Hoffnung, der Prozess enthalte doch eine innere, versteckte, nur zu entschlüsselnde und freizuschaufelnde Logik, die über ihn hinaus- und auf etwas ganz anderes verweist, findet keine rechten Ansatzpunkte in der Wirklichkeit. Diese Verhältnisse muten so absurd an, erscheinen als so monströs abseitig, dass sie auf Dauer so nicht bleiben können. Aber sie liefern auch eine solche Vielfalt von Reizen, die Milliarden von Menschen an sie binden, dass sie weder einfach so verschwinden noch in gewaltsamen Auseinandersetzungen einfach zum Besseren gewendet werden können.

Es ist deshalb kein Wunder, dass die Gesellschaften mit kapitalistischer Produktionsweise eine Vielzahl von Verfahren und Institutionen brauchen, um der Probleme dieser um sich selbst rotierenden, blind und bewusstlos dahindonnernden Produktionsmaschinerie Herr zu werden, um sie einerseits am Laufen zu halten, und andererseits um zu verhindern, dass sie komplett aus dem Ruder läuft und kollabiert. Es erscheint zwangsläufig, dass diese Gesellschaften ? systemtheoretisch gesprochen ? eine Vielzahl von gesellschaftlichen Subsystemen ausdifferenziert haben, um sie überhaupt ertragen und aushalten zu können. Und um ihr immer wieder abzuringen, dass sie wenigstens als Nebenprodukt des Selbstzwecks der Geldvermehrung auch noch eine halbwegs anständige Güterversorgung zu Wege bringt.

Es ist deshalb also auch kein Wunder, dass dieses verquere ökonomische System den gesellschaftlichen Bedarf an Bürokratie, an Regulierung, an Intervention, an Staat also, aus sich heraus treibt und hervorbringt. Es ist diese wahnhafte, verkehrte Welt der Ökonomie, die die Gesellschaft zur Ausdifferenzierung eines eigenen besonderen Funktionsbereichs zwingt, zur Ausdifferenzierung des Staates und des Politischen eben. Die Ökonomie zwingt die Gesellschaft zum Staat, die Ökonomie zwingt den Staat zur Bürokratie und Bürokratisierung. Die zerrissene Ökonomie, in der einzelwirtschaftliche Rationalität immer jede übergreifende Logik in Frage stellt, zwingt zur Installation einer anderen Logik, einer Logik, die den Gesamtzusammenhang wahrt. Diese konfuse, widersprüchliche Ökonomie kreiert selbst immer ständig den Bedarf an einer ihr selbst fremden und entgegengesetzten Logik, den Bedarf an einer Logik, die ihrer eigenen widersprechen muss. Denn diese Ökonomie bedarf dieser völlig anderen politischen Logik, damit sie nicht an den eigenen inneren Widersprüchen zerbricht, an einer gnadenlosen Konkurrenz und ihren Folgen, an Ausbeutung und an Naturzerstörung.

Das Wuchern der staatlichen Bürokratie ist nur das Spiegelbild dieser in alle Poren der Gesellschaft hineinwuchernden Ökonomie. Eine sich ausdifferenzierende Gesellschaft erzeugt ein ausuferndes Kontrollbedürfnis, ein wachsendes Bedürfnis der gesellschaftlichen Akteure, sich gegenseitig an die Einhaltung von Normen zu erinnern. Wachsende Normierung erzeugt unter Konkurrenzdruck immer mehr Normverstöße, immer mehr Normverstoß erzeugt immer mehr Normierungsbedarf. Die paradoxe Grundkonstellation kann man am Fall der Fleischindustrie und des Ekelfleisches exemplarisch rekonstruieren. Sie verlangt wie jeder anderer Industriezweig nach Deregulierung. Und treibt durch ihr abstoßendes Geschäftsgebaren die Forderung nach mehr Normierung und Kontrolle nur umso mehr hervor. Diese Konstellation ? wie zahllose vergleichbare andere auch ? lässt die beschränkte Sinnhaftigkeit diverser Forderungen nach Deregulierung erkennen. In Wahrheit zwingt die kapitalistische Ökonomie die Politik in einen pausenlosen Prozess, in eine Endlosschleife von permanenter Reregulierung.

