Peter Lohauß

Finanzmarkt-Kapitalismus ? eine neue Stufe der Globalisierung?

 

 

Unser Autor gibt einen Überblick über die Funktionsweise von Investmentfonds und diskutiert die deutsche Variante des Kapitalismus im Vergleich zu angelsächsischen Ländern, um dann die konkreten Folgen des Finanzmarkt-Kapitalismus in Deutschland zu erörtern. Dabei zeigt sich, dass der soziale und demokratische Wohlfahrtsstaat im Vergleich mit angelsächsischen Ländern besonders starken Belastungen ausgesetzt ist. Und dass manche Bedrohung nicht aus einem neuen »Stadium des Kapitalismus« herrührt, sondern aus nationaler Politik.

Nicht erst seit der damalige SPD-Vorsitzende Müntefering die internationalen Investmentfonds als »Heuschrecken« titulierte, geht in Deutschland die Furcht vor einer neuen Variante des Kapitalismus um. Ausländische Kapitaleigner haben eine Reihe von deutschen Unternehmen aufgekauft und in bislang nicht gekannter rücksichtloser Weise Arbeitsplätze vernichtet, vormals gesunde Konzerne zerschlagen, Rücklagen aus den Unternehmen gezogen und diese bald darauf weiterverkauft. Prominenteste Beispiele sind die Deutsche Börse, bei der britische Hedge- und Investmentfonds als Minderheitsaktionäre die Übernahme der Londoner Börse vereitelten, den Rücktritt des Vorstands- und des Aufsichtsratsvorsitzenden erzwangen und die für die Übernahme gebildeten milliardenschweren Rücklagen an sich selbst ausschütteten, ferner die Zerschlagung des Armaturenherstellers Grohe durch den Finanzinvestor Texas Pacific Group oder auch die Übernahme von Mannesmann durch den britischen Konzern Vodafone, der derzeit selbst gerüchteweise das Opfer einer feindlichen Übernahme werden soll.

Haben wir es hier nur mit bedauerlichen Auswüchsen des Finanzkapitalmarktes zu tun oder ist der globale Kapitalismus in ein neues Stadium getreten, das in eine zerstörerische Krise des sozialen Wohlfahrtstaates oder gar der produktiven Grundlagen der kapitalistischen Produktionsweise führen wird? Im Folgenden wird eine Argumentation entfaltet, die sich an neuere wirtschaftssoziologische Forschungen zum Finanzmarkt-Kapitalismus anschließt.(1) In der Darstellung soll zwischen den global wirkenden Funktionsweisen des Finanzkapitals und der spezifischen deutschen Variante des Kapitalismus unterschieden werden.

Die Funktionsweise des Finanzmarkt-Kapitalismus

Schaut man auf die nüchternen Zahlen, tritt das Ausmaß der Veränderungen deutlich vor Augen: Das Vermögen der Investment-Fonds in den USA und Großbritannien war Anfang der Neunzigerjahre schon so groß wie das jeweilige Bruttosozialprodukt der Länder, im Jahr 2000 betrug es aber bereits mehr als das Doppelte. In Deutschland wuchs es in derselben Zeit von 35 auf 80 Prozent. Investmentfonds sammeln Vermögen von Geldanlegern ein und kaufen damit Aktien und Unternehmensanleihen oder gewähren Kredite. Der Anteil des Aktienvermögens am Gesamtvermögen ist zwischen 1990 und 2000 ebenfalls stark gestiegen, in den USA von 25 auf über 50 Prozent, in Deutschland von 9 auf 28 Prozent, in Großbritannien waren die ganze Zeit über sogar zwei Drittel der Vermögen in Aktien angelegt. Immer größere Vermögen sammeln sich bei immer mehr Vermögensbesitzern, die es immer häufiger in Fonds anlegen, die wiederum vermehrt Aktien kaufen. Auf diese Weise wurden die Investmentfonds im Laufe der Neunzigerjahre tatsächlich zu den wichtigsten Eigentümern der großen börsennotierten Konzerne. In den USA halten sie 60 Prozent der Aktien der 1000 größten Aktiengesellschaften.

Dabei sind die Fonds weit gestreut, ihr Markt ist sehr segmentiert. Sie stehen deshalb selbst unter einem extrem hohen Konkurrenzdruck untereinander und können nur in dem Maß wachsen, wie sie höhere Renditen als ihre Mitbewerber erzielen. Die Investmentfonds »geben den Konkurrenzdruck unmittelbar an die Unternehmen weiter, deren Aktien sie halten. Die Forderung nach einer Eigenkapital-Rendite von wenigstens 15 Prozent und die weitergehende Forderung, alle Unternehmensanteile zu verkaufen, die dieses Renditeziel nicht erreichen, findet hier eine Erklärung. Der ?shareholder-value? beschreibt nicht das ?rationale? Verhalten von Kleinaktionären, sondern die Strategien der Investmentfonds, die gezwungen sind, eine maximale Rendite von den Unternehmen zu fordern« (Windolf, S. 35).(2)

Die einzelnen Investmentfonds besitzen von jedem Unternehmen nur 2 bis 3 Prozent der Anteile. Sie bleiben also extrem liquide und verkaufen ihre Anteile im Durchschnitt bereits nach 16 Monaten wieder. Die hohe Umschlagsgeschwindigkeit führt dazu, dass die Eigentümer der großen Kapitalgesellschaften im Durchschnitt alle zwei Jahre ausgetauscht werden. Nur durch temporären Zusammenschluss sind die Fonds Mehrheitsaktionäre und können Unternehmen beherrschen.

Die Investmentfonds haben gegenüber dem langfristig gebundenen, auf risikoarmes Wachstum gerichteten Kapital allerdings gleichartige Interessen. Auf den Finanzmärkten werden Zahlungsversprechen gehandelt. Während sich auf den Gütermärkten die fertigen Produktionsprozesse nachträglich bewähren müssen, sind die Zahlungsversprechen zukunftsorientiert, es geht um die zukünftigen Erträge, die ein Unternehmen abwerfen wird. Wenn ein Investor Finanzkapital investiert, kapitalisiert er den erst noch zu erwirtschaftenden Ertrag des Unternehmens. Doch die Prognose des zukünftigen Ertrags ist mit allen Risiken der Zukunft behaftet. Die Preise auf den Finanzmärkten reagieren deshalb extrem anfällig auf alle Informationen, die auf die zukünftigen Gewinne wirken könnten (Veränderungen der Zinssätze, Streiks, Sozialgesetze, technologische Durchbrüche, Veränderungen der Energiepreise, terroristische Anschläge und, und, und ...). Sie verarbeiten eine Unmenge von Informationen im globalen Maßstab und können doch nicht die zukünftigen Wirkungen gegenwärtiger Ereignisse mit zureichender Genauigkeit abschätzen. Letztlich geht es aber »nur« darum, einzuschätzen, in welcher Weise die anderen Marktteilnehmer auf die Ereignisse reagieren werden. Die zyklisch wiederkehrende Über- oder Unterbewertung des Aktienmarktes ist somit keine irrationale Reaktion, die man durch eine rationale ersetzen könnte, sondern folgt der Logik der sich selbst verstärkenden Erwartungen.

