Christoph Strawe

Arbeitslosigkeit ? Krise und Chance

Ursachen, Spaltungen, Irrwege und Lösungsmöglichkeiten*

 

 

Die Rückkehr zur »Vollbeschäftigung«, so unser Autor, stellt eine Illusion dar, die Etablierung einer dauerhaften 80 : 20-Ausschluss-Gesellschaft aber eine Horrorvision. Eine Umverteilung der Arbeitsproduktivität ist also nötig und damit ein Umfluss von der materiellen Produktion in nichtmarktfähige Bereiche von Arbeit. Neue Freiraumbildung, Grundsicherung und ein verbrauchsorientierter Sozialausgleich stellen Alternativen zu einer Wachstumsideologie dar. Und müsste eine Umstellung der Staatsfinanzierung vom Prinzip der Einkommenssteuer hin zu einem Mischmodell wirklich unsozial ausfallen oder könnte ein mehrwertsteuerartiger Sozialausgleich nicht auch emanzipativ wirken?

Im Januar 2006 waren rund 5 Millionen Menschen in Deutschland offiziell als arbeitslos registriert, 20 Millionen zählte man in der Europäischen Union.(1) Dazu kommt die so genannte stille Reserve, die Frühberenteten, Kurzarbeiter und so weiter.(2) Die Spaltung der Gesellschaft schreitet auf diese Weise stetig fort. Die Dimension des Problems ergibt sich nicht nur aus den Einkommenseinbußen für die Betroffenen ? die sich für viele durch Hartz IV eminent verschärft haben ? und auch nicht nur wegen der unmittelbaren und indirekten Kosten für die Gesellschaft.(3) Arbeitslosigkeit bedeutet für die Betroffenen nicht nur den Ausschluss vom Erwerbseinkommen, sondern zugleich auch von der Möglichkeit, ihre Fähigkeiten in den sozialen Prozess einzubringen und dabei ihre Persönlichkeit zu entfalten. Zugleich entschwindet immer mehr das Ziel, entfremdete und sinnlose Arbeit zugunsten selbstbestimmter und sinnvoller zu ersetzen: Die Aufrechterhaltung von Erwerbsarbeitsplätzen wird umso mehr zum Selbstzweck, je häufiger sie sich als unrealisierbar erweist. Der Gesellschaft fließt auf diese Weise immer weniger von dem zu, was Menschen durch sinnvolle Arbeit für sie leisten könnten. Solange Arbeitslosigkeit bedeutet, am Tätigwerden verhindert zu sein, ist die 80:20-Gesellschaft daher ? selbst wenn es gelänge, die materielle Versorgung von 80 Prozent Arbeitslosen irgendwie notdürftig sicherzustellen ? eine Horrorvision.

Wenn die Politik die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu ihrer Hauptaufgabe erklärt, dann trägt sie der Bedeutung des Problems Rechnung. Aber warum ist ? obwohl die Frage seit Jahrzehnten auf Platz eins der Prioritätenliste steht ? bei den politischen Anstrengungen so wenig Greifbares herausgekommen? Der Verdacht liegt nahe, dass die Therapien deshalb nicht greifen, weil schon bei der Diagnose etwas nicht stimmt.

Zur Bekämpfung des Übels wurden in den letzten Jahrzehnten Rezepturen angeboten, die einander diametral entgegenstehen: Verlängerung und Verkürzung der Arbeitszeit und des Urlaubs, mehr Staat (Beschäftigungsprogramme) und weniger Staat, Heraufsetzung und Herabsetzung des Rentenalters, Verstärkung und Schwächung des Kündigungsschutzes, mehr Qualifizierung oder radikalere Verkürzung der Ausbildungszeiten. Jeden der sich ausschließenden Vorschläge kann man »logisch« begründen. Seit Beginn der Neunzigerjahre haben sich die neoklassisch-neoliberalen Rezepte dieser Liste weitgehend durchgesetzt. Sollte ihr Scheitern den mehr »neokeynesianischen« Antworten wieder mehr Gehör verschaffen, dürfte sich herausstellen, dass auch diese eindimensional und willkürlich sind.

Hauptursachen der heutigen Arbeitslosigkeit

Das Urphänomen der Arbeitslosigkeit ist die durch intelligente Arbeitsteilung und -organisation sowie den Einsatz immer neuer Techniken bewirkte Steigerung der Arbeitsproduktivität, die dazu führt, dass immer weniger Beschäftigte in immer kürzerer Zeit immer größere Gütermengen herstellen können. Dadurch wird lebendige menschliche Arbeit erspart. So ist das Bruttosozialprodukt stetig gewachsen, die Arbeitszeit ist ? von Rückentwicklungen der letzten Jahre abgesehen ? stetig gesunken (1825: 82 Wochenstunden, 1900: 60 Stunden, 1965: 40 Stunden, 1995: in einigen Branchen 35 Stunden).

Dieser Zusammenhang zwischen Produktivität und Arbeitslosigkeit wird bei den gängigen Diagnosen des Problems zwar nicht gänzlich geleugnet. Jedoch geht man in dieser oder jener Form zumeist davon aus, dass die Ursache der Arbeitslosigkeit eine Schwäche der wirtschaftlichen Wachstumsimpulse sei, weshalb die Therapie in einer Ankurbelung des Wachstums und einer dadurch wieder erlangten Vollbeschäftigungssituation bestehe. Man denkt sich, dass Rationalisierungseffekte und damit verbundene Freisetzungen in einer Branche durch das Entstehen neuer Wachstumsbranchen oder Sektoren der Wirtschaft wieder aufgefangen werden könnten.

Das entspricht ja auch der bisherigen Erfahrung und den bisherigen großen Entwicklungstrends: Die durch Rationalisierung in der Landwirtschaft Freigesetzten fanden in der Industrie neue Arbeit. Durch Rationalisierung in der Industrie freigesetzte Menschen fanden sie im Dienstleistungssektor. An das Problem der Rationalisierung konnte man daher auch weitgehend rein betriebswirtschaftlich herangehen ? denn volkswirtschaftlich ergab sich die Lösung durch neues Wachstum letztlich wie von selbst. Die Arbeitslosenunterstützung war unter diesen Bedingungen nur eine Art Überbrückungshilfe. Entsprechend waren die Einrichtungen ausgelegt, die zur Lösung des Problems geschaffen wurden.

Die Realität entspricht diesen Prämissen jedoch immer weniger. Denn inzwischen hat sich die Lage in mehrfacher Hinsicht entscheidend verändert:

? In vielen Bereichen ist eine Sättigung des Güterbedarfs erreicht. Bereits heute muss Bedarf mit Hilfe der Werbung künstlich stimuliert werden, wobei Untersuchungen zeigen, dass der Verbraucher gegen diese Stimulierung zunehmend Immunkräfte entwickelt.