Staat und Politik können diesen existenzsichernden Beitrag für die Ökonomie nur mehr als separate, eigenständige gesellschaftliche Funktionsbereiche liefern. Und gleichzeitig ist diese eigenständige Sphäre mit ? bildhaft gesprochen ? tausend Fäden nicht nur an die Funktionsweise, sondern auch an die Funktionstüchtigkeit der Ökonomie gebunden. Ohne funktionstüchtige Ökonomie kein funktionsfähiger Staat ? ohne funktionsfähigen Staat keine funktionstüchtige Ökonomie. In einem endlosen Wechselspiel wird die Funktionstüchtigkeit der einen Sphäre jeweils zur Voraussetzung der Funktionstüchtigkeit der anderen. Es ist für den Moment egal, ob man dieses Verhältnis zwischen Staat, Politik einerseits, Ökonomie andererseits als Basis und Überbau fasst oder ob man systemtheoretisch von funktionaler Differenzierung ausgeht, wenn man nur diesen historisch-genetischen Zusammenhang, die unauflösliche, strukturelle Koppelung zwischen Politik und Ökonomie begreift. Im Konkreten kann man sie exemplarisch an der Logik des Steuersystems nachzeichnen. Wer über katastrophale Politik redet, muss umgekehrt über katastrophale Ökonomie reden.

Die Paradoxien der Ökonomie und die Paradoxien des Verhältnisses zwischen Ökonomie und Politik in den modernen Gesellschaften mit kapitalistischer Produktionsweise spitzen sich an einem realen Gegensatz, an einem wirklichen Widerspruch zu, der schon immer im öffentlichen Bewusstsein existiert hat, aber der eher als abgeleitetes Phänomen gedeutet wurde. Es ist der Gegensatz zwischen Markt und Staat, der Gegensatz zwischen ökonomischer und politischer Sphäre. Dieser Gegensatz drängt sich immer mehr in den Vordergrund der geistigen, der politisch-ideologischen Auseinandersetzung. Er ist auch der Kern des Gegensatzes zwischen Neoliberalismus und kritischer Kapitalismusanalyse. Dieser Gegensatz ist der fundamentale Antagonismus, auf den sich alle gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zuspitzen, sofern sie in den öffentlichen, politischen Raum getragen werden. Es ist dabei gleichgültig, ob und wie wir analytisch von einer Klassengesellschaft oder einer moderater stratifizierten Gesellschaft ausgehen, welchen Theorien der Klassenspaltung oder der sozialen Schichtung wir anhängen. Sobald aus den sozialen Spaltungen der Gesellschaft soziale Gegensätze erwachsen, die offen vorgetragen auf die politische Ebene gehoben und auf der politischen Bühne ausgefochten werden, spitzen sich diese Konflikte immer auf den Gegensatz zwischen Marktsteuerung oder Staatsintervention zu. Ob Kopfprämie oder Steuerfinanzierung, Privatisierung oder öffentliche Dienstleistungen, Selbstverpflichtung oder staatliche Kontrolle ? immer laufen die politischen Gegensätze auf diesen Gegensatz zu. Dominiert die Logik der Ökonomie, die Logik des Marktes, beherrscht die geldvermittelte anonyme Logik von zahlungsfähiger Nachfrage und profitablen Angeboten die gesellschaftliche Entwicklung, oder dominiert die Logik der Politik, die Logik der bewussten, transparenten, öffentlichen Aushandlungsprozesse und Mehrheitsentscheidungen gleicher Staatsbürger. Das Markt-Staat-Verhältnis ist der zentrale Antagonismus der Epoche. Dieser Antagonismus beschäftigt auch die politische Klasse. Er ist ihr Hauptgegenstand, an ihm arbeitet sich die politische Klasse ab, egal welcher politischen Partei sie sich zurechnet. Er bestimmt ihr Denken und ihre gesellschaftlichen Deutungsmuster maßgeblich, gleichgültig in welch verkehrter und verquerer oder wie auch immer ideologisierter Form er wiederkehrt.

