Thorsten Hasenritter

Monitoring Mohammed

Von der Islamfähigkeit der Demokratie

 

 

Körperschaftsstatus für den Islam und islamische theologische Fakultäten? »Langfristig« könne sich Innenminister Schäuble das vorstellen. Doch trotz der positiven Signale der Islamkonferenzen ist die Demokratiefähigkeit des Islams umstritten – ist er überhaupt diskursfähig? Sein dogmatisches Marschgepäck lässt es bezweifeln. Auch viele Muslime sehen keine Kompatibilität mit dem Grundgesetz. Unser Autor dreht die Frage um: Ist unsere Demokratie islamfähig? Und welcher Voraussetzungen bedarf sie für diesen Diskurs?

Muslime in Deutschland sollen sich als deutsche Muslime fühlen können. Sie sollen als Bürger eines religiös neutralen, aber nicht religionsfreien demokratischen Rechtsstaats gefeit sein können gegen die Verlockungen und Irrwege terroristischer Extremisten«, formulierte Wolfgang Schäuble in seinem Eröffnungsvortrag die Ziele der Islamkonferenz. Auch wenn sich der deutsche Staat seiner Verwurzelung in der christlichen Überlieferung bewusst ist, spreche dies nicht dagegen, dass auch die Muslime unser Gemeinwesen verantwortungsvoll mitgestalten. Allerdings müssen zuvor die verfassungsmäßigen Grundrechte und Grundprinzipien akzeptiert werden. Auf deren Basis allein lasse sich ausloten, was Deutsche gleich welcher Weltanschauung miteinander verbindet. Gegen einen Laizismus nach französischem Vorbild brachte Schäuble das berühmte Böckenförde-Zitat in Stellung, wonach der moderne Verfassungsstaat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann und daher aus inneren Antrieben und Bindungskräften leben muss, die der religiöse Glaube seiner Bürger vermittelt.

Der Islam könne hier entscheidende Beiträge leisten, vor allem wegen der »… Betonung der Wichtigkeit von Familie, dem Respekt vor den Alten, eines Bewusstseins und Stolzes mit Blick auf Geschichte, Kultur, Religion, Tradition, das tägliche Leben der Glaubensüberzeugungen«. Freilich fehlten in Schäubles Rede auch jene wohlgesetzten Polemiken und Warnungen an einen Islam nicht, der die Menschenrechte zugunsten religiöser Normbehauptungen suspendiert.

Diskursfähigkeit = Demokratiefähigkeit

Der übergreifende Konsens lautet: Die westlichen Gesellschaften und der Islam sind zum Dialog verdammt. Dies umso mehr, als das Alternativ-Szenario unter dem Label Kampf der Kulturen längst etabliert ist. Würde man auf diesen Dialog mit den 3,4 Millionen in Deutschland lebenden Muslime verzichten, hätte das eine gesellschaftlich destabilisierende Wirkung. Aus dem Blickwinkel der inneren Sicherheit fallen 32.000 als islamistisch eingestufte Gläubige ins Gewicht. Nicht zuletzt jedoch rechtfertigt der Gleichheitsgrundsatz der Verfassung mehr Bemühen um Integration.

Im Gefolge dieser Einsichten wird meist die Frage gestellt: Ist der Islam demokratiefähig? Dabei wird ein impliziter Zusammenhang zwischen der Einhaltung von Diskursregeln und den Prinzipien rechtstaatlicher Demokratien hergestellt, wie dies etwa von Jürgen Habermas vertreten wird.(1) Danach gilt für moderne Demokratien, dass nur solche Entscheidungen Legitimität beanspruchen können, die unter Einhaltung bestimmter Verfahren zu Stande gekommen sind. Diese Verfahren müssen ihrerseits unter diskursiven Bedingungen beschlossen worden sein; also unter Bedingungen, die eine Teilnahme aller davon Betroffenen ermöglichen. Politische Entscheidungen selbst müssen also nicht mehr unter moralischen Gesichtspunkten ausweisbar sein, sondern die Verfahren ihres Zustandekommens. Für unser Thema heißt das: Wenn die Verfassungen moderner Demokratien auf diskursiven Voraussetzungen beruhen, kann man sagen: Wenn der Islam diskursfähig ist, dann müsste er auch demokratiefähig sein. Das gilt natürlich auch umgekehrt.