Das schrankenlos flexible Finanzkapital muss über seine Anlagemöglichkeiten möglichst viele auch innerbetriebliche Informationen sammeln und einheitlich bewerten können. Hierzu wurde eine Vielzahl gesetzlicher Veröffentlichungspflichten geschaffen, wie Accounting-, Bilanzierungs- und Veröffentlichungsvorschriften für große Aktiengesellschaften, vierteljährliche Geschäftsberichte und Gewinnprognosen der Unternehmen, die alle sofort in den Strudel der Erwartungs-Erwartungen gezogen werden. Analysten und Rating-Agenturen suchen die ungeheure Flut von Informationen mit mehr oder weniger wissenschaftlichen Methoden zu erheben, zu sortieren und zu bewerten. Die Analysten reduzieren die Informationsflut auf eine Zahl, nämlich den Erwartungswert der zukünftigen Gewinne. Rating-Agenturen sind im Prinzip unabhängige private Unternehmen. »Das Urteil, das eine Rating-Agentur über ein Unternehmen fällt, enthält in komprimierter und standardisierter Form drei Typen von Informationen: Informationen über die ökonomische Effizienz (Rentabilität), über die Einhaltung ethischer Prinzipien (ehrbarer Kaufmann) und über die normativen Standards, die auf den Finanzmärkten als ?best practice? gelten. Der Begriff der ?Bonität?, in dem diese drei Urteile zusammengefasst sind, informiert aber nicht nur über die Vergangenheit des Unternehmens, sondern enthält auch eine Prognose über zukünftiges Verhalten. Die Reputation der Rating-Agentur hängt gerade auch davon ab, dass sie eine verminderte Zahlungsfähigkeit zuverlässig voraussagen kann« (Windolf, S. 45).

In der Vergangenheit begünstigte die Trennung von Eigentum und Kontrolle in den Aktiengesellschaften die »Herrschaft der Manager«. In Aktiengesellschaften mit Hunderttausenden von Kleinaktionären konnten die Kapitaleigner keine wirksame Kontrolle ausüben. Das Management konnte sich darauf beschränken, seinen Aktionären eine zufrieden stellende Dividende zu bieten und war relativ autonom in der Unternehmensführung. Nicht anders bei der Kontrolle der Unternehmen durch wenige Großaktionäre. Diese konnten ihren Einfluss weitgehend unabhängig vom Finanzmarkt ausüben, denn die Aktien dieser Unternehmen wurden kaum gehandelt.

Diese Verhältnisse haben sich in den Neunzigerjahren gründlich geändert. »Die Investmentfonds haben eine Konzentration des Eigentums und der Kontrolle erreicht, übernehmen aber nicht das Risiko, das mit ihren Investitionen (und mit ihren Interventionen in die Unternehmenspolitik) verbunden ist. Das Risiko bleibt weiterhin beim Publikum, d. h. bei denjenigen, die die Fondsanteile gekauft haben. Darin ist der innovative Charakter dieser Institution begründet. Investment-Fonds erreichen eine Konzentration der Kontrolle bei gleichzeitig breiter Streuung des Risikos. Investitions-Fonds sind Finanzmarkt-Akteure, die sich auf Eigentumsrechte berufen und daher kontinuierlich Einfluss auf die Unternehmen ausüben können, unabhängig davon, ob diese einen Kreditbedarf haben oder nicht. Sie haben die Eigentümer-Funktion professionalisiert und können Aktienfonds effizienter verwalten als Kleinaktionäre, die in der Regel Dilettanten sind« (Windolf, S. 40).

Die oft irrational erscheinenden Funktionsweisen der Finanzmärkte entspringen eher »eingebauten« Mechanismen als der Irrationalität der Marktteilnehmer. Die Konkurrenz der Investitionsfonds untereinander verlangt, dass sie möglichst hohe Renditen für die Zukunft versprechen, diese können sie aber nur um den Preis des höheren Risikos erreichen. Die höheren Risiken werden gegenüber den Kapitalgebern möglichst heruntergespielt. Es besteht zudem keine Garantie, dass die Fonds für ihr eingesammeltes Kapital auch die geeigneten Anlagen finden. Sie haben so systematisch die Tendenz, aus allen ihren Anlagen die höchstmögliche Rendite zu erwirtschaften. Da sie selbst völlig flexibel sind, können sie durchsetzen, dass alle Kapitalanlagen sich letztlich an den von den Finanzanlegern gewünschten Renditen ausrichten. Der Maßstab einer Eigenkapitalrendite von 15 Prozent auf das eingesetzte Kapital löst dann den früheren gemütlicheren Satz von vielleicht 5 Prozent Dividende ab.

Aber warum richten sich Unternehmen überhaupt an den Bedürfnissen des Finanzkapitals aus? Zu den Mitteln, die operative Logik der Finanzmärkte auf die internen Strukturen der Unternehmen zu übertragen, gehören feindliche Übernahmen, der Markt für Unternehmenskontrolle und Aktienoptionen. Feindliche Übernahmen sind möglich, wenn die Börsenkapitalisierung eines Unternehmens erheblich unterhalb des Unternehmens-Wertes liegt. In diesem Fall kann ein Finanzmarkt-Akteur versuchen, den bisherigen Aktionären einen höheren Kurs anzubieten und durch die Restrukturierung und den Verkauf von Unternehmensteilen hohe Renditen zu erzielen. Feindliche Übernahmen funktionieren bereits als virtuelle Bedrohung. Das Management eines börsennotierten Unternehmens weiß, dass es, wenn es dauerhaft gegen die Erwartungen des Finanzmarktes verstößt, mit einem niedrigen Börsenkurs abgestraft werden kann und damit ein Anlass für eine feindliche Übernahme gegeben ist ? die im Erfolgsfall zudem zur Entlassung des Managements führt. Feindliche Übernahmen markieren eine Grenze für die »Herrschaft der Manager«.

