Heribert C. Ottersbach

Die Malerei entlässt ihre Patienten

Das Scheitern der Moderne und die unerwartete neue Freiheit

 

 

Die Kunst der Moderne ist aufs Engste mit endzeitlichen Heilsvorstellungen und Finalisierungsfantasien verknüpft. Stetige Revolutionierung und der »Neue Mensch« waren eben nicht nur politische Trümpfe. Längst ist mit dem dramatischen Scheitern der großen Utopien der Neuzeit auch die Annahme von einer linear fortschreitenden Kunstgeschichte in die Krise geraten. Doch warum ist zugleich vom Ende der Kunst die Rede? Kann aus dem Abschied vom Sendungsbewusstein nicht eine fruchtbare, neue Auseinandersetzung in den bildenden Künsten hervorgehen? Statt auf »Anything goes«, Spezialistentum oder immer neue Avantgarde-Attitüden setzt unser Autor, selber Maler, auf eine produktive Vergeschichtlichung der Moderne. Die Malerei muss nichts hinter sich lassen, um kritische Gegenwärtigkeit zu erreichen. Sie sollte mehr aufnehmen als aussondern und einen neuen Kanon aufstellen.

 

 Kasten (auf der ersten Doppelseite):

Ich glaube nicht mehr an die Gnade von Innovation und Avantgarde, es hilft alles nichts!« Auch dieser Satz stammt von Heribert C. Ottersbach, und er war uns schon beim Hinweis auf den Katalog zu seiner Ausstellung »In Erwartung der Ereignisse« in der Tübinger Kunsthalle aufgefallen (siehe »Kommune« 1/07). Da wiesen Zitate und Fußnoten in einem Beitrag von Reinhard Spieler immer wieder auf einen bislang unpublizierten Vortrag des Malers hin. Ein Kontakt zum Künstler und unsere Neugier führen nun zur Publikation dieses Vortrages in leicht überarbeiteter Form.

An Manifesten, Selbstauskünften und Interventionen durch Künstlergruppen und Künstlern fehlte es in der Vergangenheit und fehlt es auch in der Gegenwart nicht. Die bündige Form der Auseinandersetzung mit der Kunst der Moderne und deren politischen Implikationen durch einen Künstler ist jedoch ungewöhnlich. In Heribert C. Ottersbachs Intervention geht es weniger um eine »Selbstverteidigung« als um einen kritischen Epochenbogen und das Hinterfragen von bestimmten Prämissen, die die künstlerische Moderne in weiten Teilen prägten. Und es geht ganz grundsätzlich um die Verteidigung der Malerei der Gegenwärtigkeit gegenüber einer »Unterhaltungsmalerei« – die sich dann auch noch als »Avantgarde« geriert.

 

(Textbeginn)

Es geht im Folgenden über die Malerei im Allgemeinen, über ihre Geschichte, auch über die eigene Malerei oder eher über ihre Voraussetzungen, über Moderne und über die Aktualität von Malerei. Dann auch noch über Chancen und Risiken, und wenn der Titel lautet: »Die Malerei entlässt ihre Patienten«, so ist dies kein kippenbergerischer Aprilscherz, wie jemand schon vermutete, sondern es verbirgt sich vielmehr die Annahme dahinter, dass wir uns aus dem Heilsgebilde, dem Sanatorium der Moderne, der modernen Malerei verabschieden müssen. Ob geheilt oder nicht, die Klinik bleibt geschlossen, die Therapeuten sind tot oder haben sich aus dem Staub gemacht. Wir sind jetzt wieder ganz alleine.

Aus der Krise oder gar dem Scheitern der Moderne lässt sich nicht notwendigerweise die Krise der Malerei oder gar das Ende der Kunst ableiten. Dies ist eine Schmälerung und Herabwürdigung. Die Kunst ist keine Erfindung der Moderne.

Hier artikuliert sich eher eine Enttäuschung, die ihren Grund findet in einer der großen Utopien der Neuzeit, nämlich die Utopie der Kunst, die einherging mit der Utopie der Arbeit und der Utopie von der persönlichen Freiheit. Diese Utopien, Heilsvorstellungen und Heilsideen waren immer als Endzustände gedacht, das »große Ganze« war sowohl in der künstlerischen als auch der politischen Avantgarde eine wie auch immer geartete Idealvorstellung, die sich erstreckte von anarchistischen Gesellschaftsvorstellungen bis hin zur Idee des Gesamtkunstwerks.