Ein weiteres Charakteristikum des Diskurses besteht in seinem Wesen als reflexiver Lernmechanismus. Indem sich die Teilnehmer eines Diskurses in einer von Handlungsdruck entlasteten Situation über gemeinsame Handlungsregeln verständigen, vermeiden sie den Umweg über möglicherweise schmerzvolle Erfahrungen. Damit verbindet sich die Hoffnung auf eine Rationalisierung der Positionen. Denn jedem Teilnehmer, der sich auf einen öffentlichen Diskurs einlässt, stehen bestimmte Regeln, auf die er sich damit einlässt, nicht zur Disposition. Denn Behauptungen, die im öffentlichen Raum aufgestellt werden, setzen sich einem Problematisierungssog aus, der letztlich keine anderen als öffentlich zugängliche Gründe zur Einlösung des behaupteten Wahrheitsanspruchs zulässt. Wenn also eine Religionsgemeinschaft im öffentlichen Raum vorträgt, auf welche Weise sie am gesellschaftlichen Leben und damit an der Verfassungswirklichkeit teilnehmen will, muss sie das auf eine Weise tun, die für ihre Aussagen keine Exklusivität der Erkenntnisquellen in Anspruch nimmt. Nur jene im Gespräch einsichtig gemachten Argumente dienen als Wahrheitsquelle, nicht der Verweis auf eine andernorts geoffenbarte, vorgängige Wahrheit.

In diesem Licht erscheint die Islamkonferenz als ein diskurstheoretisches Freiluftexperiment. Hier werden Repräsentanten von Geisteshaltungen aus der Binnenrationalität religiöser Welten oder der Anonymität von Parallelgesellschaften in die Sphäre der politischen Öffentlichkeit geholt.

Sein dogmatisches Marschgepäck macht den Islam nicht zum idealen Kandidaten für eine diskursive Verständigung. Im Gegensatz zu den christlichen Kirchen ist es dem Islam nicht gelungen, einen gegenüber der spirituellen Welt eigenständigen Begriff von Weltlichkeit zu entwickeln. Zwar gibt es liberale Gruppierungen wie die Aleviten, und in letzter Zeit sind sogar Regungen zu beobachten, die in Richtung eines für Frauen emanzipatorischen Islams zielen. Diese sind aber in der Minderheit. Sehr deutlich kam das in der »Kairoer Erklärung der Menschenrechte« von 1990 zum Ausdruck. Damals zeichneten die 45 Außenminister der »Islamischen Konferenz« eine Charta, der zufolge alle Rechte und Freiheiten der Scharia unterstehen, die zugleich als einzige Quelle für deren Auslegung fungiert. Nicht das Individuum, sondern das Kollektiv, die islamische Umma, ist der Ausgangspunkt der islamischen Menschenrechte. Das Dokument ist ein Hinweis auf die Breite des Grabens zwischen Islam und westlicher Moderne, der zum Teil mehr als 200 Jahre misst.

Wo keine Emanzipation gegenüber dem Schöpfer errungen wird, bleibt diese auch auf Erden aus: Die Gleichheit von Männern und Frauen steht ebenso in Frage wie die zwischen Gläubigen und Ungläubigen, Erwachsenen und Kindern. Gleichheit aber ist die Voraussetzung zum Diskurs. Ein beträchtlicher Teil der Ängste vor dem Islam dürfte dessen non-egalitaristischer Seite geschuldet sein. Diese kontrastiert scharf mit dem westlichen Demokratie- und Gesellschaftsverständnis, wie es sich seit der französischen Revolution entwickelt hat. Die Gleichheitsintuition strahlt in alle Bereiche des modernen Staatsdenkens aus. Sie bildet ein zentrales Erbstück moderner Gesellschaftstheorien und ist der Taktgeber aller sozial- und wohlfahrtstaatlichen Konzepte. Hönigsberger zeigt, dass ein republikanisches Konzept unter demokratischen Vorzeichen nur ausgehend von egalitären Voraussetzungen, deren Urbild er im Wahlrecht sieht, widerspruchsfrei zu denken ist: »Die demokratisch-republikanische Schlussfolgerung für die sozialen Sicherungssysteme setzt an dieser staatsbürgerlichen Gleichheit an.«(2)