? Wachstum, das wissen wir nicht erst seit der Rio-Konferenz von 1992, stößt an ökologische Grenzen.

? Die Globalisierung verstärkt die Rationalisierung. Da fortgeschrittene Technik, Know-how und Qualifikationen heute weltweit verfügbar sind, wird das Lohnniveau des jeweiligen Landes zur entscheidenden Größe im Konkurrenzkampf der Standorte. Es kommt zur Arbeitsplatzverlagerung aus Hochlohnregionen, andererseits zur beschleunigten Rationalisierung aus Gründen der Standortsicherung. Sicherlich sind unterschiedliche Branchen hiervon in unterschiedlicher Weise betroffen, auch kann man sich unterschiedliche Meinungen darüber bilden, in welchem Tempo der genannte Trend durchschlägt. Dass er vorhanden ist, kann niemand leugnen.(4)

Die durch Rationalisierung in der Industrie freigesetzten Arbeitskräfte können nur zum Teil im Dienstleistungssektor beschäftigt werden. Denn so richtig es ist, dass der Mensch in diesem Bereich nicht überall durch Maschinen ersetzbar ist, so wahr ist andererseits, dass im Dienstleistungssektor heute ebenfalls ein starker Rationalisierungstrend herrscht. Es soll nicht in Abrede gestellt werden, dass es in Deutschland im Dienstleistungsbereich einen Nachholbedarf gibt. Andererseits gibt es ? im Vergleich zu den USA ? auch einen »Nachholbedarf« im Abbau an Industriearbeitsplätzen: Bei uns arbeiteten vor dem Millenniumswechsel noch 35 Prozent der Beschäftigten in der Industrie, in den USA dagegen nur noch 25 Prozent. Selbst wenn im Dienstleistungssektor noch Arbeitsplätze geschaffen werden können ? 90 Prozent der neuen Betriebe in den USA und 80 Prozent in der Bundesrepublik entstanden zwischen 1980 und 2000 in diesem Bereich ? wird es sich zum größten Teil nur um eine Kompensation des Arbeitsplatzabbaus in der Industrie handeln.(5)

Auch die Ausschöpfung der zweifellos vorhandenen Wachstumspotenziale von Umwelttechniken werden diese Lage nur graduell, aber nicht grundsätzlich verändern.(6)

Vielfach wird für Deutschland argumentiert, dass die Bevölkerungsentwicklung das Problem der Arbeitslosigkeit wie von selber lösen werde. Durch die geburtenschwachen Jahrgänge würden in den nächsten Jahrzehnten entscheidend weniger Arbeitssuchende vorhanden sein. Manche rechnen sogar mit einem Arbeitskräftemangel.

Zum einen würde es sich hier aber um eine Entwicklung handeln, die die aufgewiesenen globalen Trends nicht außer Kraft setzt, sondern allenfalls geografisch begrenzt eine zeitweilige Entlastung schaffen würde. Und darüber hinaus kommen seriöse Untersuchungen zu weit weniger euphorischen Einschätzungen. Marcus Dittrich von der TU Chemnitz kommt in einer Studie zu dem Fazit: »Die oft vertretene These, dass die Probleme auf dem Arbeitsmarkt in den nächsten Jahren mehr oder weniger von allein verschwinden werden, kann ökonomisch nicht begründet werden. Zwar verknappt sich einerseits aufgrund der sinkenden Zahl von Erwerbspersonen das Arbeitsangebot, jedoch verstärkt sich andererseits durch den Alterungsprozess das Problem des Mismatching auf dem Arbeitsmarkt und wirkt negativ auf die Arbeitsnachfrage. Darüber hinaus wird bei dem zu erwartenden drastischen Rückgang der Bevölkerung beziehungsweise des Arbeitskräfteangebotes die Güternachfrage und damit auch die Nachfrage nach Arbeitskräften sinken.«(7)

Aus den genannten Gründen ist die Arbeitslosigkeit heute zu einem Dauerphänomen geworden, das prinzipiell nicht mehr konjunkturell zu lösen ist. Die Lösung des Problems ist primär eine Frage der Umverteilung der Gewinne der Arbeitsproduktivität.(8)

Wiederbeschäftigung: Erwerbssektor und »Nicht-Ökonomie«

In den Zeiten von »jobless growth« gibt es keine ? rationale ? Vollbeschäftigungspolitik im alten Sinne mehr. Es ist aber gar nicht notwendig, Beschäftigung nur auf diese traditionelle Art und Weise anzustreben. Die Gründe hierfür sind die folgenden:

? Gesellschaftliche Aufgaben

Gesamtgesellschaftlich gibt es eine Fülle von Aufgaben, die beispielsweise im Umwelt-, Bildungs-, Kultur- und Sozialbereich liegen ? Altenhilfe, Drogenhilfe, Landschaftspflege und so weiter. Hier handelt es sich überall um Dienstleistungen, die nicht unmittelbar marktfähig sind. Deshalb bedürfen sie zumindest mittelfristig der »Bezuschussung«. Langfristig kann es sich dabei ? etwa bei Bildungsausgaben ? um äußerst produktive Investitionen handeln. Es fehlt der Gesellschaft also keineswegs an Arbeit, sondern vielmehr an Instrumenten, Leistungen in diesen ? im Gegensatz zur materiellen Gütersphäre wirklich unterversorgten ? Bereichen finanziell zu ermöglichen.

Solange Unterversorgung herrscht, ist es eine Notwendigkeit, dass ein erheblicher Teil des durch Produktivitätsfortschritt erwirtschafteten Mehr in diese Bereiche fließt. Wenn die Gesellschaft nicht geschädigt werden soll, darf dieses Mehr nicht immer wieder nur in das Wachstum der materiellen Produktion investiert werden. Denn in dieser ist eine relative Vollversorgung gewährleistet, neben technischen Verbesserungen, der Erhöhung der Ressourcenproduktivität und so weiter geht es allenfalls um die Schließung einzelner Lücken.

? Freiraumbildung durch Produktivität

Etwas in kürzerer Zeit und mit weniger Menschen erzeugen zu können, bedeutet einen Gewinn an Zeit, die für andere Aufgaben zur Verfügung steht. Wenn ein Verein freier Menschen das Lebensnotwendige durch technische und arbeitsorganisatorische Fortschritte in der Hälfte der bisher benötigten Zeit herstellt, würden sie sich überlegen, was mit der freien Zeit anzustellen wäre: Wie viel soll als Urlaubs- und Freizeit, wie viel als Zeit für die Erzeugung weiterer und neuer Güter, wie viel für gemeinsame Belange der Gemeinschaft (Beratungen usw.), wie viel für Bildung ? Fortbildung, aber auch reine Persönlichkeitsbildung, künstlerische Tätigkeit ?, wie viel für nichtgewerbliche gemeinnützige Arbeit eingesetzt werden?