Es war Friedrich Nietzsche, der als einer der Ersten dem modernen Künstler einen kulturtherapeutischen Auftrag mit auf den Weg gab. Und hier kommt man auch schon zu den Patienten sowie zu den Therapeuten: Das Kunstwerk sollte nämlich – Nietzsche zufolge – als Katalysator eines neuen »Elan vital« wirken. Kunst sollte als Gegengift, als Heilmittel zu einer dekadenten Gesellschaft wirken. Man strebte eine neue Gesellschaft, den »Neuen Menschen« an. Die klassische Moderne war gedacht als paradiesischer Endzustand, eine Therapie, die direkt hinein ins Elysium führen sollte. Das Gesamtkunstwerk war schlichtweg als letztes Kunstwerk gedacht, alle waren gerettet, geheilt. Künstler wie Rezipienten.

Das schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch versammelte die Gesamtheit aller Bilder, Formen und Farben in sich. Nicht zu vergessen Alexander Rodtschenko, der gesagt hat: »Ich habe ein blaues, rotes und gelbes Bild gemalt. Ich habe die Malerei zu ihrem logischen Ende geführt.« Danach war keine weitere Kunst mehr vorgesehen.(1)

Immer neue Künstler, Künstlergruppen und Generationen erhoben und erheben noch – mit sich beschleunigenden Verfallsdaten allerdings – das Postulat der Moderne und damit auch den Anspruch, sich von der Kunst der Vorläufer durch tiefgreifende Veränderungen im bildnerischen Denken auf innovative Weise abzusetzen. Gegenwart und Moderne – egal ob erste, zweite, oder schon dritte Moderne – gehören aber mittlerweile zum Repertoire der immer wiederkehrenden Kerngedanken emphatisch vorgetragener Künstlerterminologie.

Hier ist der Mythos Moderne immer noch verbunden mit dem Traum vom Künstlergenie, das voraussetzungslos, rauschhaft, sozusagen aus der Geschichte geworfen und der bürgerlichen Gesellschaft entwurzelt, einem geradezu unfassbaren Willen gehorchend und aus sich selbst heraus als prometheischer Vollstrecker einer Urgewalt Kunst schafft.

Alle huldigten und – manche tun es noch – dem Fortschrittsgedanken als inhärenter Idee des Mythos Moderne. Viele verwechselten und verwechseln noch Kunst mit Politik und verschrieben sich den verschiedensten revolutionären Bewegungen oder einfach nur dem »großen Ganzen«, um im Rausch des Revolutionären als Heiler oder Therapeut bis eben in die jüngste Kunstgeschichte aufzutreten.

Man wollte ganz einfach am göttlichen Prinzip rühren und band sich, da dies alles länger dauerte, als die Künstler Geduld hatten, an die unheilvollsten, totalitären, aber auch manchmal nur fragwürdigen politischen Strömungen. Man denke beispielsweise an die vielfältigen Verbindungen zwischen Futurismus und Faschismus in Italien, oder zwischen Konstruktivismus und Kommunismus in der Sowjetunion in den ersten Jahren nach der Revolution von 1917.

Die politischen Führer, die sich manchmal selbst als Künstler sahen, begrüßten die Künstler als willkommene Unterstützer und Narren zur Durchsetzung verschiedenster Orthodoxien. Sie unterstützten sie dafür sogar zeitweilig, zumindest solange es ihnen nützlich erschien und packten sie, wenn die Künstler anfingen, sich für die besseren Politiker zu halten, flugs in die eigens geschaffenen Sanatorien und Lager, wo dieselben in Sachen Dogmatismus und Arbeit dann Erfahrungen sammeln durften und mussten, von denen sie vorher nicht mal geträumt hatten.(2)

Auch Hitler suchte den Schulterschluss mit der Kunst. Wäre es aber nach seinen Bluthunden Göring und Goebbels oder einigen seiner Cheftheoretiker gegangen, so wäre in Deutschland wahrscheinlich die so genannte moderne Kunst, nämlich damals vor allem der Expressionismus, Staatskunst geworden, der ja – in gewisser Weise – wie andere Erscheinungen des politischen und kulturellen Lebens in Deutschland auch, einen deutschen Sonderweg darstellt. Ebenso in Italien der Futurismus, der in weiten Zügen mit dem Faschismus und mit Mussolini marschierte. Sowohl Futurismus als auch Expressionismus(3) waren sehr nationale, wenn nicht sogar nationalistische Ausprägungen der Moderne.

