Holm Sundhausen

»Nur Menschen können frei sein, nicht Territorien«

Kosovo und Serbien: Tiefenschichten und Problembewältigiung – Dunja Melcic im Gespräch mit dem Experten für südosteuropäische Geschichte

 

 

Bei aller Komplexität südosteuropäischer Geschichte, ihrer äußeren Einmischungen und ihrer inneren Verwicklungen, spricht sich Holm Sundhausen für eine aufgeklärte und zukunftsweisende Sichtweise aus. Allen Versuchen, Politik auch heute noch nach nationalen Mythen gestalten zu wollen, gar mit gewaltsamen Mitteln, hält er entgegen, dass die Region nur über die Richtlinien des Völkerrechts zur Ruhe kommen kann. Das gilt auch für Serbien.

Dunja Melcic: Man hat den Eindruck, dass über das Kosovo vorwiegend Vordergründiges – manchmal auch Einseitiges oder gar Unrichtiges – in die breitere Öffentlichkeit gelangt. Eine selten gesehene Unverhältnismäßigkeit zwischen Wissen und Taten. Sie haben Standardwerke über die Region – insbesondere über die Geschichte Serbiens – verfasst. Könnten Sie die geschichtlichen Hintergründe zu Kosovo und Serbien in Grundzügen umreißen?

Holm Sundhausen: Die komplexe Geschichte Kosovos und Serbiens in wenigen Sätzen zusammenzufassen, gleicht der Quadratur des Kreises. Wenn wir den Blick zurückrichten auf die Jahrhunderte seit dem Ende der Antike, so gehörte das heutige Kosovo die längste Zeit zum Oströmischen/Byzantinischen Reich, am zweitlängsten zum Osmanischen Reich. Es gehörte wesentlich kürzere Zeit zum mittelalterlichen bulgarischen Reich und zum serbischen Reich der Nemanjiden-Dynastie. Vom Anfang des 13. bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts – gut zwei Jahrhunderte – stand Kosovo unter »serbischer« Herrschaft (wie immer man »serbisch« zu dieser Zeit definieren kann). Dann wurde es integraler Bestandteil des Osmanischen Reiches. Und erst im Verlauf der Balkankriege von 1912/13 wurde es von serbischen Truppen erobert und dem damaligen Königreich Serbien einverleibt. Aus serbischer Sicht wurde Kosovo zu Anfang des 20. Jahrhunderts »befreit«. Aber ein Territorium kann nicht frei oder unfrei sein. Frei oder unfrei sein können nur die Menschen sein, die auf diesem Territorium leben. Im Fall der Kosovo-Bewohner am Vorabend des Ersten Weltkrieges fühlte sich nur eine Minderheit von Serbien befreit. Die Mehrheit – das waren die muslimischen Einwohner, die sich zunehmend als Albaner definierten – bevorzugte eine andere Option für ihre staatliche Zugehörigkeit.