Dass die Grenzen materiellen Wachstums überall sichtbar werden, weist darauf hin, dass wir es menschheitlich mit einer ähnlichen Situation zu tun haben, wie sie in der gesunden organischen Entwicklung des individuellen Menschen auftritt: Das äußere Wachstum tritt in einer bestimmten Periode zurück, um gerade durch diese Zurückdrängung Wachstumskräfte in verwandelter Form der geistigen Entwicklung verfügbar zu machen. Letztlich geht es heute menschheitlich um die Frage, ob das äußere Wachstum Grundlage geistig-kultureller und sozialer Entwicklung werden kann. Die Realisierung des Produktivitätsfortschritts in der verrückten Form der Arbeitslosigkeit ist ein Symptom dafür, dass wir die Fähigkeiten, mit den Freiräumen der Produktivität richtig umzugehen, erst noch ausbilden müssen.

Die 80:20-Gesellschaft ist dann keine Horrorvision, wenn das Wort bedeutet: 80 Prozent des bisher in der Sphäre materieller Notwendigkeit gebundenen Fähigkeitspotenzials von Menschen kann anderer Verwendung zugeführt werden. Dass das auch psychologisch gesehen einen langen Entwicklungsprozess verlangt, wird damit nicht in Abrede gestellt. Klar ist auch, dass zur Realisierung der Chance Instrumentarien ausgebildet werden müssen, über die wir heute noch nicht ? oder erst in allerersten Ansätzen verfügen. Es geht nicht um eine Patentlösung, sondern um erste Schritte in die richtige Richtung.

? Umverteilungsinstrumente

Der Einwand, dass eine solche Entwicklung unfinanzierbar sei, verkennt, dass wir gegenwärtig ja auch bereits gewaltige Summen für die Arbeitslosigkeit bezahlen. Nur finanzieren wir damit weitgehend nicht Arbeitsplätze, weder in der Ökonomie noch in der Nicht-Ökonomie, sondern wir finanzieren nur die Verwaltung der Arbeitslosigkeit selbst. Die Arbeitslosen empfinden sich dabei als Almosenempfänger.

Wir haben es mit einem Phänomen der Unterbeschäftigung bei weitgehender Vollversorgung mit materiellen Gütern zu tun. In Zukunft werden wir mit der gleichen Arbeitsmenge sogar noch mehr dieser Güter herstellen können. Wenn eine Gütermenge X beziehungsweise X? in kürzerer Zeit von weniger Menschen hergestellt werden kann, dann ist immer noch die gleiche oder sogar eine größere Gütermenge da als vor der Entlassung der eingesparten Arbeitskraft in die so genannte Arbeitslosigkeit! Da Geld letztlich immer nur ein Stellvertreterwert für reale Güter sein kann, müssen aber ? wenn realgütermäßig keine Lücke entstanden ist ? die Einkommen der arbeitslos gewordenen Menschen auch geldlich bereits miterwirtschaftet sein. Die Art, wie Arbeitslosigkeit entsteht, beinhaltet also die Entstehung der Einkommen der Arbeitslosen mit.

Wenn diese Einkommen bei den Arbeitslosen nicht oder nur teilweise ankommen, kann das allenfalls daran liegen, dass sie vorschnell an die falschen Adressaten verteilt worden sind. Das Hauptproblem liegt dann in der Schaffung entsprechender Umverteilungsinstrumente, die diesen Missstand korrigieren.

Bei Hartz IV ist man den umgekehrten Weg gegangen: Die materielle Lage der Arbeitslosen wurde verschlechtert und die Zwangsverpflichtung zur Arbeit als Bedingung für den Erhalt der ungekürzten »Grundsicherung« ist keine »Förderung« sinnvoller Betätigung, sondern unter den Bedingungen fehlender Erwerbsarbeitsplätze deren Verhinderung. »Wenn Sie heute Hartz-IV-Bezieher sind, dann sind Sie schon fast im offenen Strafvollzug«, so Götz Werner, einer der erfolgreichsten deutschen Unternehmer und engagierter Vorkämpfer für ein bedingungsloses Grundeinkommen.(9)

Arbeitslosigkeit und Grundeinkommen

Soziale Sicherheit und das Recht auf Arbeit sind in der UNO-Deklaration von 1948 als allgemeine Menschenrechte formuliert. Die Bundesrepublik hat sich auf diese Grundrechte verpflichtet und versteht sich als sozialer und demokratischer Bundesstaat.

Die Wirtschaft in einem sozialen Gemeinwesen muss alle Bürger erhalten und nicht nur einen Teil. Da es keine andere Wertschöpfungsquelle als die Wirtschaft gibt (von selbstversorgerischen kleinräumigen Betätigungen abgesehen), ist dies ein unverzichtbarer Bestandteil der demokratischen Grundordnung. Das Ausgrenzen von Bürgern ist ein Verfassungsbruch. Man kann zwar Menschen aus dem Wirtschaftsprozess wegrationalisieren, nicht jedoch aus dem Leben.

Die arbeitsteilige Organisation der modernen Wirtschaft führt zu einer Abhängigkeit des Einzelnen vom Funktionieren des Ganzen, die diesem Einzelnen dauerhaft nur zumutbar ist, wenn die damit verlorene Selbständigkeit durch eine alle umfassende Solidarität ausgeglichen wird. Insofern ist die gesellschaftliche Verantwortung für die Arbeitslosigkeit nicht nur ein sozialer Akt, sondern eine konstitutiver Teil der modernen Wirtschaft selbst. Weniger denn je kann Arbeitslosigkeit dem Einzelnen heute als individuelles Problem oder gar Versagen zugerechnet werden.

Das Recht auf Arbeit kann unter den Bedingungen sich verringernder klassischer Erwerbsarbeit nicht als Recht auf einen Erwerbsarbeitsplatz verwirklicht werden, sondern nur als Recht auf ein Einkommen, das es möglich macht, sich mit seinen Fähigkeiten dort einzubringen, wo diese wirklich gebraucht werden. Das ist in hohem Maße in der Nicht-Ökonomie der Fall.

Zu beantworten bleibt die Frage, ob das Grundeinkommen bedingungslos gezahlt wird oder ob es an bestimmte Bedingungen, etwa den Nachweis einer bestimmten Stundenzahl geleisteter gemeinnütziger Arbeit geknüpft sein soll.(10) Gegen solche Bedingtheit spricht allerdings schon das Menschenrecht, das verlangt, jedem das Existenzminimum zu sichern. Allenfalls könnte eine zweite höhere Grundeinkommensstufe an die genannten Bedingungen geknüpft werden. Dagegen spricht jedoch das damit verbundene Kontrollproblem, das ein mögliches Einfallstor kleinlicher Bürokratie bildet.