Ähnlich bedenkenswert sind auch die vielfältigen Allianzen noch eher zeitgenössischer Künstler mit oft mehr als fragwürdigen lebensweltlich orientierten Psychogruppen, Sozialexperimenten und Ähnlichem. Hier ist zwar die Massenwirkung nicht so gegeben, aber die Auswirkungen sind im Einzelfall oft fatal genug.(4)

Weil also die Moderne all diese hehren – an sie gestellten und von ihr auch selbst erhobenen – Erwartungen nach dem Neuen und zugleich Besseren nicht erfüllt hat, die sich alle mit diesen Utopien verbanden, sprach man vorschnell vom Scheitern der Kunst, von der Krise der Kunst. Von Beginn an ist dem Begriff der Moderne diese Endzeitlichkeit eingeschrieben, denn genau genommen dürfte es dem universellen Geltungsanspruch zufolge ja weder eine Moderne nach der Moderne noch eine Moderne neben der Moderne geben.

Das Aufwachen aus dem Rausch der Moderne und die Entwicklung eines eher distanzierten »nachmodernen« Bewusstseins bedeutet keinesfalls Ernüchterung bei gleichzeitigem Verlust kreativen Potenzials. Es geht vielmehr darum, die Moderne Geschichte werden zu lassen, indem Heilsgedanken, messianische Avantgarden oder kollektive Visionen vom Gesamtkunstwerk als Teil der Geschichte bildfest gemacht werden. Erlösungs- und Erneuerungsgedanken und ebenso die dazugehörenden Rituale haben immer wieder das Potenzial für fragwürdiges, naives bis fatales Sendungsbewusstsein geboten. Hier hat sich das enorme kreative Potenzial der Moderne selbst gefährdet und sehr geschadet.

Es ist also nicht die Krise der Kunst, die sich auf bestimmte Spielarten der Moderne reduzieren lässt. Sondern es ist, nach der bereits historischen Epoche der Moderne, in der sich die Kunst mit ihren Utopien in teilweise fürchterlichen Allianzen wiederfand, eher eine Krise der Vorstellungen von und Erwartungen an die Kunst; anders ausgedrückt: Es ist eher das Scheitern einer Therapie.(5)

Kunst kann nämlich nicht die Legitimationsprobleme einer Gesellschaft lösen. Kunst ist weder konsensbildend noch harmonisierend. Sie hat eine ästhetische, eine intellektuelle, eine spirituelle und auch eine religiöse Dimension. Aber: Sie ist weder sinnstiftend, noch heilend. Kunst ist kein Sozialkitt, kein politischer Weichspüler oder gar intellektueller Wohlfühlfaktor. Dieser kulturtherapeutische Auftrag ist gescheitert.

Zur Malerei im Besonderen zunächst ein kleiner, sehr verknappter historischer Exkurs, der aber im Grunde den linearen Blick auf die Moderne so wiedergibt, wie er auch der Nachkriegsgeneration noch in weiten Zügen vermittelt wurde.

Der Begriff der Moderne ist seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, eigentlich seit Baudelaire, der den modernen Künstler als Dandy definierte, verknüpft mit dem Pathos einer Epochalerfahrung des Künstlers als Bewahrer einer übergeordneten, überzeitlichen Idee des Schönen im Konflikt mit der maroden industrialisierten Welt der Hässlichkeit.

Aber: Zu jener Zeit begann innerhalb des Spektrums der hereinbrechenden modernen Veränderungen, vor allem die Malerei eine umfassende und besondere Rolle zu spielen. Bereits um 1860 sah sich die Malerei wie keine andere Kunstform auch aufgrund der Konkurrenz zur aufkommenden Fotografie gezwungen zu umfassenden technischen, materiellen und auch rein formalen Innovationen. Die Malerei – und nicht Tanz, Literatur oder gar Musik – war sozusagen die Vorreiterin in der Erforschung der ihr innewohnenden Mechanismen und den Bedingungen ihrer Möglichkeiten. Die alles entscheidende und in ihrer Auswirkung unübertroffene Figur war Edouard Manet. Manet zeigte in aller Deutlichkeit den Widerspruch zwischen der physischen Oberfläche eines Bildes und der darauf erzeugten Illusion von Räumlichkeit.