Über die ethnischen Verhältnisse in Kosovo und ihre Veränderungen im Laufe der Jahrhunderte ist viel gestritten worden. Wer kann ein Erstsiedlungsrecht für sich reklamieren? Wie setzte sich die Bevölkerung Kosovos während der gut zwei Jahrhunderte unter mittelalterlicher serbischer Herrschaft zusammen? Wie, in welchem Ausmaß und warum haben sich die Mehrheitsverhältnisse während der osmanischen Herrschaft verändert? Wer ist in welchem Sinn »Serbe« und wer ist in welchem Sinn »Albaner«? Sprachwissenschaftler, Ethnologen und Historiker haben um Antworten gerungen. Sie wollten etwas beantworten, was nicht beantwortbar ist. Denn die Zugehörigkeit zu einer Nation kann nur anhand von Kriterien vorgenommen werden, die erst im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts ausgehandelt wurden und nicht auf frühere Zeiten zurückprojiziert werden können. Da die Rekonstruktion einer geradlinigen Abstammung für Großgruppen über mehrere Jahrhunderte hinweg an den Quellen und der vergangenen Realität scheiterte, griff man auf Ersatzkriterien wie Sprache, Religion, gemeinsame Vergangenheit et cetera zurück. Doch diese Kriterien sagen nichts über die nationale Zugehörigkeit von Personen in der Vormoderne aus. Sprache, Religion, Namen sind veränderbar. Und dass sie häufig verändert wurden, lässt sich mit den uns zur Verfügung stehenden Quellen zweifelsfrei belegen. Hinzu kommt, dass die ethnische Selbst- (oder Fremd-)Zuschreibung für die »Legitimierung« vormoderner Staaten weitgehend belanglos war. Sie »legitimierten« sich durch das »Gottesgnadentum« des Herrschers, durch dynastische Heirats- und Erbverträge oder durch das »Recht des Eroberers«. Erst im Gefolge der Französischen Revolution kam das Selbstbestimmungsrecht der »Völker« hinzu – ein Recht, das sich nicht rückwirkend in Kraft setzen lässt. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts etablierte sich der Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts immer mehr bei der Legitimierung neuer Staaten. Im Fall der staatlichen Zuordnung Kosovos kam es allerdings nicht zur Anwendung. Zur Anwendung kam stattdessen das »historische Recht«, das auf die Zugehörigkeit Kosovos zu »Serbien« im Mittelalter rekurrierte. Dagegen wurde in anderen Fällen der Rekurs auf das Mittelalter (oder auf einen bestimmten Zeitabschnitt des Mittelalters) als anachronistisch, unzeitgemäß und überholt zurückgewiesen, zum Beispiel wenn es um die Rechte der Serben ging, die bis 1918 auf den Territorien der Habsburger Monarchie lebten (in Gebieten, die nach »historischem Recht« nicht serbisch waren) und das gleiche Heimatrecht für sich in Anspruch nahmen wie die Albaner in Kosovo. Doch quod licet jovi, non licet bovi – ein Argument, das vor dem Ersten Weltkrieg in Gestalt der »Zivilisierungsmission« in vielen Staaten Europas (darunter auch in Serbien) zu Hause war: Die »Wilden« (in diesem Fall die Albaner bzw. »Arnauten«) können sich staatlich nicht selber organisieren; sie müssen zuerst »zivilisiert« werden. Dieser Gedanke findet sich in zahlreichen zeitgenössischen serbischen Publikationen.

Kosovo lag bereits 1912/13 an der Peripherie des serbischen Siedlungsraums. Die Bedeutung Kosovos für das serbische Nationalbewusstsein gründet sich nicht auf die nationale Zusammensetzung der Bevölkerung im 20. Jahrhundert, sondern auf die Symbolkraft des Gebiets als »Wiege« und »Herz« des Serbentums – als »serbisches Jerusalem«. In Kosovo befinden sich die schönsten Klöster der Serbischen Orthodoxen Kirche, und dort hatte auch der serbische Patriarch als Oberhaupt der autokephalen Kirche lange Zeit seinen Sitz. Wie beim realen Jerusalem und bei den »heiligen Stätten« der Christenheit, des Judentums und des Islams stehen die »Heiligkeit« von Orten und die Frage ihrer staatlichen Zuordnung auch im Fall Kosovos in einem schwer auflösbaren Spannungsverhältnis. Die Symbolkraft Kosovos für die Serben und das Selbstbestimmungsrecht der Kosovo-Albaner ließen sich bisher nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen.

Die Annexion Kosovos (»Altserbiens«) und Makedoniens (»Südserbiens«) am Vorabend des Ersten Weltkrieges stellt die tiefste Zäsur in der neuserbischen Geschichte dar. Das damalige Königreich Serbien verwandelte sich damit von einem Nationalstaat in einen Nationalitätenstaat und es lud eine Bürde auf sich, mit der Serbien bis heute nicht fertig geworden ist. Die Beschäftigung mit »nationalen Fragen« hat seither ein Übermaß an gesellschaftlichen Ressourcen verschlungen und die Entwicklungsmöglichkeiten der serbischen Gesellschaft immer wieder aufs Schwerste beeinträchtigt. Heute geht es nicht mehr um die »Befreiung« Kosovos, sondern um die Selbstbefreiung Serbiens.

Sie sprechen in Ihrer Analyse des serbischen Kosovo-Mythos von einer im Verlauf des 19. Jahrhunderts gleichsam systematisch aufgebauten »politischen Theologie«, die »fortan das Nationalprogramm und die nationale Identität der Serben bestimmte«. Hat es Sie da überrascht, dass die politische Führung Serbiens auch nach der Ablösung Milosevics und acht Jahre nach dem Kosovo-Krieg zu keiner wirklichen Kehrtwende fähig ist und Vojislav Kostunica sich noch einmal als »Verteidiger« Kosovos aufspielen kann?

