Balduin Winter

Wahrheiten zum Irak

Nahost – Sackgasse und neue Brücken

 

Nach den Anschlägen vom 11. September wartete die US-Regierung nicht nur mit einer konkreten Antwort in Gestalt des Schlags gegen die Taliban auf, sondern auch mit einer ideologischen Konzeption in Gestalt der nationalen Sicherheitsstrategie von 2002. Darin kam die dem »unipolar moment« geschuldete militärische Überlegenheit zum Ausdruck, den die Führung für das »nationale Interesse« unbedingt nutzen wollte. Dieses Interesse wurde in der Vergangenheit unterschiedlich formuliert – von den Neokonservativen um Cheney, Bush und Wolfowitz jedoch mit unverhüllter Radikalität. Denn in diesem Dokument geht es zum einen um die umstrittene Selbstermächtigung zur Prävention und Präemption. Henry Kissinger bemerkte damals, dass dieser neue Ansatz »das gesamte System des Westfälischen Friedens von 1648 in Frage stellt« (Welt am Sonntag, 11.8.02). Zum anderen vermeidet es zwar die Nennung anderer Großmächte wie China oder Russland, legt jedoch größten Wert auf die globale militärische Führungsposition. Zum Dritten enthielt die NSS die Ausführungen über die Mission der Vereinigten Staaten, Freiheit und Demokratie zu exportieren. Damit war der Rahmen für eine neue Außenpolitik abgesteckt, nun wurden mit großem Optimismus Pläne für den Nahen und Mittleren Osten vorgestellt. Nach raschem Invasionserfolg im Irak geriet die Bush-Regierung jedoch in die Mühen der Besatzungsebene und immer tiefer ins Desaster. Auch ihre Nahostpläne (Road Map) liefen sich bald fest. Und die verhärtete Front im Iran-Konflikt äußerte sich im zeitweiligen Streuen von US-Angriffsgerüchten.

Vier Jahre später ist die Zuversicht geschwunden. Als im November 2006 der neue Verteidigungsminister Robert Gates bei seinem Amtsantritt befragt wird, ob der Irak-Krieg noch zu gewinnen sei, antwortet er mit einem lapidaren Nein. Das »Center for American Progress« und die Zeitschrift Foreign Policy erstellen seit 2006 einen »Terrorismus-Index« auf Basis einer Umfrage unter 116 namhaften US-Sicherheitsexperten, einem Who’s who US-amerikanischer Politikprominenz aller Couleurs (»The Terrorism Index«, Foreign Policy online, 13.2.07). Die Bilanz ist ernüchternd. Hat schon in der Bevölkerung das Misstrauen gegenüber Bush und seinem war on terror deutlich zugenommen, so ist die Stimmung bei den Fachleuten noch pessimistischer. 75 Prozent sind der Meinung, dass die USA den Krieg gegen den Terror verlieren werden, 87 Prozent, dass die US-Diplomatie versagt habe, und gleich 92 Prozent attestieren der Regierung Bush, im Irak »unterdurchschnittliche Arbeit« geleistet zu haben; sechs von zehn Befragten sagen sogar, dass sie den »schlimmstmöglichen Job« abliefere. Als wichtigstes Ziel der US-Außenpolitik für die nächsten fünf Jahre steht bei den Experten die »Denuklearisierung der koreanischen Halbinsel« an der Spitze (26 %), gefolgt von einem stabilisierten Irak (17 %) und einem an der Urananreicherung gehinderten Iran (12 %). Aber drei Viertel meinen im selben Atemzug, die US-Politik gegenüber Pjöngjang werde versagen.

Zahlreiche Einzelaussagen ähnlicher Art liegen auch zum und aus dem Nahen Osten vor. Kürzlich erst hat Yossi Alpher, Ex-Direktor des Jaffee Center for Strategic Studies an der Tel Aviv University, festgestellt, dass sich die Bush-Regierung in der Region diskreditiert hat. »Es gibt kein israelisches Interesse, dem durch die fortwährende US-Präsenz im Irak gedient wird«, sagt Mark A. Heller vom selben Institut.

Nun ist es nicht so, dass deshalb »das Reich des Bösen kurz vor seinem Ende steht, und eine neue Morgendämmerung bald über die Menschheit aufzieht«, wie der al-Qaida-Vize Ayman Al-Zawahiri in einer Video-Botschaft verkündet (memri.org, 8.5.). Umgekehrt hilft auch der republikanische Fundamentalismus des Hobbesianers Robert Kagan nicht weiter, der in den Blättern ... 4/07 (»Macht und Mission«) predigt: »Weil es Amerika ist, das die Wahrheit über die Menschheit entdeckte und weiß, was Recht und was Unrecht ist, deshalb ist, was gut für Amerika ist, gut für die Welt.« Das ist nicht einfach eine von zahlreichen Peinlichkeiten, sondern eines von zahlreichen Beispielen nationalmythologischer Zuschreibung, die nicht zuletzt dazu dienen, auch individuelle Gewaltakte von US-Bürgern – etwa bei der historischen Westexpansion – als Bürgerrechtsakte zu decouvrieren.