Flaubert oder Baudelaire wirkten und schockierten eher durch Inhalte als durch Form. Seit Delacroix, Gericault und auch Victor Hugo hatte dies Tradition in Frankreich und lässt sich vor allem aus dem Kontext der postrevolutionären Dekaden herleiten und verstehen. Obwohl auch Hector Berlioz vornehmlich unter dem Einfluss des beethovenschen Spätwerks erste radikale Erneuerungen vornahm, so war es schließlich Claude Debussy, der harmonische und melodische Konventionen erst circa dreißig Jahre nach Manet über Bord warf. Der Tanz »befreite« sich – wenn man das in der Terminologie der Moderne so sagen kann – dann doch erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Was die Malerei betrifft, kann man zusammenfassend mit Clement Greenberg sagen: »Die realistische oder naturalistische Kunst pflegte das Medium zu verleugnen, ihr Ziel war es, die Kunst mittels der Kunst zu verbergen; der Modernismus wollte mittels der Kunst auf die Kunst aufmerksam machen. Die einschränkenden Bedingungen, die das Medium der Malerei definieren – die plane Oberfläche, die Form des Bildträgers, die Eigenschaften der Pigmente-, wurden von den alten Meistern als negative Faktoren behandelt, die allenfalls indirekt eingestanden werden durften. Der Modernismus betrachtete dieselben Einschränkungen als positive Faktoren, die nun offen anerkannt wurden.«(6)

Es war also zunächst die Malerei, die sich als die modernistische Kunst, die Avantgarde-Kunst schlechthin etablierte und profilierte und für das meiste Aufsehen sorgte. Wies Manet auf den genannten Widerspruch hin, so fand Cezanne eine Lösung für diesen Widerspruch, indem er nämlich das Bild baute, wie die Welt gebaut sein könnte. Vielleicht der Beginn des Konstruktivismus? Wittgenstein und von Foerster sind aber noch weit.

Picasso und Braque konzentrierten sich in ihrer kubistischen Malerei zunächst mehr auf die Bildfläche und ihre vielfältigen Möglichkeiten und blendeten dabei die Farbe weitgehend aus. Wichtig waren dann noch konstruktivistische Skulptur und die Folgen. Marcel Duchamp ist hier auch Folge, aber: Dies bestätigte eher die Kunst als Ort des immer Neuen.

Bis weit ins 20. Jahrhundert blieb die Malerei die Speerspitze der Avantgarde. Ganze Kohorten von Dichtern, Komponisten und auch später Architekten beriefen sich für ihre eigenen Neuerungen auf den Kubismus.

Europa und viele europäische Künstler wurden zunehmend die Beute von widerstreitenden Ideologien, Krieg und Rassismus. Die Erinnerungen von Ilja Ehrenburg, hier vor allem die Pariser Exilzeit betreffend – Paris war ja damals sozusagen die Mutter aller Moderne und der modernen Schlachten zugleich –, geben beredt Zeugnis von sich in extreme Orthodoxien versteigenden Künstlern und Künstlergruppen. Künstlerischer Extremismus, Sektierertum und Fundamentalismus waren an der Tagesordnung und führten zu üblen Denunziationen untereinander und auch später gegenüber den deutschen Besatzern.

Wirklich Neues kam dann nach dem Krieg aus Amerika, nämlich Pollock, Mondrian, Newman und andere. Natürlich folgt die Malerei oder die Kunst nicht einer klaren Entwicklungslogik, sonst wäre man schnell geneigt, aus der Perspektive der Nützlichkeit hinsichtlich der Entwicklung von Malerei in Kandinsky oder anderen lediglich nützliche Zulieferer zu sehen.

Surrealismus und auch deutscher Expressionismus fallen hier raus, war doch Letzterer eben über weite Strecken der Versuch einer verspäteten Nation, so etwas wie eine deutsche Nationalkunst zu schaffen, die sich mehr in der Tradition der Gotik verhaftet sah als in der Tradition der französischen Revolution. Betrachtet man das Menschenbild in der deutschen expressionistischen Malerei, trifft man hier eher auf den gotischen Menschen, der die Zeitläufte mehr erleidet, sich ihnen fügt, als dass er sie selbstbestimmt erlebt.

Die Vertreter des deutschen Expressionismus und ihre Apologeten zu jener Zeit waren sich teilweise auch durchaus einig in der Überlegenheit der deutschen Malerei gegenüber der Entwicklung in Frankreich, die dort angeführt wurde von Matisse und den Fauvisten. Man meinte, der Franzose male, was er sehe, derweil der deutsche Künstler male, was er im tiefsten Grunde seiner Seele empfand.

Jedoch führten die Genannten, Pollock, Mondrian und Newman, noch einmal überdeutlich die Kunst als den Ort des immer Neuen vor. Das Bild The Triumph of the New York School, 1984 von Marc Tansey, thematisiert dies und zeigt zugleich die postulierte Überlegenheit der amerikanischen über die europäische Moderne.

Als die Malerei begann, auf Abbildhaftigkeit zu verzichten, nahm sie zunächst keinen Schaden. Sie nahm auch nicht Schaden, als die traditionelle Komposition eines Bildes (im Sinne der klassischen Moderne) geopfert wurde zugunsten eines »All-over«. Aber: Die Zukunft des Staffeleibildes wurde fragwürdig.