Der im Verlauf der 1980er-Jahre wieder belebte Kosovo-Mythos, der in seiner nationsstiftenden Ausgestaltung ein Konstrukt des 19. Jahrhunderts ist, hat nach dem Ende der Milosevic-Herrschaft in Teilen der serbischen Gesellschaft eine Steigerung erfahren. Für viele Beobachter kam dies überraschend, obwohl es alles andere als paradox ist. Mit der in der Nachfolge Milosevics vom damaligen serbischen Ministerpräsidenten Zoran Djindjic vorangetriebenen Öffnung Serbiens gegenüber der Welt und dem mit rund zehnjähriger Verspätung gegenüber anderen postsozialistischen Staaten eingeleiteten Transformationsprozess nahmen auch die Ängste und die Abwehrhaltung in Teilen der Bevölkerung zu. Die Angst vor dem Verlust der nationalen Identität und vor den sozialen Herausforderungen/Verwerfungen des Transformationsprozesses sowie die Abwehr gegen »Verwestlichung« und Globalisierung verstärkten den Wunsch nach Orientierungssicherheit, nach Rückzug auf das »Eigentliche«, »Unverfälschte« und beförderten die Sehnsucht nach einer vermeintlich heilen Welt.

Die Fantasien vom »Volk« als biologischem Organismus, als einer Art Großfamilie, die nach patriarchalen/männerrechtlichen Prinzipien organisiert wird, die Glorifizierung der Triade Gott-Herrscher-Hausherr, die Wiederbelebung von Agrarromantik, Großstadtfeindschaft und Orthodoxie haben seit der Jahrhundertwende neuen Auftrieb erhalten. Ein unverzichtbarer Bestandteil dieser familistischen Regression, des Strebens nach einer geschlossenen völkischen Gemeinschaft und der Wiederkehr des »Geistes der Palanka« (Provinzstädtchen) ist eben der Kosovo-Mythos, der von zahlreichen Organen und Vereinigungen der »Neuen Rechten« (in Verbindung mit vielen alten Sozialisten) hingebungsvoll gepflegt wird. Nach der Ermordung von Djindjic 2003 hat Vojislav Kostunica den Transformationsprozess und die Befreiung Serbiens aus der Selbstisolation ins Stocken gebracht, weil Kostunica (anders als Miloševic) ein »ehrlicher« Nationalist ist und das nationalistische Wählerspektrum abschöpfen wollte. Die Selbstblockade eines Teils der serbischen Politiker wirft die serbische Gesellschaft mehr und mehr zurück. Den Preis dafür wird vor allem die junge Generation zu zahlen haben.

Wie ist eigentlich die Rolle des Westens in dem Konflikt zu interpretieren? Einerseits ist man Milosevic bei seinem Feldzug gegen die Kosovo-Albaner in den Arm gefallen, nachdem man dem Morden in Kroatien und Bosnien-Herzegowina zugeschaut hat, hat man – nicht ganz gewollt – die lang ersehnte Freiheit in Kosovo ermöglicht, andererseits lässt man Serbien ständig irgendwelche Trümpfe in der Hand. Konkret: Wie ist die »historisch-legalistische« Argumentationslinie Belgrads über Kosovo als völkerrechtlichem Bestandteil Serbiens heute noch zu bewerten?

Der »Westen« und die Vereinten Nationen haben während der Krise und Kriege im ehemaligen Jugoslawien kläglich versagt. Es gab weder ein Konzept für internationale Politik nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes noch einen Konsens über die Einschätzung dessen, was in Jugoslawien geschah. Die unsinnige These vom »atavistischen Hass der Völker« hat viele westliche Politiker in ihrer Entscheidungsfindung (zum Nichtstun) beeinflusst. Lange fehlte jede Bereitschaft zu einem Engagement, und als dieses unter dem Druck der medialen Bilder und weltweiter Empörung zustande kam, hat man sich mit halbherzigen und inkonsequenten Maßnahmen zufrieden gegeben.