Damit wird auch deutlich, warum es Sinn macht, von politischer Klasse zu sprechen. Denn diese kleine, aber durchaus noch potente soziale Klasse hat eine einzigartige und in keine andere auflösbare Stellung im gesellschaftlichen Reproduktionsprozess. Ihr wird eine spezifische und von anderen unterscheidbare Funktion zugeschrieben, und sie schlägt sich mit ein und denselben Problemen herum. Deshalb sind die parteipolitischen Fragmentierung und die ideologische Aufsplitterung der politischen Klasse nur in zweiter Linie und erst nachrangig von Interesse. Und jetzt wird auch deutlich, dass man über Politik und Politiker anders reden muss, als es die Populisten an Stammtischen, in den Medien und in manchen Parteien tun. Wenn man von der Realität des Kapitalismus und der Gesellschaft ausgeht, die ohne politische Intervention kaum zusammenhält, muss ein vollständig anderes Bild der politischen Klasse entstehen.

Für marxistisch inspirierte Klassentheoretiker ist noch ein weiteres Phänomen von Interesse, das zur Erklärung spezifisch deutscher Konfliktlagen beitragen kann. Die Art und Weise nämlich, wie der Kapitalismus seine Hauptklasse, die Bourgeoisie, transformiert. Der Kapitalismus entfaltet nicht nur die Produktivkräfte, wälzt dabei alle Verhältnisse um, in denen produziert, in denen gesellschaftliche Arbeit verrichtet wird. Er transformiert nicht nur vor aller Augen soziale Zusammenhänge und auch die Arbeiterklasse, die Marx noch aufgrund ihrer Zahl, ihrer Unverbrauchtheit und ihrer Stellung im Produktionsprozess für ein revolutionäres Subjekt halten konnte. Er transformiert natürlich auch die bürgerliche Klasse. Diesen Prozess kann man als Transformation der bürgerlichen Klassen aus nationalen Klassen, aus nationalen Bourgeoisien, aus Hauptklassen von Nationen, aus Trägern von Nationalstaaten und Nationalbewusstsein in eine transnationale, tendenziell global operierende Klasse, in eine kosmopolitische Bourgeoisie beschreiben. Das entspricht der globalen Kapitalbewegung. Das ist ein allgemeiner Prozess, der in Deutschland allerdings besonders weit fortgeschritten zu sein scheint. Zwei Gründe sind dafür maßgeblich. Der eine ist allgemeiner, historischer Natur. Nationale Bindungen sind in Deutschland aufgrund der historischen Desavouierung und Delegitimation des Nationalen besonders schwach oder besonders fragil. Der andere Grund ist die hohe Exportabhängigkeit und internationale Orientierung der deutschen Wirtschaft. Kaum eine andere Ökonomie ist in so hohem Maße international verflochten. Kaum eine andere Bourgeoisie operiert auf so vielen internationalen Märkten. Kaum eine andere Bourgeoise verliert deshalb so sehr den Kontakt zur eigenen Nation oder ist so sehr selbst Exekutor der Auflösung nationaler Bindungen. Ihr mentales Pendant ist die kosmopolitische Bürokratie in den europäischen und internationalen Institutionen. Die Nation, sofern es sie überhaupt noch gibt, wird von anderen sozialen Klassen, von standortgebundenen, immobilen sozialen Klassen getragen ? und natürlich von der politischen Klasse, die sich insbesondere auch auf diese standortgebundenen sozialen Klassen bezieht und die im nationalstaatlichen Rahmen operiert. Es erscheint logisch und zwingend, dass einer zunehmend entnationalisierten bürgerlichen Klasse das Land und seine Bürger zunehmend nur noch als Standortfaktoren erscheinen, zu denen kaum noch Bindungen bestehen, es sei denn, sie sind ökonomisch nützlich. Die Identitäten zwischen nationaler politischer Klasse und internationaler Bourgeoisie deutscher Herkunft und Staatsangehörigkeit lockern sich, ja lösen sich auf. Patriotismus ist von dieser transnationalen bürgerlichen Klasse nicht zu erwarten, patriotische Appelle zielen gegenüber diesen vaterlandslosen Gesellen daneben. Doch ist dieser Prozess von hintersinniger Dialektik. Man könnte es durchaus auch als geschichtlichen Fortschritt deuten, dass sich die Interessen der zunehmend transnational optierenden deutschen bürgerlichen Klasse und des deutschen Nationalstaates voneinander lösen, sich jedenfalls nicht mehr zu einem eigenen imperialistischen Projekt integrieren lassen, sondern sich vielmehr in eine zumindest widersprüchliche europäische Perspektive einfügen müssen.