Seit Anbeginn der Moderne wurden nach und nach – und dies nicht nur in der Malerei – alle Konventionen, Regeln und Traditionen in Frage gestellt und mussten auch verletzt werden, um zu prüfen, was unbedingt nötig war und was eben nicht. Man glaubte so – Zug um Zug – der Erfahrung folgend alles eliminieren zu können, was sich offenkundig oder vielleicht nur scheinbar als überflüssig erwies. Aus dieser Zeit verfolgen uns bis heute noch Verdikte wie:

– Weniger ist mehr;

– Form follows function et cetera.

Es entstand aber nun nach und nach ein großes Problem. Was zunächst wie eine Entschlackungskur aussah, entpuppte sich zunehmend als Auszehrung, als Hungerkur, die Kunst – und die Malerei natürlich auch – atomisierte sich zunehmend und begann Gefahr zu laufen, sich selbst zugrunde zu richten. In der Malerei erlebten wir eine Entwicklung vom Gemälde zum bemalten Gegenstand. Malerei wurde zunehmend zur Glaubenssache unter Spezialisten, die sich ebenso zunehmend in orthodoxen, idyllischen Zirkeln organisierten und hermetische Strukturen bevorzugten. Man gehörte entweder zu den bereits Initiierten oder man war halt noch nicht so weit.

Über einen langen Zeitraum bis noch in die Jetztzeit waren sowohl in Europa wie in Amerika Vertreter einer figürlichen, inhaltsbezogenen Malerei zu Parias abgestempelt. All diese Debatten über: »Was geht noch und was geht nicht mehr« sind jedoch kontraproduktiv, anachronistisch und wenig weltoffen. Das Reden über Kunst findet mittlerweile bevorzugt auf Metaebenen statt. Man hat Angst, man sieht seine Felle wegschwimmen. Dem Kunstwerk als solchem traut man nicht mehr viel zu, am wenigsten traut man sich selbst und seinen Kriterien, es geht um Einfluss, um Machterhalt. Man strebt im Kunstbetrieb vorgeblich nach den höheren Provokationen und folgt dennoch zumeist den niederen Instinkten. Man legt das Kunstwerk sozusagen an die Kette, überzieht es mit einem fein gewebten Teppich an erprobten Bedeutungen und unterzieht es damit einer kunstpolizeilichen Kontrolle.

Die Malerei ist mindestens 30000 Jahre alt, und trotz wiederkehrender Behauptungen war sie weder nach Mondrian, Malewitsch, Rothko oder all den anderen behaupteten Endpunkten der Malerei ja wirklich zu Ende. Ihre Krise oder ihr Ende immer mal wieder zu behaupten, ist eine wiederkehrende zeitgeistige Überheblichkeit von Leuten, die die Kunst für eine Errungenschaft des 20. Jahrhunderts halten und meinen, sie müssten die Reste in ein Soziologieseminar überführen. Das nennt man dann fälschlicherweise gerne Kunsttheorie.

Die Kunst ist aber keiner deduktiven Redlichkeit verpflichtet, sie bedarf gar nicht einer wie auch immer gearteten political correctness. Hier liegt vielleicht ihr Mehrwert, der sich natürlich erweisen muss. Wird dies der Kunst nicht mehr zugebilligt, langt man ganz schnell bei einer Kuratorenriege und -generation an, die gerade mal wieder dabei ist, sich enttäuscht aus der Debatte zu verabschieden. Die Künstler waren halt noch nicht weit genug!

Sonst müsste nämlich mit ihnen darüber geredet werden, inwieweit sich Künstler für ihre Arbeit zu legitimieren haben, für eine bestimmte Inhaltlichkeit ihrer Arbeit, für eventuelle gewollte »politische Korrekturen«. Die Künstler müssten sich dann legitimieren für ihren Umgang mit dem Gegenstand der Arbeit, am besten liefern sie den Beweis ihrer sozialen Kompetenz und politischen Legitimation gleich mit. Auch sollte die Rezeption der Arbeit gleich mitbedacht sein, und nicht zu vergessen: Soziale und politische Nützlichkeitseffekte sollten in perfektem Staatssicherheitshochdeutsch ausformuliert sein ...