Islam aus Binnen- und Außenperspektive

Auch von westlich orientierten Moslems werden schwere Bedenken hinsichtlich einer Kompatibilität des Islams mit dem Grundgesetz geäußert. Ferhad Ibrahim, Dozent am politikwissenschaftlichen Institut der Freien Universität Berlin, meint: »Die islamischen traditionellen Werte können demnach nicht als Grundlage eines modernen Gemeinwesens fungieren.«(3) Sonderrechte für Religionsgruppen hält er darum auch für einen Irrweg. Der in Damaskus geborene Politologe Bassam Tibi meint: »Islamische Orthodoxie und Grundgesetz, das geht nicht.«(4) Die ehemalige niederländische Abgeordnete Ayaan Hirsi Ali stellt fest, »… dass der Islam mit der liberalen Gesellschaft, wie sie sich im Gefolge der Aufklärung herausgebildet hat, nicht vereinbar ist.«(5) Alle drei konvergieren zudem in der Ansicht, wonach das größte Problem innerhalb des Islams darin besteht, dass seine Vertreter diese mangelnde Kompatibilität mit der Moderne eisern verschweigen oder gar verdrängen. Unterschiedlich werden die Chancen und Auswirkungen eines interkulturellen Dialogs eingeschätzt. Während Bassam Tibi unerschütterlich an die Genese eines Euroislams glaubt, der ein eigenes Zentrum islamischer Selbstverständigung im Westen ausbildet, ist sich Ibrahim sicher, dass der entscheidende Einfluss auf die 12 Millionen in Europa lebenden Muslime auch in Zukunft von der islamischen Welt ausgehen wird.

Die Variante einer exterritorial gesteuerten 12 Millionen Menschen großen Gruppe bereitet vielen Europäern schlaflose Nächte. Dabei dient die Religion oftmals nur als eine Trägerfrequenz für politische Ambitionen. Nicht überall, wo Islam draufsteht, steckt auch Islam drin. Martin Altmeyer wies darauf hin, dass »… sich in weiten Teilen der islamischen Welt Massenbewegungen mit faschistischen Zügen gebildet haben …«(6) Deren Ideologie kommt in einem Amalgam aus faschistischen und kommunistischen Versatzstücken daher und bildet letztlich auch den Legitimationsbaukasten für sich islamistisch gebende Terrororganisationen. Die demografische Potenz im Verein mit der politischen-kulturellen Virulenz sollte Anlass sein, die selbstgenügsame Frage nach der Demokratiefähigkeit des Islams einmal umzudrehen und die eigentlich wichtige Frage stellen: Ist die Demokratie islamfähig?

Gerade weil es zu einem Diskurs mit dem Islam wohl noch zu früh ist, fordert der Handlungsdruck Alternativen. Nicht wenige setzen dabei auf einen befruchtenden Dialog zwischen Islam und christlicher Kirche.(7) Damit hat man freilich nicht nur Nachhilfestunden in der Befriedung mit einer säkularisierten Gesellschaft im Auge. Zu denken ist auch an jene, dogmatische Gräben überwindende Diskurse, wie sie nur zwischen Kirchen stattfinden können. So gelang es im Jahre 1999, den Streit über die Rechtfertigungslehre beizulegen, den Protestanten und Katholiken seit 500 Jahren ausfochten.