Wesentlich ist eine wirklichen Freiraum schaffende Bemessung des Grundeinkommens. Denn es gibt eben auch »Grundeinkommensbefürworter«, die mit einem Geringsteinkommen alle weiteren sozialen Ansprüche erledigen und im Übrigen »den Markt« wirken lassen wollen.

Neben der Frage nach der Bedingungslosigkeit des Grundeinkommens gibt es noch eine Reihe weiterer Fragen wie diejenige, ob es nur als ergänzendes Einkommen gezahlt werden soll, wenn ein ausreichendes Erwerbseinkommen nicht erzielt werden kann, oder ob es als Sockeleinkommen jedem Menschen ausgezahlt werden soll. Auf das Pro und Kontra hierzu kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden, bei beiden Varianten gibt es eine zu lösende Finanzierungsfrage.(11)

Finanzierung durch mehrwertsteuerartige Belastung des Verbrauchs (verbrauchsorientierter Sozialausgleich)

Bei abnehmender Erwerbsarbeit kann die Finanzierung immer weniger bei Arbeitgebern und Arbeitnehmerbeiträgen ansetzen.

? Dass die Erwerbsarbeit die Basis der Finanzierung von Renten-, Arbeitslosen-, Kranken- und Pflegeversicherung ist, erscheint paradox in einer Situation, in der ? wegen Arbeitslosigkeit und Überalterung ? immer weniger Menschen einer solchen Erwerbsarbeit nachgehen. In der gegenwärtigen Debatte wird deshalb mit Recht immer wieder gefragt, ob nicht die Steuerfinanzierung der Sozialsysteme die bessere Lösung sei, weil sie alle Einkommensarten abschöpft, während sich heute allein Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Versicherungsbeiträge teilen. Viele verlangen zumindest die Auslagerung der so genannten versicherungsfremden Leistungen aus den Sozialversicherungen.

? Durch die heutige Art der Finanzierung der Kosten der Arbeitslosigkeit entsteht nicht nur ein massives ökonomisches Problem, sondern auch eine schlimme Gerechtigkeitslücke. Denn entscheidende Profiteure von Produktivitätssteigerung und Rationalisierung werden zur Abgeltung der durch dieselbe Rationalisierung entstehenden Kosten nicht mit herangezogen (Bezieher von Einkünften aus Kapitalvermögen etc.). Gerade hier entsteht eine besondere Notwendigkeit zur Heranziehung aller Bürger zur Finanzierung. Dies ist im Übrigen nicht nur eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, sondern auch eine solche der ökonomischen Sachgerechtigkeit. Wo durch die globale Konkurrenz eine Überbilligkeit der Güter eintritt, ist im Übrigen auch jeder der Verbraucher ein Profiteur der die Arbeitslosigkeit hervorrufenden Prozesse.

? Die gegenwärtige Form der Finanzierung bewirkt eine Verzerrung im globalen Wettbewerb: Indem wir einen erheblichen Teil der Sozialkosten als Lohnnebenkosten erheben, werden sie voll als Preisbestandteile wirksam. Im Preis jedes deutschen Produktes, gleich wo es vermarktet wird, stecken die rund 42 Prozent Lohnnebenkosten und damit Sozialaufwendungen. Gerade weil sich diese Belastung bei lohn ? und kapitalintensiven Produkten unterscheidet, werden Arbeitsplatzabbau und Arbeitsplatzverlagerung auf diese Weise ökonomisch zusätzlich prämiert. Das im Niedriglohnland produzierte Gut hat, wenn es nach Deutschland importiert wird, einen doppelten Vorteil: Es trägt im Preis nur die niedrigen Lohn- und Sozialkosten des Produktionslandes ? und tritt damit gegen Inlandsprodukte an, die den doppelten Nachteil der höheren Lohnkosten und der höheren Sozialkosten tragen müssen. Umgekehrt exportieren wir mit unseren Gütern, wo sie sich verkäuflich erweisen, unsere Sozialkosten in andere Länder.

Da es nur noch die Alternative: Arbeitsplatzverlagerung oder Lohn- und vor allem Sozialkürzungen zu geben scheint, entsteht Druck, die Sozialsysteme auf tendenziell immer niedrigerem Niveau anzugleichen.

So lange jedenfalls, als man die Bildung einer Weltregierung, die die Finanzhoheit des Staates durch eine Weltsteuer- und Weltsozialpolitik wiederherstellen könnte, für nicht wünschenswert oder jedenfalls nicht für realistisch hält, gibt es nur einen Weg, diesen Druck zu vermeiden: die Sozialkosten aus den Unternehmen auszulagern ? und stattdessen eine weitgehend wettbewerbs- und aufkommensneutrale beziehungsweise wettbewerbsentzerrende Form der Finanzierung zu entwickeln.

Modell eines verbrauchsorientierten Sozialausgleichs

Diese Form kann nur in einer mehrwertsteuerartigen Belastung des Verbrauchs (Sozialausgleich) bestehen, deren Wirkungsweise wir bereits 1999 im Einzelnen anhand der Umfinanzierung der Arbeitslosenversicherung dargestellt haben:(12)

? Durch eine mehrwertsteuerartige Belastung des Verbrauchs mit den Sozialkosten werden die Unternehmen zunächst entlastet. Diese Entlastung müssen sie im Preis an den Verbraucher weitergeben. Der Verbrauch wiederum wird mit den gleichen Kosten belastet, um welche die Unternehmen entlastet wurden. Es ergeben sich daher keine entscheidenden Veränderungen im Preisniveau. Diese Umverlagerung hat entscheidende Vorteile gegenüber der bisherigen Finanzierungsform der Sozialsysteme.

? Der Ausgabenbesteuerung (Sozialausgleich bzw. Sozialsteuer) unterliegen die Produkte nur im Inland. Die Exportwirtschaft trägt in ähnlicher Weise erhobene Sozialkosten des Exportlandes mit. Der Import wird mit den im Inland geltenden (von der Rechtsgemeinschaft vereinbarten) Sozialkosten belastet. Das Importprodukt wird preislich behandelt, als ob es unter den sozialen Umständen des Inlandes hergestellt worden wäre. Dadurch tritt eine Wettbewerbsentzerrung ein. Die Sozialkosten werden aus der Preiskonkurrenz ausgegrenzt. Das Niveau des sozialen Schutzes wird wieder zu einer Frage gesellschaftlicher Entscheidung durch die Rechtsgemeinschaft.