Aber das ist genau das, was bestimmte VertreterInnen eines wie auch immer zu bewertenden Staatskünstlertums in der DDR und anderen totalitären Systemen gemacht haben, und darin liegt heute auch die Problematik im Umgang mit deren Werk. Die Kunst und vor allem die Malerei sollten sich endlich aus diesen Umklammerungen lösen. Es ist nämlich nicht die Krise der Kunst, sondern wie gesagt: Es ist eher eine Krise der Vorstellungen von und Erwartungen an die Kunst.

Weder die Kunst selbst noch die Malerei sind Erfindungen des 20. Jahrhunderts oder gar spätbürgerliche Erscheinungsformen. Wir müssen endlich aufhören, die Malerei heute lediglich als etwas nur Nachmodernes zu begreifen. Dies ist ein Tunnelblick auf die Dinge des Interesses, der nicht weiterhilft. Es ist eine Verkürzung. Die moderne Malerei mag ja am Hungerhaken hängen, die Malerei insgesamt tut es nicht.

Man kann nun dagegenhalten, dass die Kunst der Postmoderne, die sozusagen aus zweiter Hand das Projekt der Moderne beerbt, ohne ihr Versprechen auf Therapie und Fortschritt noch einlösen zu wollen oder zu können, auch in einer tiefen Sinnkrise steckt. Aber: die Kunst der Postmoderne ist auch schon Historie, und erst recht die antiquierten Forderungen nach einfachen Lösungen, nach einer Kunst, die ihren klar definierten Platz einnimmt.

Der große Vorteil und eben die große Chance ergeben sich daraus, dass bestimmte Paradigmen in den letzten Jahren einfach weggefallen sind, politische wie ästhetische, besonders seit 1989, dem Ende des ideologischen Zeitalters. Überall machen sich seither Rufe nach neuen Kriterien und Paradigmen breit, weil man aus der Krise oder dem Scheitern der politischen und ästhetischen Moderne partout eine Orientierungslosigkeit in der Kunst ableiten will. Möglicherweise ist das Ganze aber eher als unvermutete und unerwartete Freiheit zu werten. Es geht also vielleicht heute eher darum, dieses sich unerwartet öffnende Freigelände als solches zu begreifen und zu nutzen.

Was will der Künstler, der Maler, an nicht eingelösten Versprechungen der Moderne ins und im 21. Jahrhundert überhaupt noch weiterschleppen? Er kann sich aus der Geschichte nicht verabschieden, er ist auch nur ihr Resultat. Es geht um die Moderne als Heilsgebilde, um die schon erwähnte Utopie der Kunst, die an die Idee des Fortschritts und die Verbesserung von Mensch und Gesellschaft gebunden ist. Wenn sich diese Verbesserungen nun partout nicht einstellen, man zwar Veränderungen auf allen Ebenen erlebt, es aber einfach nicht gelingen will, die Conditio humana strukturell zu ändern, so muss der Künstler das Projekt der Verbesserung in der Kunst und durch dieselbe fallen lassen.

Während und auch noch einige Zeit nach dem Studium »galoppierte« ich – auch mit meiner Malerei – zunächst etwas über die Dörfer – soll heißen: von »figurativ« nach »abstrakt«, weiter über »lyrische Abstraktion« nach »Realismus» bis hin zum »gestisch-expressiven Furor« war so ziemlich alles irgendwann einmal dabei. Eigentlich war ich mir anfänglich auch gar nicht so sicher in Sachen Malerei, wie weit sollte denn schon eine Kunst, eine Malerei, der jede Form, jeder Stoff zur Verfügung steht, noch tragen? Schon seit den Sechzigerjahren war die Kunst zunehmend der Ort geworden, wo »die Tradition des Neuen« so ziemlich alles legitimierte, was es sonst nirgendwo gab, nicht in der Musik und erst recht nicht in der Literatur. Später zogen die anderen Disziplinen nach, genossen dabei aber bei weitem nicht mehr so viel Aufmerksamkeit. Diese lange Zeit andauernde Führungsrolle der bildenden Kunst hinsichtlich Innovationen erklärt auch die enorme Offenheit der Szene gegenüber allem Neuen, Devianten, dem Abweichenden von der wie auch immer zu definierenden Norm.

Diese epochale »Anything-goes«-Attitüde bot dann ganz selbstverständlich Möglichkeiten der Integration für alles, was man heute salopp und fälschlicherweise unter Medienkunst zusammenfasst. Ich selbst experimentierte dann auch in den Achtzigern mit Musik, mit Performance, ein bisschen Video, lediglich um festzustellen, dass es all dies doch nicht sein sollte. Das ging so in etwa bis 1989/1990, doch dann änderte sich meine zu diesem Zeitpunkt recht reduzierte, fast monochrome Malerei ganz entscheidend. Es musste etwas geschehen, denn mehr und mehr stellte ich fest, dass viele Dinge, die mich interessierten, nicht mehr in meiner Malerei – zumindest in der, die ich damals betrieb – zu verorten waren.