Auf dem Markt für Unternehmenskontrolle werden Unternehmen als Ganzes verkauft und gekauft. Auch ohne eine feindliche Übernahme kann ein Konzern eines seiner Einzelunternehmen verkaufen, wenn es die gesetzten Renditeziele nicht erreicht. Der Umbau der Konzerne und Unternehmen in selbstständige Teile mit eigenem Accounting als Profitcenter verfolgt auch das Ziel, eine wirksame Drohung gegen alle Teilbereiche entfalten zu können.

Die Interessen des Managements sind grundsätzlich eher langfristiger Art. Eine Angleichung an die eher kurzfristigen Interessen der Kapitaleigner kann durch die Vergabe von Aktienoptionen sehr befördert werden, nicht zuletzt wird die Höherbewertung des Aktienkurses des Unternehmens unmittelbar zur Bereicherungsmöglichkeit des Managements ? als Illustration kann hier das Beispiel von Mannesmann dienen.

In dem von ihm herausgegebenen Sammelband kommt P. Windolf zu dem Schluss, dass der Finanzmarkt-Kapitalismus eine weitere Stufe in der Evolution kapitalistischer Produktionsregime markiere. Die prinzipiell neue Konstellation sei darin zu sehen, dass die operatorische Logik der Aktienmärkte unmittelbar auf die Strategien und Kontrollstrukturen der Unternehmen einwirkt. Finanzmarkt-Kapitalismus bleibe zwar letztlich an die »Realökonomie« gebunden, aber die Schocks des Finanzmarktes werden sich immer direkter auf sie auswirken.

Ursachen und Folgen der Herausbildung des Finanzmarkt-Kapitalismus

Unter dem Phänomen Globalisierung sind weit mehr Entwicklungen gefasst als nur der Finanzmarkt-Kapitalismus. Wir beobachten in den letzten Jahrzehnten eine Liberalisierung und Internationalisierung der Märkte, die wieder anknüpft an die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Entgegen den pessimistischen Erwartungen der Globalisierungskritiker in den Siebzigerjahren, haben sich einige wenige Schwellenländer zu ernst zu nehmenden wirtschaftlichen Konkurrenten der Länder der ersten Welt entwickelt. Der Wettbewerb hat sich international verschärft. Flexible Produktions- und Beschäftigungssysteme sprengen nationale Grenzen, hinzu kommen die neuen grenzüberscheitenden Möglichkeiten der Informations- und Kommunikationstechnik. Der Anteil der Industrie sinkt gegenüber den Dienstleistungsbereichen, was nicht zuletzt einen starken Schub in den Qualifikationsanforderungen der Beschäftigten zur Folge hat. Die Länder treten in einen verstärkten Wettlauf um Qualifizierung und Produktivität. Der weltumspannende Finanzmarkt-Kapitalismus ist darin eingebettet, wird durch diese Tendenzen befördert und wirkt verstärkend auf sie zurück.

Die Hauptursache für die wachsende Bedeutung des Finanzmarkt-Kapitalismus entspringt ganz einfach aus der seit sechs Jahrzehnten anhaltenden positiven Wachstumsperiode der wichtigsten kapitalistischen Volkswirtschaften. Die Geldvermögen sind nahezu ins Uferlose gewachsen, in Deutschland beträgt es das Fünffache des Bruttosozialproduktes, allein seit der Wiedervereinigung hat sich das private Nettogeldvermögen verdoppelt. Gerade in Deutschland ist aber spürbar, dass sich ein Ungleichgewicht immer weiter aufbaut: Auf der einen Seite sind die Fonds sehr erfolgreich in der Einwerbung von Geldvermögen, auf der anderen Seite weiten sich die erforderlichen profitablen Investitionen und unternehmerischen Aktivitäten bei weitem nicht so schnell aus. Viele große Unternehmen, die das Rückgrat der deutschen Wirtschaft bilden, haben in den letzten Jahren Arbeitsplätze in Deutschland abgebaut und neue Arbeitsplätze nur noch im Ausland geschaffen ? zumindest aber haben sie mit der Androhung einer Verlagerung Lohnsenkungen und den Abbau von tariflichen Leistungen erzwungen. Während das Vermögen der deutschen Mittel- und Oberschichten anlagesuchend um den Globus zieht, steigt zu Hause die Arbeitslosigkeit. Die Wirtschaft in Deutschland steckt in einer anhaltenden Wachstumskrise, global sieht es allerdings anders aus: Der IWF prognostiziert im April 2006 das vierte Jahr mit einem globalen Wachstum von mehr als 4 Prozent, und damit den stärksten Aufschwung seit Jahren. Zurzeit fehlt noch die empirische Evidenz der global wachstumshemmenden Folgen des Finanzmarkt-Kapitalismus. Ganz offenbar zeitigt er nicht in allen Ländern die gleichen Folgen, weshalb nun zunächst die unterschiedlichen historischen Voraussetzungen betrachtet werden müssen.

Varianten des Kapitalismus

Nach dem Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung trat in den Neunzigerjahren keineswegs das »Ende der Geschichte« ein. Zwar dominierte nun die kapitalistische Wirtschaftsordnung global, aber es wurde jetzt erst der Blick frei für die Untersuchung der verschiedenen »Varianten des Kapitalismus«. Wirtschaftshistorische Untersuchungen gehen heute sogar von einer ausgeprägt pfadabhängigen, d. h. im Rahmen historischer Gegebenheiten vorgeprägten wirtschaftlichen Entwicklung aus.