? Der ausgabenorientierte Sozialausgleich wirkt weitgehend aufkommensneutral. Er bevorteilt die lohn- gegenüber den kapitalintensiven Branchen ? und wirkt daher in der Richtung einer Maschinensteuer, ohne deren Nachteile aufzuweisen. Durch die Entlastung der Arbeit werden Rationalisierungen nicht verhindert ? das wäre ja auch wirtschaftlich nicht sinnvoll ?, sie stehen aber unter einem geringeren Druck und können daher eher sozialverträglich gestaltet werden. An manchen Stellen, an denen das zuletzt nicht mehr der Fall war, wird sich auch der Einsatz lebendiger Arbeit wieder »rechnen«.(13)

Das geschilderte Modell bietet sich zugleich als Einstieg in eine umfassendere Änderung der Staatsfinanzierung an. Bisher finanzieren sich die Staaten hauptsächlich aus Einkommenssteuern, hier im weitesten Sinne die Lohn- und Unternehmenssteuern einschließend.

Das Einkommenssteuerprinzip kommt heute an seine Grenze, weil Arbeitslose, Rentner und so weiter keine Lohnsteuern zahlen und weil andererseits die Unternehmen als Einkommensort nicht mehr fixierbar sind, sondern sich durch Abwanderung der Besteuerung ihrer Einnahmen entziehen können.

Während sich die Produktion weltweit organisiert, bleibt der Verbrauch in hohem Maße lokal. Der Verbrauch ist der natürliche Ansatzpunkt für jede Besteuerung. (Wir dürfen deshalb von mehrwertsteuerähnlichen Finanzierungsformen sprechen, weil die Mehrwertsteuer ? im Gegensatz zu ihrer Vorläuferin, der Allphasenumsatzsteuer ? wie eine Verbrauchssteuer wirkt, da sie letztlich zur Gänze den Endverbraucher belastet.)

Systematisch ist der Verbrauch schon deshalb der natürliche Ansatzpunkt, weil es sich um Besteuerung der Leistungsentnahme handelt ? und nicht um Besteuerung der Leistung. Leistung aber ist zu stimulieren und nicht zu bestrafen. Natürlicher Ansatzpunkt ist der Verbrauch aber auch deswegen, weil die Besteuerung immer Teilungsverhältnisse fixiert: Wie viel von der Wertschöpfung, das heißt der Masse der Verbrauchsgüter, erhält der Staat für seinen »Konsum«, wie viel die Rentner, das Bildungswesen, die Arbeitslosen und so weiter? Das Ausgabensteuerprinzip macht diese Teilungsverhältnisse transparent und damit gestaltbarer. Es ist auch ? pragmatisch betrachtet ? die einzige Möglichkeit, Geld im Land zu halten und Fonds für Bildung, Soziales und anderes bilden zu können.

? Ist Verbrauchsbesteuerung unsozial?

Der gewichtigste und immer wieder vorgetragene Einwand besteht im Hinweis auf die soziale Schieflage, die jede Ausweitung der Verbrauchsbesteuerung gegenüber der Einkommensbesteuerung erzeugen müsse.

? Bei der Umfinanzierung soll und muss sichergestellt werden, dass alle Entlastungen der Unternehmen im Preis weitergegeben werden. Zum Teil wird dafür der Wettbewerb sorgen, zum anderen Teil gezielte Maßnahmen.(14) Wenn auf diese Weise das Preisniveau bei der Umfinanzierung nur unwesentlich tangiert wird, tritt eine entscheidende Mehrbelastung für die genannten Gruppen nicht ein. Im Gegenteil: die Rente oder das Einkommen im Falle von »Arbeitslosigkeit«, das unter Globalisierungsbedingungen immer mehr gekürzt werden würde, bleibt nur auf diese Weise langfristig gesichert und erhalten.

? Das Argument, »die Großen« blieben ungeschoren, es treffe wieder einmal nur »die Kleinen«, verkennt, dass bereits heute alle Steuern letztlich beim Endverbraucher landen, nur dass dieser Vorgang verdeckt bleibt. Denn Unternehmen geben ihre steuerlichen Belastungen über die Preise weiter.(15)

? Richtig ist, dass die kleinen Einkommensbezieher alles für den Verbrauch ausgeben müssen, während andere einen Teil ihres Geldes »anlegen« können. Das heißt als praktisches Problem tritt auf, wie Michael Opielka zu Recht anmerkt, »dass vor allem bei den Wohlhabenderen ein beachtlicher Teil des Einkommens für Ausgaben verwendet wird, die mit den bisherigen und vorgeschlagenen Konsumbesteuerungen gar nicht erfasst werden, beispielsweise Immobilien und überhaupt Geldanlagen«.(16)

Hier liegt also in der Tat ein Problem der Ausgabenbesteuerung vor, das steuersystematisch nur dann gelöst werden könnte, wenn man bereits die Einkünfte aus Geldanlagen und Bodenbesitz »Ausgaben« gleichstellen würde, weil hier bereits nicht ein Leistungs-Gegenleistungsverhältnis, sondern eine Inanspruchnahme eines Teils des von anderen Geleisteten vorliegt. Solange man dieses Problem nicht löst, wird man auf eine Besteuerung hoher Einkommen kaum verzichten können. Opielka plädiert deshalb für »Mischmodelle«, also eine Kombination von Einkommens- und Ausgabenbesteuerung. Man wird dabei nur Acht geben müssen, dass man die wettbewerbsneutralisierende Funktion der mehrwertsteuerartigen Finanzierung dabei nicht wieder schwächt oder außer Kraft setzt.

Pragmatisch kann man argumentieren, dass die Gefahr der Kapitalflucht weitergehende Korrekturen, die letztlich das Geldsystem umgestalten würden, ? schwieriger macht, als es die Einführung eines mehrwertwertsteuerartigen Sozialausgleichs sein dürfte. Ihre Realisierung ist nur im Zusammenhang weitergehender Veränderungen ordnungspolitischer Rahmenbedingungen möglich. Man muss also jeweils zwischen Nahzielen, mittelfristigen und Fernzielen unterscheiden.

? Speziell dann, wenn man das Ausgabensteuerprinzip ausweitet, muss sichergestellt werden, dass eine Entlastung der Kleinverdiener eintritt, die funktionell die Progression der Einkommenssteuer ersetzt. Technisch kann dies zum Beispiel dadurch geschehen, dass Güter des täglichen Bedarfs mit einem niedrigeren Steuersatz versehen oder bestimmte Güter wie Kindernahrung ganz von der Besteuerung befreit werden. Das kennen wir ja im Prinzip heute schon (0 % bei Wohnungsmieten, 7 % bei Büchern und Lebensmitteln). Auch höhere Freibeträge bei der Einkommenssteuer, solange eine solche noch erhoben wird, würden eventuell entstehende Schieflagen korrigieren. Eine Kombination dieser Elemente ist ebenfalls möglich.