Dass im Dayton-Abkommen für Bosnien-Herzegowina von Ende 1995 die Kosovofrage ausgespart wurde, hat wesentlich zur Gewalteskalation in der Provinz beigetragen. Und dass nach dem Ende der NATO-Intervention in Kosovo und Serbien 1999 die Regelung der Statusfrage für Kosovo hinausgeschoben wurde, war ein weiterer Fehler zu Lasten der serbischen wie der kosovo-albanischen Bevölkerung. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Die kosovo-albanische Untergrundbewegung UCK war eine terroristische Bewegung wie viele andere nationale Untergrundbewegungen (auch serbische) vor ihr. Und der albanische exklusive Nationalismus ist nicht besser als andere exklusive Nationalismen. Daran gibt es nichts zu beschönigen.

Ferner: Ein Staat hat nach internationaler Gepflogenheit das Recht, terroristische Aktivitäten auf seinem Territorium zu bekämpfen. Aber er hat auch die Pflicht, sich dabei an Normen zu halten, wie sie etwa in der Charta der UN und anderen internationalen Abkommen festgelegt sind. Seit den Balkankriegen von 1912/13, also seit der Eroberung Kosovos durch Serbien, haben sich die serbischen und später jugoslawischen Regierungen lange nicht an ihre rechtsstaatlichen Verpflichtungen gehalten. Und auch der nach dem Ersten Weltkrieg vertraglich festgelegte Minderheitenschutz fand auf die Kosovo-Albaner in der Zwischenkriegszeit keine Anwendung. Mit anderen Worten: Die Annexion Kosovos entsprach weder dem Selbstbestimmungsrecht noch kamen in der Folgezeit rechtsstaatliche Prinzipien zur Geltung.

Es trifft sicher zu, dass in der völkerrechtlichen Praxis die Rechte von Staaten lange Zeit stärker gewichtet wurden als die Rechte von Menschen. Aber es trifft ebenfalls zu, dass das Völkerrecht nicht starr ist und sich wiederholt verändert hat, dass es weiter entwickelt wird und dass die Menschenrechte gegenüber den Staatsrechten eine Aufwertung erfahren. Immer mehr setzt sich die Auffassung durch, dass Staaten kein Selbstzweck sind (keine »Gedanken Gottes«, wie der Nestor der modernen Geschichtswissenschaft, Leopold von Ranke, im 19. Jahrhundert formulierte), sondern dass sie im Dienst des Menschen zu stehen haben. Zwar ist das Selbstbestimmungsrecht nicht zwangsläufig mit staatlicher Unabhängigkeit verbunden, aber auf Dauer lässt sich eine Region nicht gegen den erklärten Willen einer überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung regieren. Die serbischen Politiker haben es nach den Balkankriegen versäumt, den Kosovo-Albanern ein akzeptables Integrationsangebot zu unterbreiten. Dieses Versäumnis lässt sich nach allem, was passiert ist, nicht mehr ungeschehen machen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts kann man nicht mehr an den Anfang des 20. zurückkehren.

Manchmal gibt es Befürchtungen, die (künstlich erzeugten) Unwägbarkeiten in der Kosovo-Frage, beziehungsweise die Annahme des Ahtisaari-Plans für die Unabhängigkeit der Provinz, könnten sich auf serbische Ansprüche in Bosnien-Herzegowina auswirken. Sehen Sie in der Anerkennung des Kosovo als eigenständige Republik eine Präzedenzentscheidung, die den Zusammenhalt Bosnien-Herzegowinas in Frage stellen würde?

Nationalistische Politiker in der zu Bosnien-Herzegowina gehörigen »Republika Srpska« (RS) haben wiederholt gedroht, dass sie im Fall der Unabhängigkeit für Kosovo die RS von Bosnien abspalten und mit Serbien vereinigen würden. Aber die Unabhängigkeit für Kosovo kann aus mehreren Gründen kein Präzedenzfall für eine Loslösung der RS aus Bosnien sein:

1. Im Falle Kosovos geht es um eine (konditionierte) Unabhängigkeit, nicht um den Anschluss an einen anderen Staat (Albanien), während die Politiker der RS für den Anschluss an Serbien kämpfen.

2. Im Unterschied zur Provinz Kosovo ist die RS ein Gebilde, das erst im Zuge und als Ergebnis der Kriege während der 1990er-Jahre – also unter extremer Gewaltanwendung – entstanden ist. Vor dem Krieg hat es weder eine RS noch ein ihr annähernd ähnliches Gebilde gegeben. Diesen Para-Staat nun aus Bosnien wie aus einem Kuchen herausschneiden zu wollen, ist nicht annehmbar.