Ästhetische Resultate – vor allem der Fotografie, aber auch der Montage, der Decoupage, der Demontage und der Collage – kamen ins Spiel, erste Gehversuche mit bildverarbeitenden Computerprogrammen begannen mich Anfang der Neunziger zu interessieren, und mich beschlich erstmals das Gefühl, dass nicht mehr – oder nicht mehr nur – die bildenden Künste die Orte der Innovation sind. An der amerikanischen Westküste suchten Künstler zunehmend seit den Siebzigerjahren den Schulterschluss mit den neuen Technologien und ihren Vertretern, die sich anschickten, mit der Entwicklung von Computer und Internet eine Sicht auf die Welt, auf die Dinge und auf die Geschichte zu ermöglichen, die alles bisher Dagewesene in Sachen Informations- und Wissensbeschaffung und Verfügbarmachung in den Schatten stellte. Wissensgebiete, Bilder, Archive, komplexe Strukturen wurden in der Folge vernetzt, und wer heute nicht Zugang zu allen möglichen Netzwerken hat, läuft Gefahr, sich in einer neuen Form des Analphabetismus wieder zu finden.

Das Material für meine eigene Arbeit kam und kommt heute oft aus diesen Netzwerken, aus Archiven, aus realen wie virtuellen, jedoch nicht immer, auch wenn es manchmal so aussieht. Es wird auch von mir selbst als sozusagen Uneigentliches produziert.

Grundsätzlich kann ich jedoch sagen: Recycled Images, und das bis heute. Vielleicht ist es so, dass dieses Vorgehen Bestandteil einer Entwicklung ist, die wir einerseits gerne hinter uns lassen würden, andererseits ahnen wir aber, dass wir aus der Moderne nicht aussteigen können, genauso wenig, wie wir aus der Geschichte aussteigen können. Nun, ich bin mir unsicher.

Hans Belting behauptet, dass wir bereits im 3. Jahrhundert der Moderne angelangt seien, dem noch unzählige folgen würden. Seiner Meinung nach verlangte die Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts – die erste, mit Baudelaire und Manet verbundene Moderne im 19. Jahrhundert hinter sich lassend – nach einer Moderne der Zukunft und verband damit die eben bereits erwähnten gesellschaftlichen und politischen Utopien. Danach folge nun, so Belting, eine Moderne der Erinnerung, auf die Prospektive folgt sozusagen die Retrospektive. Dass mit seinem spezifizierten Begriff der »Moderne der Erinnerung« in Bezug auf die gegenwärtige Kunst und insbesondere auch auf die von mir selbst gemachte Kunst etwas anzufangen ist, haben andere Autoren bereits verschiedentlich dargestellt.

Es geht also um das Arbeiten mit bereits vorhandenem Material, um einen Blick auf Welt, auf Realität, auf Geschichte durchs Archiv, durch das bereits vorhandene Bild, das Foto, sei es selbst fotografiert oder irgendwo gesucht oder gefunden. Archive, und hier nicht nur wissenschaftliche, wurden zu dieser Zeit

– zunehmend wichtig, und

– ich begriff Archive bald als Teil meines Ateliers.

Nie war es möglich, sich der Archive zu bedienen wie heute. Wir leben erstens in einer Zeit und in einer Gesellschaft, die dazu neigt, alles und jedes sofort zu archivieren. Alles ist sofort Geschichte, alles verschwindet alsbald in den bekannten Speichern unserer Kultur und ist dann über die Vernetzung in einer Weise zugänglich und verfügbar wie nie zuvor: Museen, Bibliotheken, Universitäten, öffentliche Archive, das Internet und Ähnliches. Die Dinge werden somit effizient und schnell einer Anonymität und auch zugleich vielleicht dem Fluss Lethe, dem Vergessen, überantwortet. Das hängt vermutlich mit dem Legitimationszwang einer Gesellschaft, einer Kultur zusammen, die sich Netzwerke über Netzwerke baut, weil sie glaubt, irgendwann werde sie einmal zur Rechenschaft gezogen.

Der Wissenschaft, den Dokumentaristen, den Spezialisten sind, wenn man ihren Klagen glauben soll, in den letzten Jahren zunehmend zwei Dinge abhanden gekommen: Kriterien und Personal. Riesige, nicht mehr zu benennende und zu klassifizierende Archive, Bilderberge und Dateimengen liegen in irgendwelchen Gebäuden und auf irgendwelchen Festplatten und verrotten allzu oft. Dies ist also weniger das kollektive Gedächtnis, das kollektive Wissen, es ist eher schon mehr das kollektive Ungewusste, Vergessene, Nicht-mehr-Gewusste und damit auch das kollektive Unbewusste.