»Offenbar ist das deutsche soziale System der Produktion in den meisten seiner Komponenten ? wie das amerikanische ? schon vor mehr als 100 Jahren entstanden und hat seitdem allen Herausforderungen getrotzt, die auf seine grundlegende Veränderung abzielten.«(3) Für Deutschland wird die grundlegende Herausbildung der »korporativen Marktwirtschaft« bereits für das Jahr 1879 konstatiert. »Seit dem ?Wendejahr? 1897 löste z. B. auf dem Gebiet der Ordnungspolitik das Prinzip der Kooperation das Prinzip der Konkurrenz ab, in der Wirtschaftpolitik staatliche Mobilisierung das laissez faire, in der Sozialpolitik korporative Selbstverwaltung die organisierte Selbsthilfe, in der Interessenpolitik Korporatismus (wenigstens tendenziell) den Parlamentarismus und in der Außenwirtschaftspolitik ein ?aufgeklärter? Protektionismus den manchesterliberalen Freihandel« (Abelshauser, S. 181). Die Interessen der Wirtschaft wurden in öffentlich-rechtlichen Kammern organisiert, die viele Fragen autonom unter sich regelten. Mit den Berufsgenossenschaften und der Selbstverwaltung der Sozialversicherungen wurden auch die Arbeitnehmer in den korporativen Interessenausgleich einbezogen, die berufliche Ausbildung wurde als duales System angelegt. 1897 legalisierte das Reichsgericht das Kartellwesen. »Vor die Wahl gestellt, den Weg der ?Vertrustung? zu gehen und ganze Wirtschaftszweige nach amerikanischem Muster zu marktbeherrschenden Unternehmen zusammenzuschließen, in denen alle Beteiligten ihre wirtschaftliche und rechtliche Selbstständigkeit verloren, zogen deutsche Unternehmer zumeist den Weg der korporativen Regulierung des Marktes vor« (Abelshauser, S. 186). Ab Ende des 19. Jahrhunderts gab es Kartelle in allen Zweigen der Großindustrie und noch heute haben wir ein »Kartellamt«, das die Kartelle verwaltet, statt einer Antimonopolbehörde, denn das deutsche Wettbewerbsrecht kennt mehr Ausnahmen als Verbote. Die »freie Marktwirtschaft« war seitdem in Deutschland nichts weiter als ein antisozialistischer Kampfbegriff, mit dem sich korporativ organisierte Wirtschaftsvertreter in Sonntagsreden schmückten.

Zeitgleich prägte sich schon früh ein spezifisches industrielles Produktionsregime heraus. Es sicherte über das Branchensystem, die Kooperation in Verbänden, die Partnerschaft mit einheitlichen Gewerkschaften und die Verständigung über den technologischen Branchenstandard in der gemeinsamen außerbetrieblichen Ausbildung im Rahmen eines dualen Systems von Schule und Betrieb ein hohes Maß an Stabilität und Qualität der Produktion. Eine koordinierte Lohnpolitik hielt die Gefahr der Abwerbung qualifizierter Arbeitskräfte gering, kooperative Arbeitsbeziehungen sicherten die Loyalität hoch qualifizierter und daher relativ mächtiger Stammbelegschaften und langfristige Finanzierungsmodi garantierten die Investitionen. »Alles in allem lässt sich das deutsche Modell einer korporativen Marktwirtschaft als ein auf Langfristigkeit und Kooperation angelegtes Produktionsregime verstehen, das seine komparativen institutionellen Vorteile vor allem auf jenen Produktionsmärkten ausspielen kann, auf denen diversifizierte Qualitätsproduktion getauscht wird, die unter Einsatz hoch entwickelter und anwendungsorientierter Technologie entsteht und deren Stärke nicht zuletzt in einer nachhaltigen Kundenbindung liegt« (Abelshauser, S. 188).

Die nachholende Industrialisierung Deutschlands traf zunächst auf ein völlig unentwickeltes Geldsystem, das den Kapitalbedarf der neuen Industrien nicht decken konnte. In Ablösung der dominierenden staatlichen Kontrolle entwickelte sich ein System der mit den großen Industrien verflochtenen Universalbanken. »Im Gegensatz zu den Geschäftsbanken der funktional arbeitsteiligen Finanzsysteme der angelsächsischen Länder, die sich auf Zahlungsverkehr, das Einlagengeschäft und das kurzfristige Kreditgeschäft beschränkten, boten die deutschen Universalbanken die gesamte Palette von Finanzdienstleistungen an, die ihre Kunden nachfragten. Entsprechend waren die deutschen Banken auch sehr viel direkter in das Schicksal der Kunden eingebunden als die englischen Geschäftsbanken« (Ziegler, S. 284).(4) Von Anfang an bildete sich im Unterschied zu angelsächsischen Ländern eine korporative Verschränkung von Großbanken und Industrie heraus, in der schließlich die drei Großbanken Deutsche Bank, Dresdner Bank und Commerzbank eine Schlüsselrolle spielten. Das Bankenwesen selbst wurde quasi ständisch gegliedert: »Die Industrie und ein Teil der wohlhabenden Privatkundschaft verteilten sich auf relativ wenige leistungsfähige Aktienkreditbanken, während sich die breite Masse der Kleinbürger und Bauern auf die Kreditgenossenschaften und die Unterschichten auf die Sparkassen verteilten« (Ziegler, S. 286).

Es war in wechselseitigem Interesse, dass die deutschen Unternehmen bei der Kapitalbeschaffung kaum auf den freien Kapitalmarkt gingen. »Die Emission von Wertpapieren wurde nicht allein durch den Markt bestimmt, sondern die Universalbank entschied, ob sie die Kreditlinie eines Kunden ausweitete, wenn die Kapitalnachfrage im Kontokorrentverkehr diese Grenze zu überschreiten drohte, oder sie entschied, einen Teil über die Börse auf das Publikum abzuwälzen. Im letzteren Fall agierte die Bank als Aktienhändler und brachte einen Großteil der Aktien oder Obligationen bei ihrer (privaten) Kundschaft unter« (Ziegler, S. 284). Die engen geschäftlichen Bindungen führten schließlich auch zu einer personellen Verflechtung. »Die Delegation eines Bankrepräsentanten in den Aufsichtsrat des Kreditkunden, der abgestützt wurde nicht so sehr durch eigenen Anteilsbesitz, sondern durch die Aktienpakete in den Kundendepots, für welche die Bank das Depotstimmrecht ausüben konnte, macht den Unterschied zum marktorientierten Finanzsystem besonders auffällig« (Ziegler, ebd.). Allein die Berliner Banken verfügten vor dem Ersten Weltkrieg über mehr als eintausend Mandate in Aufsichtsräten. Über die großen Bankenkrisen und die Weltkriege hinweg und selbst nach der Zerschlagung der drei Großbanken durch die Alliierten nach 1945 restituierte sich dieses System immer wieder. Dagegen stehen in den marktorientierten Systemen der angelsächsischen Länder von Beginn an die Geld- und Kapitalmärkte im Mittelpunkt der langfristigen Finanzierung der Industrie, für die nicht die Geschäftsbanken, sondern hoch spezialisierte Finanzintermediäre wie Investment Banks beziehungsweise Merchant Banks zuständig sind. Ziegler kommt in seiner Untersuchung der Geschichte der unterschiedlichen Finanzsysteme zu dem Ergebnis, dass sie trotz aller Verschiedenheit eine gleichwertige Leistungsfähigkeit haben und dass die Ablösung des einen auch nur durch Elemente des anderen wegen der institutionellen Beharrungskräfte eher unwahrscheinlich ist.