Kulturelle Imprägnierungen

Unterhalb der diskursiven Schwelle scheinen andere an so etwas wie kulturelle Imprägnierungen für den Zusammenstoß mit dogmatisch verfassten Gruppen zu denken. So äußerte Kardinal Kasper in einem Gespräch mit dem Philosophen Peter Sloterdijk die Ansicht, dass der Westen seinen eigenen, christlichen Glauben wieder entdecken müsse, um in der Auseinandersetzung mit dem Islam bestehen zu können.(8) Eine Position, die sein Gesprächspartner nur insoweit teilte, als auch er eine lauwarm säkularisierte Gesellschaft dem Islam unterlegen wähnt. Die Ursache liegt für Sloterdijk aber in der Verkümmerung thymotischer Wesenskräfte in der westlichen Kultur; also der positiven Betonung von Stolz, Ehre oder Rache. Stattdessen habe man sich 2000 Jahre lang in christlicher Demutsethik eingeübt.

Moderne Gesellschaften, die sich reflexiv zu ihrer Überlieferung verhalten und deren Integration vom fragilen Modus kommunikativer Verständigung abhängig ist, geraten zweifellos unter Druck, wenn traditionale Bevölkerungsgruppen hinzustoßen. Mahnendes Beispiel sind die Niederlande, die binnen weniger Jahre einen Wandel vom Musterland gelebter Toleranz zu einem innerlich zutiefst verunsicherten Gemeinwesen durchlaufen haben. Dort ist die Frage umkämpft, ob die Imprägnierung gegen eine traditionale Kultur in erster Linie eine Sache der Zivilgesellschaft oder eine des Staates sei. Protagonisten dieser Diskussion sind der niederländische Soziologe Paul Scheffer und der Schriftsteller Ian Buruma.(9) Während Scheffer zwar eine strikte Trennung von Staat und Kirche fordert, sieht er doch eher die Zivilgesellschaft als den Träger dieser Imprägnierung – eine Zivilgesellschaft freilich, die sich zu einer erneuerten wehrhaften Toleranz entwickelt hat, die sich entschieden gegen toleranzfeindliches Verhalten wendet. Der Staat habe hier nur den laizistischen Grundforderungen strikter weltanschaulicher Neutralität zu genügen.

Eine Sichtweise, die Ian Buruma für reinen Kulturegozentrismus hält. Seine zentrale Frage lautet, wie die westlichen Demokratien mit den demografisch notwendigen Einwanderern leben können, deren Auffassungen und Lebensweise die westlichen Errungenschaften der Menschenrechte, Gewaltlosigkeit und den Rechtstaat, negieren. Seine Botschaft: »Die Niederländer – wie viele andere Europäer auch – verstehen Integration noch immer als eine Angelegenheit der Kultur statt der Gesetze und Institutionen.« Tatsächliche Toleranz müsse daher in Gesetze gegossen werden und dürfe sich nicht in unausgesprochener Gutwilligkeit erschöpfen.

Der Islam und der liberale Staat

Dieser Standpunkt gewinnt durch Rückgriff auf Theorien sozialer Evolution an Plausibilität. Der Westen wirkt gegenüber einer traditionalen Kultur so lange zerbrechlich, wie die Zivilgesellschaft einseitig als Träger der Sozietät fungiert. Doch Zivilgesellschaft und Staat haben sich komplementär entwickelt. Der abendländische Weg in die Moderne war nur über die Transformation von Dogmen und Traditionen in Form des positiven und damit änderbaren Rechts möglich. Erst die Kodifizierung sozialer Verpflichtungen eröffnete die Möglichkeit individueller Selbstverwirklichung. Die Entwicklung einer wehrhaften Toleranz kann also niemals Aufgabe der Zivilgesellschaft allein sein, sondern fordert einen starken Staat. Das freie Individuum und der Rechtsstaat fordern sich gegenseitig.