3. Die bosnischen Serben haben seit dem Anschluss Bosnien-Herzegowinas an Jugoslawien nach dem Ersten Weltkrieg einen grundlegenden anderen Status genossen als die Kosovo-Albaner. Sieht man vom Bürgerkrieg »aller gegen alle« in den Jahren 1941–45 ab, so waren die bosnischen Serben weder im ersten noch im zweiten jugoslawischen Staat politisch diskriminiert. Das ist ein fundamentaler Unterschied gegenüber den Kosovo-Albanern, die im zweiten jugoslawischen Staat nicht als Nation, sondern nur als »Nationalität« anerkannt waren, während sie im ersten jugoslawischen Staat nicht einmal den Status einer geschützten Minderheit besaßen.

4. In beiden Fällen (in Kosovo vor und nach 1999 sowie in der RS zwischen 1992 und 1995) ist es zu gewaltsamen Bevölkerungsverschiebungen gekommen, aber in Kosovo stellten die Albaner bereits vor Flucht und Vertreibung der Serben eine deutliche Mehrheit, während die RS vor 1992 überhaupt nicht existierte.

5. Zwar trifft zu, dass es während der Kriege der 1990er-Jahre in Bosnien bei allen Krieg führenden »Parteien« zu schweren Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen und völkermordähnlichen Vergehen gekommen ist. Dennoch ist die Frage nicht unerheblich, wer die Gewaltspirale in Gang gesetzt hat und welche Ausmaße die Gewalt angenommen hat. Dass eine einmal initiierte Gewalt Gegengewalt hervorbringt, ist so alt wie die Menschheit selbst. Daraus herzuleiten, dass alle gleichermaßen verantwortlich und schuldig sind, ist eine unzulässige und allzu bequeme Vereinfachung. Das gilt für deutsche Vertreibungsopfer nach dem Zweiten Weltkrieg ebenso wie für serbische Vertreibungsopfer aus den 1990er-Jahren.

Kurzum: Der Fall Kosovo und der Fall der RS sind in nahezu jeder Hinsicht verschieden. Bosnien ist noch mehr als Kosovo eine historisch gewachsene Provinz, zu deren herausragenden Merkmalen bis zum Krieg 1992–95 die Multiethnizität und Multireligiosität (jeweils in Gemengelage) gehörten. Die mit Gewalt geschaffene RS völkerrechtlich zu sanktionieren oder Bosnien entsprechend dem ethnischen »Leopardenfell« vor 1992 zu zerstückeln, käme einem Zivilisationsbruch gleich. Mit dem Dayton-Abkommen von 1995 wurde 72 Jahre nach dem Präzedenzfall von Lausanne (d. h. nach dem vom Völkerbund sanktionierten Bevölkerungszwangsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei), auf den sich später so unterschiedliche Akteure wie Hitler und Churchill berufen haben, eine Kehrtwende vollzogen. Statt die ethnischen Säuberungen abzusegnen und mittels weiterer Zwangsumsiedlungen zu vollenden, wurde das Rückkehrrecht der Flüchtlinge und Vertriebenen vertraglich verankert. Sofern dieses Recht umgesetzt wird, verliert die RS ihre weitgehende nationale Homogenität, und ein Anschluss an Serbien kommt dann erst recht nicht in Frage. Solange das Rückkehrrecht nicht oder nur mit allergrößten Widerständen umgesetzt wird, besteht kein Grund, diese Situation völkerrechtlich zu belohnen.

Auch Kosovo wird in den Genuss der Unabhängigkeit nur dann kommen, wenn es seine vertraglichen Verpflichtungen erfüllt. Die Umsetzung des Rückkehrrechts ist für alle Teile des ehemaligen Jugoslawien eine der Voraussetzungen für eine zügige Annäherung an die EU. Und nach der künftigen Aufnahme der westbalkanischen Staaten in die Europäische Gemeinschaft ergibt sich eine neue Situation: Die Qualität der Grenzen zwischen den Beitrittsstaaten verändert sich. Sie werden durchlässig. Und alle leben dann wieder unter einem gemeinsamen Dach, auch wenn dies kein nationalstaatliches und kein jugoslawisches, sondern ein europäisches Dach ist.

Aus: Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur – Ausgabe 3/2007