Umbau des »Modells Deutschland«?

In der Wirtschaftspolitik vollzog sich seit Mitte der Siebzigerjahre der Wandel vom Keynesianismus zum Monetarismus. Tatsächlich waren selbst in den angelsächsischen Ländern in den Sechzigerjahren mit dem Versuch der Globalsteuerung der Wirtschaft verstärkte korporatistische Beziehungen ausgebaut worden, denn die Einkommenspolitik konnte nur durch starke Interessenverbände der Arbeitgeber und Gewerkschaften umgesetzt werden. Mit dem Übergang zum Monetarismus wurde die Einkommenspolitik des Korporatismus irrelevant, da allein die Geldpolitik bestimmend für das Preisniveau angesehen wurde. Ihre verbandlichen Akteure ? insbesondere die Gewerkschaften ? wurden zum Ziel von Deregulierungsmaßnahmen, da dem Arbeitsmarkt infolge seiner relativ starken tariflichen Bindungen ein besonders hohes Maß an Inflexibilität zugeschrieben wurde. Bornschier kommt in einer Untersuchung(5) über die Veränderungen im Grad des ausgehandelten Kapitalismus zu dem Ergebnis, dass alle angelsächsischen Länder erstens schon historisch auf dem international niedrigsten Niveau der institutionellen Regulierungen der politischen Ökonomie liegen und darüber hinaus diese seit Mitte der Siebzigerjahre noch einmal drastisch abgebaut haben. Alle anderen entwickelten Länder machten aber ? auf höherem Niveau ? differenzierte Entwicklungen durch. Für Deutschland lässt sich kein Abbau korporatistischer Regulierungen feststellen. Bornschier kommt anhand seiner Daten zu dem Schluss: »Globalisierung hat mithin keinen neuen Kapitalismus hervorgebracht. Vielmehr hat sie den bereits älteren Gegensatz politikökonomischer Praktiken wieder akzentuiert. Die angelsächsischen Gesellschaften sind in gewisser Hinsicht wieder stärker zu ihren historischen Wurzeln zurückgekehrt. Dort war der Kapitalismus immer schon weniger vermittelt und kompetitiver; für einige Jahrzehnte in der keynesianischen Ära rücken sie allerdings näher an die andernorts üblichen Praktiken« (Bornschier, S. 353).

Die hier besprochenen Autoren zögern im Großen und Ganzen, grundlegende gesamtgesellschaftliche Veränderungen des Kapitalismus in Deutschland zu konstatieren. »Die These, dass der Finanzmarkt-Kapitalismus ein neues dominantes Produktionsregime sei, bedeutet keineswegs, dass sich die ökonomischen Institutionen in allen Ländern einander angleichen« (Windolf, S. 15). Die Thesen laufen eher darauf hinaus, dass mit den spezifischen korporatistischen Bewältigungsstrategien für Deutschland ein Arrangement mit den neuen Erscheinungen des Finanzmarkt-Kapitalismus gefunden wird.

Auf der anderen Seite werden eine Fülle von neuen Phänomenen aufgezeigt, die belegen, dass die Akteure des bundesdeutschen Korporatismus eben doch weit reichende Veränderungen vorangetrieben haben.

Verflechtung von Banken und Großindustrie abgebaut

Die Verhältnisse zwischen Banken und Industrie haben sich grundlegend gelockert. Die Großbanken haben Investmentbanking und die Organisation von Fusionen als zunächst zusätzliche und mittlerweile wichtigste Geschäftsfelder erschlossen und ihre traditionellen Beteiligungen und Strategien der Kreditvergabe abgebaut. 1996 hielten Banken in nur noch 31 von den 100 größten deutschen Unternehmen Beteiligungen von über 5 Prozent (Lütz, S. 306).(6) Sie bauen ihre personellen Verflechtungen mit der Industrie ab. »In dem Netzwerk überlappender Mitgliedschaften zwischen Banken und Industrie sind die Deutsche Bank und die Dresdner Bank vom Zentrum in eine eher periphere Position gerückt. 1996 stellte die Deutsche Bank noch 29 Aufsichtsratsitze in den 100 größten Firmen. Nur zwei Jahre später reduzierte sich diese Zahl auf 17« (Lütz, ebd.). Die Deutsche Bank hat angekündigt, keine neuen weiteren Aufsichtsratssitze übernehmen zu wollen. In ihrer neuen Rolle als Investmentbank beteiligte sich die Deutsche Bank selbst als »Hausbank« des Thyssen-Konzerns an dessen feindlicher Übernahmen durch Krupp sowie an der feindlichen Übernahme von Mannesmann durch Vodafone.

Auf der anderen Seite bevorzugen Großunternehmen immer häufiger Eigenfinanzierung vor Bankkrediten, von 1974 bis 1996 sank der Anteil der Bankkredite am gesamten Kapital aller Aktiengesellschaften von 16,9 auf 6,6 Prozent. Ausländische Finanzanleger konzentrieren sich insbesondere auf exportorientierte Unternehmen wie Automobilindustrie und Elektronikbranche. 1998 hatten bereits 24 der DAX-30-Firmen einen durchschnittlichen Anteil ausländischer Anleger von 31 Prozent. In diesen Firmen ist die Orientierung am shareholder value besonders ausgeprägt.

Das Finanzministerium stellt die Weichen

Da unser wirtschaftliches Umfeld umfassend reguliert ist, ist die Entwicklung des Finanzmarkt-Kapitalismus in jedem noch so kleinen Schritt notwendigerweise von politisch gewollten rechtlichen Regelungen abhängig. Im Übrigen ist es ein Irrtum zu glauben, die Marktwirtschaft angelsächsischer Prägung käme mit weniger Regelungen aus, allerdings sind es gesetzliche und rechtliche statt korporative.