Das grundlegende Drama der Politik ist die undurchsichtige Komplexität von Verhältnissen, die unauflösliche Abhängigkeit von den Entscheidungen anderer, insbesondere von den Entscheidungen ökonomischer Akteure, das Gefühl, ständig in unbekannte Gewässer geworfen zu werden. Das Weltdrama nimmt aus der subjektiven Sicht der Politik zunehmend den Charakter eines schwer beherrschbaren Naturereignisses an: unbegreiflich, katastrophisch, ständig brechen neue Ereignisse herein, wie Naturgewalten. Das überfordert, das führt zu psychischer Überlast, das macht Angst. Und diesen Verhältnissen stehen Politiker, steht die Politik mit einem begrenzten Instrumentarium gegenüber, mit dem Mittel von Aushandlungsprozessen, der Rechtssetzung, Geboten, Verboten, Steuern einnehmen, Steuermittel ausgeben. Viel mehr ist es nicht. Verbieten, gebieten, Geld kassieren, mit Geld anreizen und über all das verhandeln. Der Handlungsspielraum der Politik wird instrumentell definiert und determiniert, nicht ethisch, moralisch oder durch kontroverse Zukunftserwartungen und Hoffnungen. Nicht was sie wollen, ist für die praktische Performance der Politiker maßgeblich, sondern was sie können. Letztlich und schlussendlich ist der Handlungsrahmen der Politik durch die verfügbaren Instrumente begrenzt. Und die politischen Instrumente entwickeln sich längst nicht so dynamisch wie die Innovationen im Sektor der technischen Instrumente des Produktionsprozesses. Quantensprünge, wie sie im Produktionsprozess zu beobachten sind mit Automatisierung und Robotisierung, sind bei der politischen Instrumentenentwicklung nicht zu beobachten. Der instrumentelle Überbau ist eher zäh. Das Problem ist also nicht, dass Politiker scheitern und dass Politik unter diesen Umständen scheitert. Das ist der wahrscheinlichere Fall, fast der Normalfall. Zum Problem werden politische Fehlschläge, wird politisches Scheitern erst wirklich, wenn Politiker uns und sich etwas über die begrenzte Reichweite ihres Instrumentariums vormachen. Dass sie sich und uns etwas über die Natur und den Charakter des Gesellschaftssystems vormachen, in das sie politisch intervenieren müssen.

