Michael Ackermann

Editorial

 

 

Die letzten Jahre sind geprägt von den Brandreden wider die »Gleichmacherei«, den Paternalismus des Sozialstaates und die »Versorgungsmentalität«. Zwar ist das Bild vom lethargischen deutschen Volk empirisch durchwegs nicht mehr gut gedeckt. Doch trotz zunehmender Flexibilisierung und Teilzeitarbeit, höchsten Arbeitslosenraten, niedrigstem Krankenstand, steigender Produktivität, sinkender Reallöhne, sich ständig weiter beschleunigender Mobilität und Umwälzung der Produktionsverhältnisse gehen die Tiraden über »Beharrungsvermögen« und »Besitzstände« munter weiter. Mit der Globalisierungskeule wird auch alles niedergedengelt, was mit dem Wort »sozial« verknüpft ist. Sozial wird zu asozial. Gerne wird dabei das Individuum gegen die Gemeinschaft in Stellung gebracht, der »Arbeitsplatzunternehmer« gegen den »Arbeitsplatzbesitzer«, die »Ich-AG« gegen die »Sozialschmarotzer«. Diese Frontstellungen sind mittlerweile weit in die Anschauungswelten der Mittelschichten eingedrungen. Sie verdecken jedoch die gravierenden Veränderungen in der Gesellschaft und in den Mittelschichten selber.

Eine Studie der Herbert-Quandt-Stiftung über die gesellschaftliche Mitte vergegenwärtigt, dass seit den 1960er-Jahren ein »enger Zusammenhang von Wohlfahrtsstaat und Mittelschichten« besteht. Der Herausbildung des Wohlfahrtsstaates ist es jedoch zu verdanken, dass es diese Mittelschichten überhaupt gibt. Mit ihm hat »seit den 1970er-Jahren die Differenzierung von Mentalitäten und Lebensweisen in der gesellschaftlichen Mitte sukzessive zugenommen«. Entgegen einer beliebten Weichzeichnung ist der »rheinische Kapitalismus«, der diese Entwicklung befördert hat, nicht nur der höheren Weisheit einer bestimmten politischen Phase der Bundesrepublik entsprungen, sondern vor allem ein Ergebnis eines jahrzehntelangen Kampf- und Aushandlungsprozesses. Dass es etwa Frauen heute nicht mehr mit

einem Züchtigungsrecht durch die Männer, sondern mit einem Gewaltschutzrecht zu tun haben, ist weniger männlicher oder staatlicher Einsicht als den Erfolgen der neuen Frauenbewegung in den letzten dreißig Jahren zu verdanken (Sibylla Flügge, S. 60). Individualisierungs- und Emanzipationsprozesse, Bewegungsförmigkeit und Rechtsstaatlichkeit sind dabei nur schwer auseinander zu haltende Spannungs- und Bedingungsverhältnisse.

Wie gefährdet diese fragile Symbiose geworden ist, zeigt sich auch in der besagten Studie Zwischen Erosion und Erneuerung. Die gesellschaftliche Mitte in Deutschland. Ein Lagebericht (Societätsverlag, Frankfurt). Hier erhält man in trockener Diktion und mittels einiger Langzeitvergleiche wesentliche Erkenntnisse: Während also die Vermögensungleichheit schon seit den späten Siebzigerjahren permanent wächst, hat die Ausdehnungsfähigkeit und Aufnahmebereitschaft der Mittelschichten noch bis Mitte der Neunzigerjahre angehalten. Obwohl die Neigung, sich selbst der Mittelschicht zuzuordnen, und die Sehnsucht, ihr anzugehören, zugenommen haben, wächst jedoch seitdem die Angst, real aus ihr herauszufallen. Denn die »Wohlstandssteigerung der gesellschaftlichen Mitte im Verhältnis zum Bevölkerungsmittel« ist an ihr Ende gekommen. Außerhalb der Mitte nimmt die Einkommensungleichheit stetig zu: »Nirgendwo in Europa ist die Schere zwischen den spezifischen Arbeitslosenquoten Gering- und Hochqualifizierter so sehr aufgegangen wie in Deutschland.« Auch die »anhaltende Ungleichheit schichtspezifischer Bildungschancen« wird immer offensichtlicher. Sie geht einher mit der Ausbreitung eines sozialdarwinistischen Denkens und mit der Neigung, Unterscheidungsmerkmale zur Abschottung nach unten einzusetzen.

Eine Kultur der »feinen Unterschiede« breitet sich ebenso aus wie eine des Misstrauens. »In größeren Teilen der sozialen Milieus der Mitte ist das Vertrauen in das politische System und in den Sozialstaat erschüttert.« Diesen Befund kann man auf die zunehmend abgegrenzten »Unterschichten« gewiss ausdehnen. Deren Enttäuschungen über eine politische Klasse, die den Verhältnissen »da unten« zunehmend enthobener scheint, sind noch weitaus größer. In diesem Kontext erhält der verschlungene Prozess aus Individualisierung, Medialisierung und Parteien- und Politikverdrossenheit (Jens Thomas, S. 44) eine noch dramatischere Note.

Wenn es zutrifft, dass die »Aufstiegstendenzen in die Mitte zumindest vorläufig beendet« sind, dann ist ein Motto wie »die Stärken stärken!« nicht sehr plausibel. Das Motto der Mittelschichtenforscher zielt auf die Stabilisierung bestimmter Schichten ab. Doch eine Kern-Mitte von Individualisierungsgewinnlern wird mit ihrer zunehmenden Ausschlussdynamik die Entsolidarisierung in der Gesellschaft eher beschleunigen – auch in den wachsenden Bevölkerungskreisen mit »Migrationshintergrund«. In ihnen gibt es bis heute nur eine schmale Mittelschicht. Die »Islam-Fähigkeit der Demokratie« (siehe die Artikel von Thorsten Hasenritter und Kurt Edler) entscheidet sich über die Auseinandersetzung um Glaubensfragen hinaus auch an der sozialen Frage. Dominieren im »Bildungswettbewerb« am unteren Ende weiter Ausgrenzung und Desillusionierung, verstetigt sich die Individualisierung des Scheiterns in einem wachsenden Teil der Gesellschaft. Dann wird sich eine schon fern gewähnte Klassengesellschaft aufs Neue beleben.

Aus: Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur – Ausgabe 3/2007