Die politischen Protagonisten, die die Entwicklung des Finanzmarkt-Kapitalismus in Deutschland ermöglichten, gehörten zum entscheidenden Teil der rot-grünen Koalition an. Das ist, nüchtern betrachtet ? das heißt an Fakten orientiert und nicht an der ideologischen Selbsteinschätzung ?, überhaupt nicht verwunderlich. In Deutschland verwaltet vor allem die CDU/CSU das Erbe des Korporatismus getreulich in der Unzahl intermediärer halb-öffentlicher Einrichtungen des Wirtschafts- und Soziallebens, während sich die SPD auf den Teil des Arbeitnehmer-Korporatismus konzentriert, die FDP sich auf korporative Stützung der freien Berufe und des Mittelstands beschränkt und die Grünen als Zuspätgekommene völlig außerhalb dieser Grundstrukturen der Bundesrepublik stehen. Die SPD hatte in ihren historischen Zeiten die Kartelle als Vorstufe zum Sozialismus begrüßt, ist aber seit den bitteren Erfahrungen des Nationalsozialismus auf einen eher wettbewerbsfreundlichen Kurs geschwenkt, der sich bis heute durchzieht. Aber begonnen hat die Wegbereitung für die neuen Freiheiten des Finanzkapitals natürlich schon unter der Kohl-Regierung.

Seit Mitte der 1980er-Jahre erfolgte ein bis dahin beispielloser Schub an Gesetzgebung mit dem Ziel der Förderung des »Finanzplatzes Deutschland« (vgl. Lütz, S. 308 ff.). Insgesamt wurden sieben Gesetze zur Liberalisierung des Finanzmarktes und der Zulassung neuer Produkte erlassen. Zwischen 1990 und 1992 wurden vier Finanzmarktförderungsgesetze verabschiedet, von denen das dritte allein über 100 Einzelmaßnahmen enthielt. 1994 wurden erstmals Bundeskompetenzen in der Börsenaufsicht geschaffen und ein Bundesaufsichtsamt für den Wertpapierhandel gegründet. 1998 wurde ein Gesetz verabschiedet, das auf die faktische Übernahme amerikanischer Bilanzierungsstandards zielte. Im gleichen Jahr zeigte sich in der Bundestagsdebatte um das »Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich« (KonTraG) die eigenartige politische Konstellation bei der Wegbereitung des Finanzmarkt-Kapitalismus: »Die Linke kritisierte enge Unternehmensverflechtungen aufgrund der Machtposition der Banken. Die SPD nannte das KonTraG ein Gesetz, das Aktionäre gegenüber Managern schützen sollte. Die Liberalen interpretierten das bestehende Modell der Unternehmensverfassung als wohlfahrtsschädigend, weil es Insidern das Abschöpfen von Gewinnen erlaubte, und beklagten, dass die CDU zu keinen radikalen Reformen bereit war. Der Verlauf der Debatte belegt ... die These, dass Corporate-Governance-Reformen in Westeuropa von Mitte-links-Regierungen vorangetrieben wurden, wohingegen Mitte-rechts-Parteien politische Allianzen mit den Arbeitgebern (Unternehmern und Managern) eingingen und traditionelle Strukturen des Managerkapitalismus zu verteidigen suchten« (Lütz, S. 311).

Die rot-grüne Koalition führte diese Linie bruchlos weiter. Im Mai 2002 wurden alle Institutionen der Banken-, Wertpapier- und Versicherungskontrolle unter dem Dach der Bundesanstalt für Finanzaufsicht (BaFin) zusammengefasst (die pikanterweise nicht mehr aus Steuermitteln, sondern von den Banken finanziert wird). 2003 legte das Bundesfinanzministerium einen »Finanzmarktförderplan« vor und ließ Hedge-Fonds und weitere Hochrisiko-Finanzprodukte zu. 2004 wurde ein Bilanzkontrollgesetz verabschiedet, das der BaFin polizeiähnliche Rechte im Falle von Bilanzfälschungen einräumt. Den Banken wurden steuerliche Privilegien eingeräumt, wenn sie sich von ihren Beteiligungen trennten ? sonst wäre die oben beschriebene Entflechtung wohl wesentlich langsamer verlaufen. P. Windolf fasst zusammen: »Ein korporatistisches Regime der Finanzmarkt-Regulierung wird abgelöst durch ein Regime, das durch den Markt und eine ausdifferenzierte staatliche Gesetzgebung koordiniert wird« (S. 12).

Es war tatsächlich große Chuzpe im Spiel, als Franz Müntefering diejenigen als Heuschrecken titulierte, die die von den Sozialdemokraten beschlossenen Gesetze anwendeten.

Die Währungsunion als Abkehr vom Keynesianismus

Eine inflexible Geldpolitik, die Geldwertstabilität über Wachstum und Beschäftigung setzt, spielte eine wichtige Rolle bei der Durchsetzung monetaristischer statt keynesianischer Wirtschaftspolitik. Vorreiter war hier nun ausgerechnet das korporatistische Deutschland. Im Zusammenhang mit der Währungsunion zwang die Bundesregierung alle übrigen Länder Europas mit dem Stabilitätspakt unter die Hegemonie der Bundesbank. Das europäische Währungssystem wurde nach dem deutschen Vorbild der institutionellen Autonomie der Geldpolitik gestaltet. Damit wurde dem Wachstum in der europäischen Union bis heute eine geldpolitische Zwangsjacke angelegt. Die zentralisierte Geldpolitik hat aber keine europäischen zentralen Partner für die Koordinierung der Einkommenspolitik. Was im »Modell Deutschland« in den Achtzigerjahren noch erfolgreich funktionierte ? die Koordinierung zwischen der Tarifpolitik der Gewerkschaften und der Geldpolitik der Bundesbank ?, ist auf der europäischen Ebene schon mangels europäischer Tarifpartner unmöglich (vgl. Traxler, S. 375<|>ff.).(7)