Natürlich gibt es in den Vereinigten Staaten noch andere »Wahrheiten«. In einem Dossier der Frühlingsnummer von Michael Walzers Dissent Magazine setzen sich linke und liberale Intellektuelle mit der Frage »Exporting Democracy: What Have We Learned from Iraq?« auseinander. Die Ausgangspositionen der AutorInnen sind unterschiedlich, manche haben zunächst die Irak-Invasion unterstützt wie etwa Paul Berman.

»Demokratie kann nicht und sollte nicht mit militärischen Mitteln exportiert werden; der Versuch ist ethisch ein Widerspruch und politisch fruchtlos.« Diese Position, formuliert von Daniele Archibugi, Forschungsdirektor beim Nationalen Forschungsrat in Rom, wird von der Mehrzahl der acht BeiträgerInnen vertreten. Archibugi konterkariert Robert Kagans Hobbes-Kant-Symbolik für die unterschiedlichen internationalen Strategien der USA und Europas, indem er den kriegerischen Weg des Demokratie-Exports der USA nachzeichnet. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs habe sie dieses Ziel nur in Grenada und Panama erreicht, ansonsten gebe es eine lange Liste gescheiterter militärischer Besetzungen. Er führt Länder an, wo trotz langer Truppenpräsenz nur Diktatoren herrschten (Südkorea) oder wo die USA gar nicht erst nach demokratischen Verhältnissen trachteten (Südvietnam, Kambodscha); nicht einmal in Haiti und in der Dominikanischen Republik konnten die USA ein stabiles demokratisches Klima schaffen. Die letzten echten Erfolge waren Deutschland, Italien und Japan. Freilich blendet der Europäer Archibugi den »Kalten Krieg« aus, den die politische Klasse der USA auf ihre Konten bucht.

Ein anderer mehrfach aufgeworfener Schwerpunkt ist »die völlige Unkenntnis oder Missachtung der jüngeren Geschichte der Region«, so Ofra Bengio vom Dayan Center for Middle Eastern and African Studies an der Tel Aviv University. Großbritannien habe als Kolonialmacht die Umgestaltung in den 1920er-Jahren versucht; dieses Projekt habe als »christlicher Imperialismus« tiefe Narben im kollektiven Gedächtnis hinterlassen, zumal keine zivile Basis für eine Demokratie nach westlichen Vorstellungen existiere. Um den Irak herum warten heute verschiedene islamistische Kräfte nur auf ihre Chance, und im Irak gab und gibt es jede Menge Kräfte, die sie rufen würden. Heute streiten drei Staatsvorstellungen im Irak, und nur in der kurdischen (Teil-)Lösung hat die Demokratie eine Hoffnung. Der ehemalige US-Diplomat in Jemen, John Lister, präzisierte diese Kritik, wie man bei Bagdad ganz konkret eine schiitisch-sunnitische Koalition hätte erreichen können. Diese hätte westlichen Idealen nicht entsprochen, aber beide Konfessionen und (nicht gewählte) Stammesälteste einbezogen, über die Konfessionsgrenzen hätten Brücken geschlagen werden können. Die Initiative war auf beiden Seiten vorhanden, der mögliche Friedensfunke wurde jedoch von den Besatzern unterbunden.

Seyla Benhabib von der Yale University stellt das US-amerikanische Rechtsbewusstsein in Frage. Edmund Burke habe seinerzeit erfolgreich verhindern können, dass ein Mitglied der britischen Kolonialführung in Indien zum englischen Parlament kandidieren durfte: Der Gesetzesbrecher im Ausland dürfe nicht Gesetzgeber im Inland sein. Dagegen seien in den USA jene, die über 3.000 tote US-Soldaten, über 150.000 tote Iraker, drei Millionen Flüchtlinge und Guantánamo und Abu Ghraib zu verantworten haben, immer noch für die Gesetzgebung zuständig. Das wirkt aber letztlich eher moralisierend; sie hätte zwar Saddam Hussein vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag sehen mögen, geht jedoch nicht weiter auf die Selbstermächtigung ein, mit der die Neocons internationale Rechtsmaßstäbe speziell für US-amerikanische Ansprüche verrückt haben.

Paul Berman bescheinigt der Bush-Regierung im Nahen und Mittleren Osten aufrichtige Demokratie-Absichten. 60 Jahre lang habe die US-Außenpolitik immer nur Tyrannen unterstützt, ohne dass sie dadurch Stabilität in dieser Region herzustellen vermochte. Diese Politik der »schädlichen Stabilität« brachte schädliche Folgen hervor: Die USA akzeptierten den Baathismus im Irak, obwohl das »eine Spielart des Faschismus« war, ließen die Kurden Mitte der Siebziger fallen, unterstützten Saddam gegen den Iran, unternahmen nichts angesichts der Giftgasmassaker gegen die Kurden und fügten noch dem irakischen Volk mit den Sanktionen nach 1991 Schaden zu, so dass die irakische Gesellschaft in eine »schreckliche Spirale nach unten« fiel.