Auf dem Weg zum Sozialstaat von morgen

Die Alternative zu den Hartz-Reformen kann nur in einer grundlegenden Neugestaltung bestehen. Konnte man in den ersten Jahren von Rot-Grün noch hoffen, die damals propagierte Formel vom aktivierenden Sozialstaat laufe wirklich darauf hinaus, das Tätigwerden mündiger Menschen anregen und fördern zu wollen, so zeigt sich mit Hartz IV, dass »Fordern und Fördern« etwas ganz anderes meint: Prekarisierung, Arbeitszwang und Entwürdigung.

Dagegen geht es darum, den Raum zu schaffen, der es den Menschen ermöglicht, selbstbestimmt für andere tätig zu werden. Wobei entscheidende Aufgaben dieser Tätigkeit, wie wir gesehen haben, auf dem Felde der nichtgewerblichen Dienstleistungen zu suchen sind.

Ulrich Beck: »Wir müssen uns endlich reinen Wein einschenken: es gibt kein Zurück zur Vollbeschäftigung. Bürgerarbeit meint: Nichtmarktgängige, gemeinwohlorientierte Tätigkeitsfelder können und müssen erschlossen und zu einem neuen, sozial verführerischen Zentrum gesellschaftlicher Aktivität gebündelt werden. Warum nicht Themen wie Bildung, Umwelt, Gesundheit, Sterbehilfe, Betreuung von Obdachlosen, Asylbewerbern, Lernschwachen sowie Kunst und Kultur zum Gegenstand selbstorganisierter, grundfinanzierter Bürgerarbeit unter der Regie eines ?Gemeinwohlunternehmers? machen?«(17)

Es geht darum, die durch eine Umverlagerung der Finanzierung aufzubringenden Mittel in der richtigen Weise zu lenken, damit finanzierbar werde, was heute nicht finanzierbar ist. Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde in diese Richtung wirken. Kombilöhne dagegen nicht, weil diese wiederum nur für Erwerbsarbeitsplätze zur Verfügung stünden. Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde faktisch auch zu einem nicht zu unterschreitenden Lohnminimum führen, unabhängig davon, ob dieses nun gesetzlich festgeschrieben wird oder nicht. Und die von manchen durch ein Grundeinkommen befürchtete Tendenz zur Lohndrückerei lässt sich durch die Ausgestaltung des Grundeinkommens verhindern ? am einfachsten dadurch, dass es als Sockeleinkommen jedem zukommt.

Wie immer die Neugestaltung im Einzelnen aussieht: Die Finanzierbarkeit unter Globalisierungsbedingungen muss nachhaltig sichergestellt werden.

Es geht um eine Umverteilung der Gewinne aus der Steigerung der Arbeitsproduktivität, die »Arbeitslose« erst mit den finanziellen Mitteln ausstattet, selber aktiv zu werden, selber etwas zu unternehmen.(18) Dies würde durch ein bedingungsloses Grundeinkommen in angemessener Höhe gewährleistet sein. Damit würden Menschen, die bei einer kulturellen, sozialen oder ökologischen Non-Profit-Organisation tätig werden oder sich gemeinsam mit anderen an der Gründung einer solchen Einrichtung beteiligen wollen, ihr Sockeleinkommen selber mitbringen. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass wichtige Tätigkeiten in unterversorgten Aufgabenfeldern der Gesellschaft nur mit einem Minimaleinkommen ausgestattet werden sollen. Mit dem Grundeinkommen verbessern sich aber die Ausgangsbedingungen für eine angemessene Einkommensbildung in diesen Bereichen. Das Gleiche gilt für die Frage der Förderung selbstbestimmter Aus- und Weiterbildung.(19)

Der Einwand, viele Menschen seien zu dem nötigen Maß an eigener Initiative gar nicht bereit und in der Lage, sticht nicht. Initiative kann sicher nicht erzwungen, wohl aber gefördert werden. Und auf die Ermutigung und Förderung derjenigen, die zum Engagement bereit sind, kommt es eben an. Macht ein solches Modell erst einmal Schule, wird die Bereitschaft zur Initiative schon auch bei mehr Menschen entstehen, während wir heute Initiative lähmen, statt sie zu ermuntern.(20)

Vor Hartz IV haben wir die Höhe der Einkommen von Arbeitslosen am letzten Verdienst festgemacht ? was jetzt nur noch ganz kurzfristig gilt. Dabei machte dieser Ansatz Sinn, auch insofern es darum geht, Arbeitspotenziale nicht zu vergeuden. Wenn Qualifikationen ? und die dafür in der Vergangenheit erfolgten Investitionen ? nicht entwertet werden sollen, dann muss die Qualifikation für eine gewisse Zeit vorgehalten werden. In Zeiten, in denen Arbeitslosigkeit im Wesentlichen ein konjunkturelles Phänomen war, war das durch die alte Regelung im Sinne der Überbrückung von Kurzzeitarbeitslosigkeit einigermaßen gewährleistet. Nachdem es sich vermehrt um längerfristige Arbeitslosigkeit handelte, wurden viele Tätigkeiten, die eine solche Arbeitslosigkeit überbrücken könnten, deshalb nicht angenommen, weil bei geringerer Bezahlung das nächste Arbeitslosengeld nach diesem Betrag berechnet wurde. Das führte zu erheblicher Unflexibilität und demotivierten Arbeitslosen. Innerhalb des vor Hartz IV bestehenden Systems der Arbeitslosenversicherung hätte man diesem Problem dadurch begegnen können, indem man eine bestimmte Zeitdauer gesamthaft (kumuliert) festgelegt hätte, bis zu der die Erhaltung des bisherigen Mitarbeiter-Potenzials sinnvoll erscheint. Wer also vorübergehend eine andere, geringer bezahlte Tätigkeit angenommen hätte, hätte anschließend auf das alte Niveau der Ausgleichszahlungen zurückkehren können, bis der Zeitraum ausgeschöpft gewesen wäre. Erst nach diesem Zeitraum hätte man davon ausgehen können, dass die Qualifikation auch langfristig so nicht mehr benötigt wird. Dann wäre neu zu bestimmen gewesen, wie die vorhandenen Fähigkeiten für andere Aufgaben eingesetzt oder umgeschmolzen werden können oder welche neuen Qualifikationen sinnvollerweise erworben werden sollten.