Die EU forciert ein neues Gesellschaftsmodell

Die EU kann schon durch ihre Grundkonstruktion als übernationaler Zusammenschluss keine korporatistische Regulierung kennen, da die potenziellen Akteure und Interessengruppen in der Regel höchstens auf nationaler Ebene organisiert und handlungsfähig sind. Bislang blieben jedenfalls die Versuche der Einrichtung eines »europäischen Korporatismus« in Ansätzen stecken, und wenn überhaupt, so brachten sie asymmetrische Vorteile für bestimmte branchenmäßig organisierte Großindustrien. Die EU tendiert deshalb immer zu eher allgemeinen Normen, Strategien und Verordnungen. Aus diesem Widerspruch heraus haben sich die Regierungen mit der Lissabon-Strategie auf europäischer Ebene auf ein im Kern liberales und nicht korporatives Projekt festgelegt. Der Kern besteht in dem Ziel, die EU innerhalb von zehn Jahren, also bis 2010, zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen und sich dabei ganz auf den Vergleich mit den USA einzulassen. Die Hauptstrategien folgen dem liberalen schumpeterschen Leitbild vom schöpferischen Unternehmer als der Leitfigur für Wirtschaftswachstum, der Innovation durch Ideen und neue Produkte als »schöpferische Zerstörung« vorantreibt. Konsequent sind die beiden Hauptsäulen der Lissabonstrategie die Förderung von innovativer Technologie und Forschung sowie die Förderung der Wissensgesellschaft durch Bildungsförderung (u. a. den Bolognaprozess für die universitäre Bildung). Eher als Beiwerk sind noch Ziele für »soziale Kohäsion« und Nachhaltigkeit gesetzt. Auch wenn die EU die Lissabonziele nicht erreichen wird und sie in keinem Land ernsthaft prioritär die nationale politische Agenda prägen, geht doch von der EU ein beständiger Druck durch EU-weite Normen aus, durch den bestehende korporative Regelungen und Besonderheiten Schritt für Schritt abgeschwächt werden. Das zeigte besonders deutlich der politische Kampf um die EU-Dienstleistungsrichtlinie, deren erster extrem liberale Entwurf übrigens von einem CDU-Europaabgeordneten aus Deutschland stammte.

Über die Bewertung der Richtung der EU-Politik besteht weitgehend Einigkeit, über das Ausmaß der Veränderungen, die sie in den Mitgliedsstaaten hervorrufen, und die mess- und spürbaren Folgen gehen die Einschätzungen noch auseinander. V. Bornschier beurteilt sehr zugespitzt sogar bereits »die Vollendung des Binnenmarktes (1992) als das größte Deregulierungsprojekt der Wirtschaftsgeschichte ? in Imitation des US-amerikanischen Deregulierungsprojektes zu Beginn der 1980er-Jahre und Präsident Reagan« (Bornschier, S. 358).

Abbau der Flächentarife in der Bundesrepublik

Die korporatistische Regulierung der Tarifpolitik in Deutschland wird umso schwächer, je weiter der Flächentarif erodiert, »dessen (an der Zahl der erfassten Arbeitnehmer) gemessene Deckungsrate in der jüngsten Zeit im Westen (1996: 69,2 Prozent; 2001: 63,1 Prozent) und insbesondere im Osten (1996: 56,3 Prozent; 2001: 44,4 Prozent) merklich abgenommen hat. Dass vergleichbare Erosionstendenzen des Verbandstarifs im übrigen Westeuropa nicht zu beobachten sind, lässt den Schluss zu, dass sie weniger durch allgemeine Trends der Internationalisierung und Globalisierung, sondern durch bundesdeutsche Spezifika bedingt sind« (Traxler, S. 389). Überhaupt verschärfen die Verschiedenheiten der Tarifsysteme in Ost und West beträchtlich die sozialen Differenzen in Deutschland. Die politisch gewollte Abkehr vom Flächentarif im öffentlichen Dienst durch die Tarifgemeinschaft der Länder verursachte nicht nur den längsten Arbeitskampf der bundesrepublikanischen Geschichte, sondern schlägt eine Bresche in die traditionelle Institutionalisierung und Regelung der Arbeitsbeziehungen im öffentlichen Dienst. Die SPD treibt hier ein doppeltes Spiel, indem sie gelegentlich die kollektiven sozialen Rechte hochhält und unter Berufung auf Haushaltsnöte den Abbau grundlegender Sicherungsregeln für Arbeitnehmer aktiv mit betreibt. Aber zweifellos sind hier CDU/CSU und FDP entscheidend. Deren Klagen über die negativen Folgen der Globalisierung und Verweise auf internationalen Wettbewerb sind nur zu oft vorgeschützt, um Machtauseinandersetzungen in Deutschland zu verdecken.

Stärkere Differenzierungen der Einkommen und der sozialen Sicherung

Am undeutlichsten ist die Faktenlage gerade auf dem Feld, das für viele Globalisierungskritiker scheinbar am eindeutigsten ist: Dass als Folge der Globalisierung der Wohlfahrtsstaat in Europa allgemein und in Deutschland im Besonderen in wesentlichen Bereichen abgebaut worden sei und die Armut deshalb krass zugenommen habe, lässt sich bislang nicht empirisch nachweisen. Wachsende Armut in Deutschland trifft vor allem Langzeitarbeitslose, Alleinerziehende und Teile der ausländischen Bevölkerung. Diese Probleme sind vollständig hausgemacht und ließen sich durch Änderungen der sozial- und arbeitsgesetzlichen Regelungen, der Einbürgerungs- und Ausländergesetze, einer nichtausschließenden Bildungspolitik und eines Ausbaus der beruflichen Bildung und des lebenslangen Lernens binnen weniger Jahre beträchtlich abmildern.

Gravierende Veränderungen hat es freilich im Abstand der Vermögenden zu den Durchschnittsverdienern gegeben sowie im Umfang der Geldvermögen überhaupt, deren personelle Verteilung hochkonzentriert ist. In den USA verdiente ein CEO 1962 20-mal mehr als ein Arbeiter, 1989 56-mal mehr und 1999 107-mal mehr, mit deutlichen Abstrichen wird dies auch für Deutschland zutreffen. Vor allem durch die Einführung von Aktien-Optionen eignet sich auch hier eine kleine Schicht von extrem reichen Managern einen unmäßig großen Teil der Geldvermögen an. Dies ist eine direkte Folge der Freisetzung des Finanzmarkt-Kapitalismus in Deutschland.