Für den liberalen Staat kann es darum nicht schon ausreichen, wenn sich religiöse Gemeinschaften den säkularen Gesetzen bloß unterwerfen, sagte der amerikanische Philosoph John Rawls. Darum forderte er von den Gläubigen, ihre Weltanschauung so auszurichten, dass universalistische Rechtsordnung und egalitäre Gesellschaftsmoral konsistent daraus hervorgehen. Er sprach von einem »Modul weltlicher Gerechtigkeit«, welches in die orthodoxen Begründungszusammenhänge eingepasst wird, obwohl es mit Hilfe weltanschaulich neutraler Gründe konstruiert worden ist.(10) Nach Rawls ist jede Herrschaft als illegitim anzusehen, die nicht mit Gründen zu rechtfertigen ist, die für Gläubige jedweder Couleur, wie auch für Nicht-Gläubige, einsichtig sind. Auch in der politischen Öffentlichkeit solle nur säkular argumentiert werden. Rawls wertet damit den Grundsatz der negativen Religionsfreiheit, also das Recht, von der religiösen Praxis seiner Mitmenschen verschont zu bleiben, höher als das Prinzip der freien Meinungsäußerung.

Dagegen wendet Habermas ein, dass die Aufspaltung eines Bürgers in einen religiös fühlenden und einen säkular argumentierenden Teil unter Umständen gar nicht möglich sei, ohne dass dieser subjektiv das Heilsversprechen seines Bekenntnisses riskiert.(11) Darum setzt er auf das Konzept einer postsäkularen Gesellschaft, mit der Habermas den Kirchen einen legitimen Ort in der politischen Öffentlichkeit zuweist. »Der liberale Staat hat nämlich ein Interesse an der Freigabe religiöser Stimmen in der politischen Öffentlichkeit sowie an der politischen Teilnahme religiöser Organisationen … weil er nicht wissen kann, ob sich die säkulare Gesellschaft sonst von wichtigen Ressourcen der Sinnstiftung abschneidet.« Dahinter steht die Hoffnung, dass sich jenes, in der religiösen Überlieferung enthaltene semantische Potenzial von seinen dogmatischen Verquickungen befreien lässt, um die darin lagernden Intuitionen von Sinn, Solidarität und Ethik für die säkulare Gesellschaft nutzbar zu machen.(12)

Keinesfalls kann eine szientistisch aufgeklärte Vernunft die Folgen einer »entgleisenden Modernisierung« aus sich heraus bewältigen. Der islamische Fundamentalismus ist nicht zuletzt als Reaktion auf die Kollateralschäden der ökonomischen Globalisierung zu verstehen. Erst wenn auch das säkulare Denken beginnt sich zu reflektieren, kann sein verzerrtes Spiegelbild assimiliert werden.

Inter- und intrakultureller Dialog

Altmeyer rechnet den muslimischen Totalitarismus den Geburtswehen einer neuen Weltgesellschaft zu, »… die sich unter der einer expandierenden, alle Grenzen der Natur und Kultur überschreitenden kapitalistischen Ökonomie herausbildet und – gewiss mit Rückschritten und auf Umwegen – in demokratischen Formen zu organisieren beginnt.«(13) Wenn man die fundamentalistische Herausforderung als Teil eines global geführten intrakulturellen Diskurses dechiffriert, muss die einseitige Reflexionsforderung fragwürdig werden, die den Gläubigen in diesem Prozess zugemutet wird.

Von säkularer Seite wirkt die Religionsfreiheit leicht als ein kultureller Naturschutz für aussterbende Arten. Eine Freiheit, die man umso großzügiger gewährt, sofern man sich der übergreifenden Rahmenhandlung einer sich selbst abwickelnden Religion gewiss ist, wenn sich deren Anhänger erst einmal auf rationale Argumentationen im Lichte wissenschaftlicher Kritik eingelassen haben. Gläubigen Bürgern eines demokratischen Gemeinwesens wird eine dreifache Reflexion abverlangt. Ein Gläubiger muss seine religiösen Auffassungen zu den Aussagen konkurrierender Heilslehren so ins Verhältnis setzen, dass dadurch der eigene exklusive Wahrheitsanspruch nicht gefährdet wird.(14) Er muss ferner akzeptieren, dass die Wissenschaft über das gesellschaftliche Monopol an Weltwissen verfügt. Drittens muss sich ein Gläubiger auf die säkularen Grundlagen des Verfassungsstaats einlassen.

