Michael Ackermann

Editorial

 

 

Krise ist immer und überall. Apokalyptische Tonlage und demagogische Sentenz ? manche hielten sie für 68er-Erfindungen ? beherrschen seit Rot-Grün weite Teile der Medien. Je geringer das historische Bewusstsein, umso dramatischer fällt die Ausmalung der Katastrophen aus. Auch in Frank Schirrmachers Minimum. Vom Vergehen und Neuentstehen unserer Gemeinschaft wimmelt es nur so von Sünden und Todsünden. Aus Katastrophen und Bränden sucht der FAZ-Herausgeber die Überlebensgemeinschaft Familie herauszudestillieren. Alles, was seinen reduktionistisch-biologistischen Argumentationsgang für die Ressource »sorgende Frau« stört, wird weggelassen. Das Wort Mobilität kommt in dieser Erweckungsschrift über die »Ausnahmeerscheinung« Familie bezeichnenderweise nicht vor.

Grassierende Arbeitslosigkeit; zunehmende Lebenskomplexität; Neustrukturierung der Zeitensembles zwischen Arbeit und Leben; Flexibilisierungs- und Mobilitätszwänge; infrastrukturelle, individualbiografische und geschlechtsspezifische Verwerfungen in den Bereichen Erziehung, Bildung, Aufmerksamkeit und Pflege; neue Muster von persönlichen Bindungen in einer alternden Gesellschaft ? all das kennt Schirrmacher nicht. Dafür findet es sich im »Siebten Familienbericht« der Bundesregierung (www.bmfsfj.de). Gegen den Untergangs-Wortrausch Schirrmachers wirkt das Soziologendeutsch angenehm differenziert. Dabei ist auf fast 600 Seiten auch dies zu erfahren: »Die Scheidungsraten waren im Berlin der 20er-Jahre höher als heute, der Anteil der unverheirateten jungen Erwachsenen war in etwa der heutigen Quote vergleichbar und auch das Heiratsalter lag kaum unter dem heutigen durchschnittlichen Heiratsalter. Damals wie heute wurde befürchtet, dass die Familie nicht mehr in der Lage sei, gemeinsame Güter herzustellen, die Regeneration und Reproduktion zu gewährleisten sowie auch die Sozialisation der Kinder zu sichern.«

Die Probleme sind also so ganz neu nicht. Neu ist auch nicht das Sinken der Geburtenrate, sie bewegt sich vielmehr schon seit Ende der Siebzigerjahre mit leichten Schwankungen auf fast gleich bleibendem niedrigem Niveau (undramatisch gegenüber den Abstürzen etwa in Italien oder Spanien). Die Polemiken in Sachen Werte- und Familienverfall riechen also ideologisch streng ? und sie halten etlichen Tatsachen kaum stand. Auch dem etwas zu bunten und schlagwortlastigen Band Die demografische Lage der Nation. Wie zukunftsfähig sind Deutschlands Regionen? (Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, dtv 34296) lässt sich entnehmen, dass die Geburtenraten aus den verschiedensten Gründen regional recht unterschiedlich ausfallen (das einmal als arm und zurückgeblieben geltende Oldenburger- und Emsland überrascht heute als Wachstumsregion). Durchschnittszahlen verbergen eben oft interessante Entwicklungen und begünstigen schlichte Argumentationen. Als vorbildliches Gegenstück wirkt da auch der Band Sind wir ein Volk? Ost- und Westdeutschland im Vergleich (becksche reihe 1656). In umsichtigen Studien über Wahlverhalten, Demokratiebindungen und generationelle Unterschiede zerplatzt nicht nur so manches aufgeblasene Vorurteil über die angeblich krassen deutsch-deutschen Differenzen.

Zurück zum »Familienbericht«. Die AutorInnen behaupten keineswegs, es gäbe keine Probleme. Mit Bezug auf die langen Wellen von Familie und Familienpolitik wollen sie vielmehr das Neue herausarbeiten, dass nämlich »die Balance zwischen Bildungs- und Berufsverläufen auf der einen Seite und der Entwicklung von Familienbeziehungen im Lebenslauf auf der anderen Seite ebenso kompliziert geworden ist wie die Organisation alltäglicher Erwerbsarbeit und die Fürsorge für Andere. Ohne neue Konzepte der Verknüpfung von Bildung, Beruf, Partnerschaft, Elternschaft und Solidarität mit der älteren Generation ist nicht auszuschließen, dass die Fürsorge für die nachwachsende Generation wie auch die Solidarität für die ältere Generation prekär wird.« Schon heute wohnen beispielsweise 20 Prozent der Nachwachsenden mit hohem Bildungsabschluss mehr als zwei Stunden von ihren Eltern entfernt. Auch auf diesem Hintergrund wird pointiert:

»Wir können davon ausgehen, dass das Modell geschlechter-segregierender Zeitstrukturen, der Arbeitsteilung zwischen Elternhaus und Schule und der klaren Trennung zwischen ökonomischer Verantwortung für die Familie und regenerativer Sozialisation keine Zukunft haben kann.« Es muss also nicht nur eine »neue Balance in Bezug auf die Neuorganisation von Zeitstrukturen« gefunden werden, es »bedarf auch einer neuen Integration zwischen Familien, Gemeinden, Arbeitsorten und Nachbarschaft«. Das ist eine ziemlich große Aufgabe. Für ihre Lösung sind die viel beschworenen »Werte«, mit denen auch in der Integrations-Debatte fahrlässig hantiert wird, wenig hilfreich. Es käme dagegen auf die Betonung und Durchsetzung der Einhaltung von Rechten und Regeln an. Der Furor der Ökonomie und die neuen Entwicklungen im Finanzmarkt-Kapitalismus (siehe »Thema«, »Schwerpunkt« und »Debatte« in dieser Ausgabe) wirken jedoch gerade in eine andere Richtung: Entwertung, Entrechtung, Entpflichtung, Entstaatlichung. Der »Verfall der Sitten« hat mit diesen Strukturen mehr zu tun, als so mancher Werte-Verfechter wahrhaben will.

»Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur«, 3/2006