Nach all dem kann man auch eine Vorstellung entwickeln, was Realpolitik in Gesellschaften mit kapitalistischer Produktionsweise ist und woran man Realpolitiker erkennt. Politiker, die sich auf Kapitalismusanalyse einlassen, sichern sich einen gewissen kognitiven Vorteil. Sie verklären den Kapitalismus nicht zur Marktwirtschaft, sie verbreiten weder Illusionen über die Segnungen des Kapitalismus noch fördern sie utopische Erwartungen an die Politik. Realpolitiker wissen und geben zu erkennen, dass Gesellschaft, die Ökonomie zumal, nicht oder nur schwer und sektoral steuerbar ist, dass der instrumentelle Rahmen begrenzt ist, sie wissen, dass Aspekte der Wirklichkeit, die die Politik übersieht oder vernachlässigt, als nicht-intendierte Effekte des politischen Handelns wiederkehren. Sie reden nicht von Problemlösungen, sondern wissen darum, dass Probleme oft nur verdrängt, moderiert und allenfalls in eine erträgliche Bewegungsform gebracht werden können. Den aufgeklärten, den rationalen, den Realpolitiker erkennt man vor allem an Skepsis, an Selbstzweifeln, an vorsichtigen Formulierungen. Realpolitiker unterliegen weder der Suggestion des Machtzipfels, den sie in Ministerien oder im Parlament erhaschen, noch versteigen sie sich in Gestaltungsillusionen und Steuerungsutopien, noch kaschieren sie ihre Kapitulation vor den realen Schwierigkeiten der Politik mit Zynismen. Sie wissen einfach, dass es nicht nur gewaltiger politischer und gesellschaftlicher Anstrengungen, sondern auch einiger glücklicher Fügungen bedarf, damit eine funktionierende soziale Ordnung, gesellschaftlicher Zusammenhalt, so etwas wie für alle erträgliche Lebensumstände gelingen und dabei gar etwas Glück abfällt. Und dass diese Zustände ständig bedroht sind, dass ohne massive gesellschaftliche Intervention nichts bleibt, wie es ist, und schon gar nicht wird, wie es sein sollte. Man kann es also sogar zuspitzen: Nur wer zumindest in Grundzügen etwas vom Kapitalismus versteht, kann überhaupt Realpolitiker sein. Und nur wer weiß, auf welchem schmalen Grat er oder sie sich im politischen Terrain vorantastet.

Warum überziehen Politiker die Öffentlichkeit dann immer noch und immer wieder mit teilweise fantastischen Versprechungen und Verheißungen, die kaum noch jemand zu glauben vermag? Warum versprechen sie nach wie vor ungebrochen Wachstum, Arbeitsplätze, Fortschritt, Wohlstand, die Lösung aller möglichen Probleme in der Zukunft und von allem mehr, wenn man sie nur ließe, wie sie wollen? Woher kommt diese merkwürdige Unkultur des politischen Utopismus und der Illusionsmacherei in der Selbstpräsentation der politischen Parteien? Das hat mit der besonderen strukturellen Koppelung von Politik und medialer Öffentlichkeit, von Politik und gesellschaftlichen Erwartungen zu tun. Die Medien tragen für die gesellschaftliche Selbsttäuschung über Natur und Charakter der Ökonomie und die Selbsttäuschung über Rolle und Leistungsfähigkeit von Politik maßgebliche Verantwortung. Doch jeder einzelne Bürger trägt auch selbst Verantwortung für seine eigene Selbsttäuschung über die kapitalistische Produktionsweise und übersteigerte Erwartungen an die Politik. Denn es gibt zu viele junge Journalisten und zu viele alte Bürger, die nicht hören wollen, was ihnen die Realpolitiker zumuten. Doch liegt es vor allem in der Logik der Sache und der Natur der Dinge, dass eine wachsende Zahl von Menschen, die im ökonomischen Prozess verlieren, die an den Rand gedrängt werden oder sich fürchten, aus dem ökonomischen Prozess herausgestoßen zu werden, sich von Staat und Politik zumindest Beiträge zur Lösung ihrer Probleme erhoffen. Sie tun dies ? ohne Frage ? mit einer gewissen, nicht bestreitbaren Berechtigung. Denn dazu ist der Staat da, dazu ist er gemacht worden, deshalb gibt es ihn. Wo Erwartungen sind, können auch falsche Erwartungen sein. Das ist in der Funktion der Politik und des Staates angelegt. Aber die Übersteigerung der Erwartungen, die systematische und dauerhafte Überziehung dessen, was Politik wirklich kann, folgt vor allem aus der Konkurrenz der politischen Akteure, aus der Parteienkonkurrenz, aus Wahlkämpfen. Sie folgt aus der ungehemmt-hemmungslosen Selbstpräsentation der hoch konkurrenten politischen Klasse. Sie folgt damit paradoxerweise aus einem Kernelement der Demokratie, dem freien politischen Wettbewerb. Er trägt Elemente der Zersetzung in die Demokratie.