Doch auch das szientistische Denken neigt, was die Diskussionen um Robotik, Biogenetik und Hirnforschung belegen, zu einer Form naturalistischer Selbstobjektivierung, die ihrerseits metaphysisch-fundamentalistische Strukturen aufweist. Der Übergang von säkularen zu dogmatischen Argumenten ist zudem fließend und schon deshalb schwierig, weil nicht alle dogmatischen Auffassungen unter der Flagge einer Glaubensgemeinschaft segeln.

Die postsäkulare Gesellschaft muss darum einen komplementären Lernprozess initiieren, der ein postmetaphysisches Denken freisetzt, das als säkulares Gegenstück zum reflexiv gewordenen religiösen Bewusstsein anzusehen ist. Es übt sich zur einen Seite in einer agnostischen Haltung und zur anderen Seite grenzt es sich auch gegen eine szientistisch beschränkte Vernunft ab, mit deren Tendenz zu synthetisch hergestellten wissenschaftlichen Weltbildern.(15)

Ein so beschriebener komplementärer Lernprozess wäre aber nur realistisch, wenn es eine zugrunde liegende Basis gibt, die Ursprung von theologischem und wissenschaftlichem Denken zugleich ist. Darum knüpft Habermas an Jaspers Konzept der Achsenzeit(16) an. Damit bezeichnete Jaspers eine Zeitspanne um die Mitte des ersten Jahrtausends vor Christus. Damals setzte, unabhängig voneinander, in China, Indien und dem antiken Griechenland ein ähnlich kognitiver Schub ein, dessen weltbildende Funktion bis heute die Strukturen unseres Denkens bestimmt. Philosophie und Monotheismus gründen gemeinsam in dieser Weltbildrevolution. Ihr wichtigstes Merkmal ist darin zu sehen, dass der Mensch zum ersten Mal einen extramundanen Ort »erdachte«, dem das Ganze des Alls respektive der Schöpfung entgegengestellt wird. Monotheismus und auch theoretisches Denken verdanken sich diesem Erkenntnissprung.

Einstweilen wird die Orientierung an der Achsenzeit eher ein richtungsgebendes Meditationsobjekt sein. Für die Islamkonferenz und die Frage der Integration der hier lebenden Muslime kann der Gedanke die Spitzen eines Kulturkampfes jedoch abmildern.

Die Ziele der Islamkonferenz

Nach Auskunft des Innenministeriums will die Islamkonferenz erörtern, wie die über Jahrhunderte entwickelte deutsche Verfassungs- und Rechtsordnung zur Entwicklung eines modernen deutschen Islams beitragen kann.

Der deutsche Laizismus ist bekanntlich schwächer ausgeprägt als der französische. Die Revolutionäre von1789 identifizierten die Kirche mit dem Ancien Regime und führten bereits 1795 eine erste Trennung von Staat und Kirche ein. In Deutschland fand der Prozess der Säkularisierung fließender statt, teilweise gar nicht. Trotz weltanschaulicher Neutralität des Staates dürfen die Kirchen Steuern erheben und übernehmen sozialstaatliche Aufgaben. In den Schulen findet staatlich finanzierter Religionsunterricht statt. Theologen werden an staatlichen Hochschulen ausgebildet. Die Berichterstattung über religiöse Themen ist durch kirchliche Sitze in Rundfunkräten gesichert.