Nachgewiesen als Folgen der Globalisierung sind stärkere Einkommensdifferenzen zwischen Qualifizierten und Unqualifizierten sowie eine beträchtliche Verschlechterung der Chancen auf dem Arbeitsmarkt für Unqualifizierte. »Heute sind in allen Wirtschaftssektoren technologische und organisatorische Veränderungen im Gange, die rapide Produktivitätssteigerungen hervorbringen, also Modernisierungserscheinungen sind. Sie steigern in allen Produktionssektoren immer mehr die Nachfrage nach qualifiziertem Personal. Die Übergangserscheinung besteht darin, dass diese Prozesse, beschleunigt durch die globalen Handels- und Kapitalströme, so schnell ablaufen, dass das Angebot an qualifizierten Arbeitskräften damit nicht Schritt hält. Dieses Ungleichgewicht wird durch wachsende internationale Migration sowie durch die demographischen Veränderungen in den entwickelten Ländern derzeit zusätzlich aus dem Lot gebracht« (Hradil, S. 480).(8)

Nachgewiesen werden kann auch, dass eine Reihe von Ländern ihre staatlichen Sozialausgaben in den Neunzigerjahren beträchtlich abgebaut haben ? allerdings gehören dazu Schweden, Finnland und die Niederlande, die weiterhin in höchstem Maß soziale Sicherheit garantieren. Die Schweiz, Portugal, Griechenland, Japan und Australien haben Ende der Neunziger dagegen den historisch höchsten Anteil ihrer Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt erreicht und in Deutschland fiel der Anteil gegenüber 1996 als dem Jahr der höchsten Ausgaben (28,1 Prozent des BIP) bis zum Jahr 2001 auf 27,4 Prozent, das war nach Dänemark, Schweden und Frankreich immer noch der vierthöchste Anteil aller OECD-Staaten weltweit. Das System der wohlfahrtstaatlichen Absicherung ist insgesamt in Deutschland zweifellos weiterhin intakt und es gibt keinerlei weltwirtschaftlichen Zwang, das Sozialsystem zu ändern ? was natürlich nicht heißt, dass es nicht andere Gründe zu Veränderungen geben kann.

Die Rückkehr der sozialen Angst

Die hier beschriebenen Veränderungen der Wirtschaft haben keine neue Qualität, insofern ist der Kapitalismus definitiv nicht in ein neues Stadium eingetreten. Die gravierenden Veränderungen beziehen sich darauf, welche sozialen und wirtschaftlichen Interessen sich auf welche Weise in Deutschland durchsetzen.

Wirklich auffallend ist aber die Unredlichkeit der Politik in Deutschland. Die politischen Parteien haben den EU-Binnenmarkt, die Währungsunion und die EU-Wettbewerbspolitik unterstützt und internationale, das heißt hier angelsächsisch geprägte Instrumente des Finanzkapitals in Deutschland eingeführt, um den »Finanzplatz Deutschland« zu stärken. Sie haben aber die gravierenden Folgen für die Arbeitsplätze, die Beziehungen zwischen Kapitalgebern, Management und Arbeitnehmern sowie die Auflösung vormaliger korporativer Regelungen ihren Wählern verschwiegen. Die Banken und die Großindustrie, die das Herzstück des »Rheinischen Kapitalismus« bildeten, haben sich längst aus eigenem Antrieb in der Finanzierung, in der internationalen Diversifizierung ihrer Produktion und damit auch in der Internationalisierung ihrer Belegschaften aus dem Modell Deutschland in die globale Wirtschaft verabschiedet und sind zu einem Teil aus den beschränkten Regelungen des bundesdeutschen Korporatismus ausgebrochen. Dies wird nun aber auch nicht offen eingestanden, weil es die Politik zwingen würde, ihrerseits Abschied zu nehmen von sinnlos gewordenen Aufsichtsratsmandaten der öffentlichen Hand, nationalen Bündnissen für Arbeit und der politischen Praxis, an Stelle von eindeutigen gesetzlichen Vorschriften Appelle an freiwillige Selbstverpflichtungen zu erlassen.

Auffallend ist auch, dass die Bevölkerung in einer im internationalen Vergleich extrem pessimistischen wirtschaftlichen Zukunftserwartung verharrt, die der tatsächlichen Lage nicht angemessen scheint. Sie ist aber erklärlich, weil es gerade die korporativen, tariflichen und sozialstaatlichen Regulierungen sind, die in Deutschland soziale Sicherheit garantieren und deshalb natürlich auch bei der Bevölkerung das Gefühl der sozialen Sicherung hervorrufen. Die soziale Kultur der angelsächsischen Länder unterscheidet sich hiervon signifikant, weshalb die gleichen Maßnahmen in beiden Kulturen völlig unterschiedliche Reaktionen hervorrufen können. In Deutschland ruft es soziale Angst hervor, wenn gewohnte Regulierungen umfassend in Frage gestellt werden, mögliche Chancen in konkurrenz- und marktbestimmten Gegebenheiten werden dagegen sehr gering geschätzt. Insofern sagt es für die Wahrnehmung der Bevölkerung wenig, dass bislang im internationalen Vergleich keine gravierenden sozialen Einbrüche zu verzeichnen sind, denn gemessen an der eigenen Befindlichkeit vor zwanzig Jahren leben wir bereits in einer anderen Welt.

1

Seit 2002 organisierte Paul Windolf einen Forschungsprozess zu der Frage, in welcher Weise das Modell Deutschland sich an das neue Produktionsregime des Finanzmarkt-Kapitalismus anpasst. Die außerordentlich konzentrierten und hervorragend aufeinander bezogenen Beiträge wurden in einem Sonderheft (45/05) der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie veröffentlicht (»Finanzmarktkapitalismus. Analysen zum Wandel von Produktionsregimen«). Deshalb war es möglich, die Thesen des vorliegenden Aufsatzes alle auf Beiträge dieses Bandes zu beziehen, über die sich natürlich auch die weitere Literatur erschließen lässt.

2

Paul Windolf: »Was ist Finanzmarkt-Kapitalismus?«, in: Fußnote 1, S. 20?57.

3

Werner Abelshauser: »Die Wirtschaft des deutschen Kaiserreichs«, in: ebd., S. 172?195.

4

Dieter Ziegler: »Das deutsche Modell bankorientierte Finanzsysteme (1848?1957)«, in: ebd., S. 276?293.

5

Volker Bornschier: »Varianten des Kapitalismus in reichen Demokratien«, in: ebd., S.331?371.

6

Susanne Lütz: »Von der Infrastruktur zum Markt? Der deutsche Finanzsektor zwischen Deregulierung und Reregulierung«, in: ebd., S. 294?315.

7

Franz Traxler: »Geldpolitik, Tarifsystem und Korporatismus«, in: ebd., S. 372?393

8

Stefan Hradil: »Warum werden die meisten entwickelten Gesellschaften wieder ungleicher?«, ebd. S. 460?483.

»Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur«, 3/2006