Doch kommt ein weiteres Konkurrenzphänomen hinzu, erschwert eine innergesellschaftliche Form der Systemkonkurrenz das politische Geschäft zunehmend. Längst steht die nationale politische Klasse mit internationalen ökonomischen Akteuren, mit einem wachsenden Heer von Journalisten und Publizisten in diversen Medien und den Protagonisten des globalen Wissenschaftssystems in einem scharfen Konkurrenzkampf um Ansehen und Prestige, um Sinnstiftung, Sinngebung und die Hoheit bei der Weltdeutung. Politiker konkurrieren mit Unternehmern und Wissenschaftlern öffentlich um Richtung und Inhalt des sozialen Wandelns, um den Einsatz der politischen Steuerungsinstrumente. Alle gesellschaftlichen Subsysteme respektive die Akteure in den verschiedenen gesellschaftlichen Funktionsbereichen scheinen sich genötigt zu sehen, Relevanz und Reichweite ihres Funktionszusammenhangs in Richtung auf eine Art Allzuständigkeit auszudehnen, um ihre Existenz zu legitimieren und zu sichern. Die politische Klasse hat in dieser neuen innergesellschaftlichen Systemkonkurrenz um Allzuständigkeit jedenfalls die Hegemonie verloren und sieht sich eher genötigt, den Primat der Politik zu rekonstituieren. Gleichzeitig überdehnt die politische Klasse mit ihren zwanghaften Ansprüchen, die verfassungsrechtliche Fiktion allzuständiger politischer Steuerung aufrechtzuerhalten, ihre realen Leistungspotenziale in einer Weise, die ihre Glaubwürdigkeit zunehmend selbst gefährdet.

Gibt es einen Ausweg aus den skizzierten Fallen, Dilemmata und Paradoxien? Ja und nein. Im Detail und einzelnen Sektoren gewiss. Im Großen und Ganzen wohl nicht. Allenfalls sind über begrenzte Zeiträume Phasen friktionsärmeren sozialen Wandels zu bewerkstelligen. Aber es ist eindeutig und an zahlreichen Indizien ablesbar, dass sich Gesellschaft wie Politik in einem Prozess der Selbstaufklärung befindet, der die skizzierten Dilemmata und Paradoxien in der einen oder anderen Form zum Gegenstand hat. Die große Koalition baut auf breiter Front und flächendeckend die Parteienkonkurrenz zurück und mindert damit auch deren schädliche Effekte für die Demokratie. Gleichzeitig zeigt sie sich an einigen Punkten stark genug, gegenüber Forderungen aus Unternehmerverbänden, der Wirtschaft und anderer Lobbyisten widerständig aufzutreten. Sie reanimiert die Vorstellung vom starken Staat, der ein angemessenes Budget braucht, das ihn handlungsfähig macht. Sie kann also ? eindeutig ist das noch nicht, aber sie bietet eine Chance ? zur Emanzipation der Politik gegenüber der Ökonomie beitragen. Zumindest für einen bestimmten Zeitraum erscheint die große Koalition als geeignetes Instrument im Rahmen eines Prozesses, in dem sich die Politik stärker gegenüber der Ökonomie zu behaupten versucht.