Die Initiative zur Islamkonferenz folgt jedoch teilweise dem französischen Vorbild. Denn man verspricht sich davon die Bildung eines islamischen Dachverbands, wie er sich in einem ersten Anlauf in Form des neuen Koordinierungsrats konstituiert hat. Er soll Ansprechpartner des Staates in religiösen Fragen sein. Diese Initiative dehnt die verfassungsmäßig gebotene Neutralität des Staats aus, folgt aber dem Gebot zur Gleichstellung aller Religionsgemeinschaften. Damit wird den deutschen Muslimen ein Weg in die Öffentlichkeit gebahnt. Aus Gründen der laizistischen Hygiene wird es wichtig sein, den muslimischen Vertretern unmissverständlich klar zu machen, dass nur solche Regelungen die Schleusen der staatlichen Institutionen passieren dürfen, die in einer säkularen Sprache abgefasst sind und sich auf säkulare Begründungsressourcen stützen. Das erste dringliche Anliegen des islamischen Koordinationsrats – der nach Jungen und Mädchen getrennte Schwimmunterricht – ist von diesem Standpunkt aus nicht verhandelbar. Aus demselben Grund ist dem französischen Vorbild zu folgen und sind religiöse Symbole in den Schulen zu verbieten. Das muss natürlich auch die Kopftuchfrage einschließen, denn die Bürger haben einen Anspruch, von der religiösen Praxis der anderen verschont zu bleiben. Besonders schulpflichtige Kinder bedürfen dieses Schutzes. Ansonsten würde der Staat zum Transmissionsriemen privater Weltanschauungen. Darum darf es auch nicht zu einer gewohnheitsrechtlichen Aushöhlung des geltenden Rechts kommen. Zu denken wäre hier an jene Frankfurter Richterin, die einer geprügelten Ehefrau das Recht auf eine beschleunigte Scheidung absprach, weil das für sie als Marokkanerin doch nichts Ungewöhnliches sei. Wünschenswert hingegen sind alle Maßnahmen, die dazu beitragen, dass die Muslime in der deutschen Wirklichkeit ankommen können. Die Idee des staatlichen Islamunterrichts und die Entwicklung von Curricula für die Ausbildung von Imamen an deutschen Hochschulen ist deshalb ein wichtiger und richtiger Schritt. Er fördert die Gleichheit und die Integration und wird damit auch vormoderne Lebensformen in der muslimischen Gemeinschaft unter Zugzwang setzen.

1

Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung, Frankfurt am Main 1991.

2

Herbert Hönigsberger: »Die Basis der Republik«, in: Kommune, 1/07.

3

Ferhad Ibrahim: »Der politische Gastbeitrag«, in: Handelsblatt, 5.10.06.

4

Bassam Tibi: »Integration, Friede, Freude, Eierkuchen«, in: Spiegel, 2.10.06.

5

Ayaan Hirsi Ali: »Die schleichende Scharia«, in: FAZ, 4.10.06.

6

Martin Altmeyer: »Die totalitäre Herausforderung – ein Bluff?«, in: Kommune, 5/06.

7

Eine Vorgehen, zu dem jüngst 38 hochrangige muslimische Vertreter in einem offenen Brief an Papst Benedikt XVI. aufriefen. Vgl. FAZ, 24.10.06.

8

Walter Kardinal Kasper/Peter Sloterdijk: »Religion ist nie cool«, in: Zeit, 8.2.07.

9

Ian Buruma: Die Grenzen der Toleranz, München 2007; siehe auch Ernst Köhler: »Weitab vom Mainstream. Ian Burumas ›Die Grenzen der Toleranz‹«, in: Kommune 2/07.

10

John Rawls: Politischer Liberalismus, Frankfurt am Main 1998, S. 76 ff.

11

Vgl. Jürgen Habermas: »Religion in der Öffentlichkeit«, in: ders.: Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt am Main 2005, S. 132.

12

Josef Ratzinger/Jürgen Habermas: Dialektik der Säkularisierung, Freiburg i.B. 2005.

13

Martin Altmeyer: »Die totalitäre Herausforderung – ein Bluff?«, in: Kommune 5/06.

14

Jürgen Habermas: »Religion in der Öffentlichkeit«, in: ders.: Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt am Main 2005, S.143.

15

Ebd., S. 147.

16

Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949, S. 19 ff.

 

Aus: Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur – Ausgabe 3/2007