Mit Hartz IV ist man nun einen anderen, verhängnisvollen Weg gegangen, demgegenüber die Alternative nur eine Radikalreform sein kann, in deren Rahmen auch das Problem der Erhaltung von Qualifikationen neu angegangen werden kann. Wie dies geschehen kann, das ist entscheidend davon abhängig, ob das bedingungslose Grundeinkommen eine angemessene Höhe erreicht. Als eine solche Höhe wird heute etwa durch Götz Werner ein Betrag von 1500 Euro angesehen. In diesem Fall wäre es vertretbar, die Absicherung des Einkommensausfalls bei Erwerbsarbeitslosigkeit durch individuelle Versicherungslösungen abzufedern, es also dem Einzelnen zu überlassen, wieweit er Vorsorge an dieser Stelle für nötig hält. Realistischerweise muss man allerdings erwarten, dass zunächst nur eine geringere Grundeinkommenshöhe politisch durchsetzbar sein wird. Als Einstiegsgröße wird häufig das heute gesetzlich festgelegte Existenzminimum von 7664 Euro pro Jahr und Person genannt. Solange eine angemessene Höhe des Grundeinkommens noch nicht gewährleistet ist, bleiben die heute in der Bewegung gegen Hartz IV erhobenen Forderungen gegen die rasche Absenkung des Einkommensniveaus der Arbeitslosen richtig und aktuell.

Der vorgeschlagene Ansatz soll also helfen, Transfers aktiv zu betreiben und dabei auch das objektiv bestehende Transferproblem von der Ökonomie in die Nicht-Ökonomie zu lösen. ? Um das Lenkungsproblem der Arbeitskraft in bedarfsbestimmte Tätigkeitsfelder zu lösen, wäre im Übrigen die Bildung regionaler Wirtschaftsorgane sehr sinnvoll (Bedarfserkennung, Vorschläge, Verabredungen usw.). An dieser Stelle könnte der Ansatz zu neuen Formen regionaler Kooperation entstehen. Der Regionalgedanke gewänne dadurch eine ordnungspolitische Dimension, während er heute oft nur als Konkurrenzgedanke der Regionen lebt, von denen eine jede möglichst viel Kapital und Kaufkraft anziehen will.

Ausblick

Auf eine Reihe von Fragen, die mit dem vorgeschlagenen Ansatz zusammenhängen, kann hier nur ein kurzer Ausblick gegeben werden. Dazu zählt die Frage nach den Chancen, die sich für die Länder des Global South für die Entwicklung von Sozialsystemen durch die Einführung eines Sozialausgleichs der geschilderten Art ergeben würde. Der mehrwertsteuerartige Sozialausgleich würde ? um nur eine Konsequenz zu nennen ? als Kaufkraft in diesen Ländern verbleiben, während ? bei gleichem Produktpreis ? die in den importierten Waren enthaltenen Sozialkostenanteile der Importländer heute in diese Ländern zurückfließen. Ein weiteres Thema ist das der Nutzung des potenziellen Zeitgewinns, den der Produktivitätsfortschritt bietet, durch Bildungs- und Sozialzeiten.(21)

Letztlich stoßen wir mit einer Neubesinnung des Problems der Arbeitslosigkeit an die Grenzen bisheriger Sichtweisen der Gesellschaft und der bisherigen gesellschaftlichen Praxis. Es geht um die Gestaltung einer Globalisierung mit menschlichem Antlitz, ihre ökonomischen, rechtlich-politischen und kulturellen Dimensionen. Es geht um Themen wie »solidarische Ökonomie«, »operatives Eigentum« und »Überwindung der Lohnarbeit«, um neue Horizonte jenseits von Marktfundamentalismus und staatlich-bürokratischer Reglementierung, um die Autonomie der Kultursphäre und die Vertiefung der Demokratie. Der neue Umgang mit dem Problem der Arbeitslosigkeit ist ein Schritt, der weitere Schritte gesellschaftlicher Umgestaltung nach sich ziehen und ermöglichen kann.

* Dieser Aufsatz entstand aus einem Vortrag des Autors bei einem Seminar zur Zukunftssicherung der Sozialsysteme in Bonn, 29./30. Januar 1999. Der Text wurde im Januar 2006 für die Kommune aktualisiert, besonders im Hinblick auf Hartz IV.

1

Das ist eine Quote von 12,1 Prozent (Presseinfo der Bundesagentur für Arbeit vom 31.1.06).

2

»Unter Berücksichtigung der Personen, die nicht in der Statistik erfasst werden, summiert sich das Ausmaß der Unterbeschäftigung im Jahr 2004 auf gut 7 Millionen.« (Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung »Die soziale Situation in Deutschland«, Kapitel »Arbeitsmarkt«: http://www.bpb.de/files/B19YYY.pdf)

3

Nach einer Studie des IAB betrugen die »gesamtfiskalischen Kosten« der Arbeitslosigkeit, bei denen ? was methodisch allerdings nicht unproblematisch ist ? die »Ausfälle« an Staatseinnahmen durch die Arbeitslosigkeit mitgerechnet werden, für 2003 82,7 Mrd. Euro (http://doku.iab.de/presse/2004/info_KostenALO.pdf). Die Einnahmen der Bundesagentur für Arbeit betrugen 56,9 Mrd. Euro, von denen 83,3 % aus Versicherungsbeiträgen stammten. (Ibd.)

4

Weltweit waren im Jahr 2003 nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in ihrem jüngsten Weltbeschäftigungsbericht 185,9 Millionen arbeitslos, die Unterbeschäftigten nicht mitgerechnet (FR, 23.01.04, http://www.fr-aktuell.de/ressorts/wirtschaft_und_boerse/wirtschaft/?cnt=375579). Ein überwiegender Teil dieser Menschen ist bereit, Beschäftigung zu einem Bruchteil der Lohnkosten in den entwickelten Ländern anzunehmen. Selbst bei weltweitem Wirtschaftswachstum werden immer weniger neue Arbeitsplätze geschaffen, die zur Armutsminderung beitragen könnten (»Schlüsselindikatoren des Arbeitsmarkts«, 4. Auflage. Der Bericht zeigt auch, dass die Hälfte aller Arbeitnehmer weltweit derzeit nicht mehr als zwei US-Dollar am Tag verdient; vgl. http://www.ilo.org/public/german/region/eurpro/bonn/aktuelles_kilm2005.htm).

5

So der Deutschland-Chef der Unternehmensberatung McKinsey, Herbert Henzler, bereits im Februar 1997 in einem Spiegel-Gespräch. Die Entwicklung hat ihm Recht gegeben.