Bleibt die Frage, was all das für den Bürger heißt. Zuallererst: Mitwirkung am gesellschaftlichen Prozess der realpolitischen Selbstaufklärung. Das heißt Verzicht auf überspannte Erwartungen an die Politik ebenso wie auf übertriebene Hoffnungen. Das heißt Abstand nehmen von den ebenso populären wie leichtfertigen Verdächtigungen und Vorurteilen gegen die politische Klasse, die ihr nur Dummheit, Verrat, Betrug, Verlogenheit und Korruption unterstellen. Die Sache ist schwieriger und schlimmer zugleich. Die Politik reibt sich in widersprüchlichen und problematischen Strukturen auf. Sie arbeitet sich an Dilemmata ab. Man kann sich nicht gleichzeitig für einen guten Demokraten halten und die politische Klasse verachten. Im eigenen Interesse und als Staatsbürger sollte man sich ihr mit einem sachgerechten Verständnis und respektvoll, mit durchaus hohen, aber gleichwohl realistischen Ansprüchen nähern. Ohne funktionierende politische Institutionen und ohne qualifizierte politische Klasse mit Charakter wächst uns der Kapitalismus über den Kopf, lässt er sich nicht bändigen. Die Politiker kämpfen um die Stimmen der Bürger. Die Bürger müssen um Charakter und Standfestigkeit der Politiker kämpfen. Zum realpolitischen staatsbürgerlichen Verhalten gehört auch, sich in die öffentliche Auseinandersetzung um staatliche Leistungen, um die Grundrichtung der Politik und des Staatshandelns einzumischen ? und sich gleichwohl nicht allein auf die Ergebnisse dieser Auseinandersetzung zu verlassen. Jenseits sozialstaatlicher Grundsicherung und unabhängig von ihr bedarf eine Gesellschaft mit kapitalistischer Produktionsweise, bedarf jeder von uns privater Netze und der kleinteiligen Vergemeinschaftung als Unterbau und Fangnetz, wenn es in der Ökonomie knirscht, kriselt oder gar kracht. So, nur so und in diesem Zusammenhang, macht die Formel von der Eigenverantwortung Sinn ? in subversiv-autonomer Distanz zu Ökonomie und Staat. Und wer es historisch will, dem liefern die Daten 1789, 1848, 1918, 1948, 1968 und 1989 die Traditionslinien, in die sich Bürger wie Politiker zielstrebig-selektiv und bewusst wählerisch einfädeln und vor allem fortbewegen können. Diese Daten bürgerlich-revolutionärer und ehrenwerter republikanisch-demokratischer Vergangenheit liefern Bürgern wie Politikern gleichermaßen eine gewisse Richtschnur und Orientierungshilfe für Politisieren und Politikmachen unter kapitalistischen Verhältnissen. Damit ist auch angedeutet, dass sich dieses staatsbürgerliche Verhalten, diese Selbsterzeugung und -aufklärung als realpolitischer Bürger mit dem Existenz- und Überlebenskampf der politischen Klasse gegenüber einem globalen Kapitalismus am besten in einer demokratischen Republik, besser im Prozess der permanenten Neukonstituierung, man kann auch sagen im Kampf um eine demokratische Republik verbinden lässt. Die demokratische Republik jedenfalls scheint aktuell die staatlich-politische Form zu sein, die eine Gesellschaft mit kapitalistischer Produktionsweise halbwegs funktionstüchtig wie erträglich gestalten kann. Auch wenn die Bundesrepublik Deutschland der freieste und demokratischste Staat der deutschen Geschichte ist, sind wir bei der Gestaltung einer deutschen demokratischen Republik weder in der Kernsphäre demokratischer Prozeduren noch der sozialstaatlicher Sicherung am Ende. Im Gegenteil: Wir sind mitten drin.

* Der Artikel beruht auf einem Vortrag an der Universität Cottbus vom 24. Januar 2006.

»Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur«, 3/2006