Diese schädliche Tradition versuchte Präsident Bush, so Berman, »hochkant zu stellen« – mit schweren Fehlern, einer hastig zusammengezimmerten Politik im Nahen Osten und einer inkohärenten Doktrin. Die Verwaltung befand sich »im Griff eines Glaubens an einen magischen Hegelianismus«, wie von der fixen Idee eines »Endes der Geschichte« gepackt, als würde die Demokratie sich von selbst einführen. Es herrschte das gleiche konzeptlose Laissez-faire wie in New Orleans, dazu ein Irrglaube an militärische Hochtechnologie, so dass man meinte, mit wenig Truppen und wenig Regieren zurechtkommen zu können. Aber der Irak ist nicht Panama, wo tatsächlich alles leichter ging. Große Widersprüche klafften zwischen den demokratischen Zielvorstellungen und ihrer Umsetzung. »Weil eine Regierung eine demokratische Hoffnung hegt, heißt das noch lange nicht, dass sie in der Verfolgung ihrer Ziele politisch rationell und effizient handeln wird. ... Der Einfluss der Absurdität auf die Geschichte ist ein durchwegs unterschätzter Faktor, eine Tendenz, die zu Hegel zurückverfolgt werden kann, der dachte, dass die Geschichte selbst intelligent sei.«

Bermans Meinung nach haben »ideologische Elemente« der Neokonservativen dieser Absurdität Gestalt und Form gegeben. Nur sehr wenige haben die Doktrinen des Baathismus und des radikalen Islamismus studiert. Aber man kann im Westen sehr viel Fantasievolles dazu lesen. Das heißt: Die ideologische Auseinandersetzung wird kaum geführt: »Wir sollten uns für die Arbeit der Ideologiekritik engagieren.«

Andrerseits wurde unglaublich wenig getan, um die Bedeutung der Demokratie zu erklären. »Demokratie ist nicht nur ein System von Verfahren und eine Sache von Einrichtungen.« Dieses instrumentelle Verständnis aber herrscht nicht nur bei den Neokonservativen vor. »Demokratie ist vor allem eine Weltanschauung, und diese muss erklärt werden, eine Weltanschauung, die auf Vernunft und Kritik beruht, individuelle Rechte garantiert und so weiter.« Die Regierung Bush mit ihrem Glauben an magische Lösungen sei gescheitert. Aber seltsam: Niemand von links habe den Job aufgenommen. Die Liberalen und Freidenker der arabischen und muslimischen Welt würden allein gelassen. »Aber sollten wir«, schreibt Berman, »nicht ähnlich handeln wie während des Kalten Krieges, als wir die Dissidenten in Osteuropa zu verteidigen versuchten?«

Hier im Westen sei die Auffassung verbreitet, dass die arabischen Länder ein zivilisatorisches Niveau nicht erreichen können, das sie überhaupt erst zur Demokratie befähigt. Diese Haltung finde man bei Rechten, aber auch oft bei linken Multikulturalisten. Wichtig sei jedoch, die Politik der schädlichen Stabilität zu widerlegen, die Demagogien böser Ideologien zu entmystifizieren, die Grundsätze des liberalen Denkens zu erklären, eine intellektuelle Basis für eine demokratische Zukunft zu legen und »eine Brücke der Solidarität zu den authentischen Liberalen der arabischen und muslimischen Welt zu schlagen, die von den USA und den anderen westlichen Regierungen, sogar von den westlichen linken und liberalen Intellektuellen, verraten worden sind«.

Vielleicht öffnet die relative Schwäche der Vereinigten Staaten überhaupt erst neue Möglichkeiten im Nahen und Mittleren Osten. In der gesteigerten Rivalität um die Hegemonie am Golf – die US-Politik hat dort den Iran stark gemacht – haben sich die Saudis in letzter Zeit vermehrt außenpolitisch eingeschaltet (siehe dazu Marcel Potts Essay »Die neue Lage in Nahost«, Aus Politik und Zeitgeschichte, 19/07). Sie suchen nach einer Verständigung mit dem Iran über den Irak, haben zur palästinensischen Einheitsregierung beigetragen und den »arabischen Friedensplan« für Palästina von 2002 wieder ins Spiel gebracht. Israel hat die Gespräche mit Syrien wieder aufgenommen, vielleicht steigen auch die USA in mehr als Tischgespräche ein. Und Amos Oz hat seine Landsleute aufgefordert, endlich gründlich und ernsthaft über die alte Flüchtlingsfrage nachzudenken und sie zu lösen (FAZ, 11.5.): »Es gibt keinen Aufschub mehr.«

Aus: Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur – Ausgabe 3/2007