6

Es ist unbestreitbar, dass die Umwelttechnik einen riesigen Markt der Zukunft darstellt. So formuliert z.B. eine Studie des Wuppertal-Instituts als langfristiges Ziel bis zum Jahre 2050 einen geringeren Verbrauch von bis zu 90 % bei Gas, Öl, Kohle und anderen nicht erneuerbaren Rohstoffen und eine entsprechende Reduzierung des Schadstoffausstoßes in Deutschland. (Zukunftsfähiges Deutschland. Ein Beitrag zur einer global nachhaltigen Entwicklung. Eine Studie des Wuppertal-Instituts im Auftrag von BUND und MISEREOR, Bonn 1995). Mittelfristig liegen hier mit Sicherheit große Wachstumspotenziale. Gleichzeitig muss man sich klarmachen, dass sich hierdurch an der dargestellten Problematik der Grenzen des Wachstums prinzipiell nichts ändert. Bei dem formulierten Ziel geht es letztlich nicht darum, die Summe der Güter und Dienstleistungen zu vermehren, sondern darum, die Produktion des bestehenden Produktionsvolumens nicht nur in kürzerer Zeit, sondern auch mit einem geringeren Aufwand an Energie und Rohstoffen zu leisten. Daher enthebt uns auch die Entwicklung der Umwelttechnik nicht der Aufgabe, das Problem der Rückverteilung der Produktivitätsgewinne grundsätzlich anzugehen.

7

Die Auswirkungen des demographischen Wandels auf den Arbeitsmarkt, in: CGW-Dialog, Ausgabe 01/Januar 2004. http://www.tu-chemnitz.de/chemnitz/vereine/cwg/dialog/2004/Heft104.pdf

8

Vgl. zu diesem Gesamtkomplex: Udo Herrmannstorfer: »Arbeitslosigkeit und die Verteilung der Produktivitätsgewinne. Praktische Schritte eines Auswegs«, in: ders.: Scheinmarktwirtschaft. Arbeit, Boden, Kapital und die Globalisierung der Wirtschaft, Stuttgart 1997, S. 143 ff.

9

In: 3Sat Kulturzeit Extra, 3.10.05, http://www.3sat.de/3sat.php (http://www.3sat.de/kulturzeit/specials/83772/).

10

Vgl. Werner Rätz, Dagmar Paternoga, Werner Steinbach: »Grundeinkommen: bedingungslos«, in: Attac-Basistexte Nr. 17, Hamburg 2005.

11

Siehe dazu: »Argumente für ein mehrwertsteuerartig finanziertes Bürgergrundgeld ? Zur Entideologisierung der Debatte um Steuern und Sozialsysteme«, in: Sozialimpulse, Nr. 3, Sept. 2005.

12

Vgl. Herrmannstorfer, Spehl, Strawe, a. a. O. Die Form eines Sozialausgleichs (Sozialsteuer) wurde auch deswegen vorgeschlagen, weil sie das Akzeptanzproblem lösen hilft (es geht um einen Solidaritätszuschlag für einen bestimmten Zweck und nicht um die Finanzierung des Staates schlechthin), und weil diese Form keine steuersystematischen Probleme bzw. Probleme im Kontext mit der europäischen Mehrwertsteuerharmonisierung mit sich bringt.

13

In welchem Maße das der Fall sein wird, hängt z. B. von der konkreten Ausgestaltung eines bedingungslosen Grundeinkommens ab, vgl. Anm. 9.

14

Mehr hierzu und zu weiteren Umsetzungsproblemen in meinem zitierten Aufsatz in Heft 3/05 der Zeitschrift Sozialimpulse.

15

»Eine ausschließliche Besteuerung des Konsums kann nicht zu höheren Preisen führen, denn alle Steuern, die gesamte Staatsquote, stecken bisher bereits in den Preisen. Wir leben vom Wertschöpfungsergebnis. Davon nimmt sich der Privatmensch seinen Teil genau wie die Gemeinschaft. Denn wenn meine Brille als Ware nur 50 Euro kostet, könnte ich mir ohne Steuern und Abgaben zwei Brillen zulegen. Aber weil der Staat für seine Leistungen quasi den Gegenwert einer dieser Brillen braucht, zahle ich die Staatsquote zwangsläufig mit.« (Götz Werner im Interview mit der FR: »Wir können den Menschen von der Arbeit befreien«, 25.9.05)

16

Michael Opielka: »Dreigliederung und Grundeinkommen«, in: Rundbrief Dreigliederung des sozialen Organismus, Heft 1/März 2005, S. 10.

17

Ulrich Beck: »Die Seele der Demokratie ? Wie wir Bürgerarbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren können«, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Nr. 6/7/98.

18

Es darf hier auch an einen Vorschlag von Peter Grottian erinnert werden (SZ, 18.9.98). Er schlug vor, einer Million Erwerbsloser im Rahmen eines Dreijahresprogramms durch vom Bund verbürgte Bankkredite (Arbeitsplatzkredite) die Aufnahme einer selbstgewählten Tätigkeit zu ermöglichen. Die effektiven Kosten eines solchen Programms veranschlagte er mit 15 Mrd. DM, also ca. 7,5 Mrd. Euro. Auch wenn das nur ein Anfang gewesen wäre: Jeder Euro wäre hier besser angelegt gewesen als im Milliardengrab Hartz IV. Laut Bericht der Welt am Sonntag werde der Bund 2005 29 Milliarden Euro für das Arbeitslosengeld II ausgeben, in 2006 sogar 31,5 Mrd. Euro. Das meldete ZDF heute am 8.10.05.

19

Ein Instrument solcher Förderung wären z. B. Bildungsgutscheine.

20

Wenigstens an einigen Stellen enthält der von Orio Giarini und Patrick M. Liedtke verfasste Report an den Club of Rome über das Dilemma der Beschäftigung (Wie wir arbeiten werden, 1998) ähnliche Gedankenrichtungen. Liedtke sagt hierüber in einem Interview, von Arbeitslosigkeit betroffene Menschen sollten die »Möglichkeit haben, selbst Tätigkeitsfelder zu suchen, die es ihnen ermöglichen, in der Grundsicherungsschicht Arbeit zu finden« ? als Beispiel für solche Tätigkeitsfelder führt er die Sanierung von Kinderspielplätzen an. (»Arbeit für alle«, in: »Arbeitslosigkeit ? Weg ins Ungewisse«, Flensburger Hefte 62, III/98, S. 31.) Die Auffassung von Liedtke, nicht Arbeitswilligen solle jede finanzielle Unterstützung verweigert werden (a. a. O., S. 31 f.) ist jedoch unverträglich mit den Menschenrechten.

21

Vgl. meinen Aufsatz: »Arbeitszeit ? Sozialzeit ? Freizeit. Ein Beitrag zur Überwindung der Arbeitslosigkeit«, in: Rundbrief Dreigliederung des sozialen Organismus, Nr. 4/Dezember 1994 und http://www.sozialimpulse.de/pdf-Dateien/Arbeitszeit_Sozialzeit_Freizeit.pdf

»Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur«, 3/2006