Erfahrung ist heute in den seltensten Fällen noch eine reale, sie ist meistens eine virtuelle. Diese Unzahl von Dateien, Bildern, Archiven, zudem meist frei zugänglich, ermöglichen einen geradezu »re-visionären« Blick auf die Dinge. Niemand kann mehr der Vielfalt und der Zahl der Dinge gerecht werden. Daher mache ich also nicht die Dinge selbst zum Gegenstand meiner eben künstlerischen und nicht wissenschaftlichen Arbeit, sondern ich mache meinen Blick auf dieselben zum Gegenstand meiner Arbeit, wohl wissend um den doppelten Status meiner Arbeiten, wohl wissend um ihre interpretative Doppelcodierung.

Die Überführung von Material – gemeint ist hier nicht nur das Archivmaterial – in die Malerei bringt dann etwas anderes, durchaus Neues hervor. Die Malerei ist das Medium der Verspätung. Verglichen mit mündlichen Berichten, Fotoreportagen oder Live-Bildern aus Fernsehen und Internet kommt die Malerei notwendigerweise zu spät. Hierin liegt aber vielleicht einer ihrer größten Vorzüge. Obwohl die Malerei ihr visuelles Material notgedrungen aus Anschauung, Vorstellung, aus zweiter Hand, aus Abbildungen der visuellen Medien et cetera filtriert, kann es ihr gelingen, etwas zu stiften, was es ohne sie, ohne das gemalte Bild nicht gäbe. Nämlich: Wenn es ihr gelingt, das abbildlich Reproduzierbare zu überbieten und das Faktische dann im Bild zu konzentrieren. Marcel Duchamp hat vorgeschlagen, das Wort »Gemälde« durch »Verspätung« zu ersetzen. Er weist hier einerseits auf den Ready-made-Charakter des Faktischen hin, und andererseits weist er auf die besondere temporale Verfasstheit der Malerei hin.

Es geht gar nicht darum, dem visuellen Material gerecht zu werden. Es geht auch nicht darum, einen Zusammenhang zu behaupten und ihn dann begrifflich zu legitimieren. Ich behaupte in der Malerei zwar einen Zusammenhang, und andere wären ebenso denkbar, aber: Hier geht es um Anschauung, nicht um Begriff, nicht um Sprache. Die Art, wie ich etwas behaupte, setze, hat so ihren Platz nur in der Malerei.

Die Freiheit der Malerei ist doch, dass sie eben nicht einem begrifflich-logischen Legitimationsrahmen verpflichtet ist. Die sich der sprachlichen Logik oft entziehende bildkünstlerische Sicht ist es, die den begrifflichen, sprachlichen und auch wissenschaftlichen Umgang mit dieser Thematik irritiert. Die Malerei ist etwas Leibliches, sie ist sozusagen das induktive, das somatische, leibliche Gedächtnis.

Der grundsätzliche Unterschied zwischen Künstler oder Maler und dem Wissenschaftler, was den Umgang mit Fakten, mit Material, betrifft, ist auch der, dass der Künstler – induktiv vorgehend – in seiner Arbeit vielleicht sogar einen abstrusen Zusammenhang behaupten kann, unbewiesen sozusagen, während ein Wissenschaftler – deduktiv vorgehend – sein Handeln logisch und begrifflich belegen muss, zumindest solange er sich einem positivistischen, nachkartesianischen Wissenschaftsbegriff verpflichtet sieht. Beim Künstler handelt es sich ja vielleicht nur um eine artikulierte Vermutung. Das künstlerische Experiment ist – ganz im Gegenteil zum wissenschaftlichen – nicht unbedingt dazu ausersehen, eine Hypothese zu falsifizieren oder zu verifizieren. Auch eine nicht zu verifizierende Hypothese kann künstlerisch interessant und bedeutsam sein. Also: Der Wissenschaftler will sich einen Begriff machen, der Künstler will sich Anschauung verschaffen, ein Bild machen.

Die heute manchmal festzustellende Aneignung des Ästhetischen durch die Wissenschaft ist ja vielleicht auch eine gewisse Bankrotterklärung derselben, zumindest was die schon erwähnte anbetrifft. Dasselbe lässt sich auch umgekehrt feststellen bei Künstlern und Künstlerinnen, die sich, ihren eigenen künstlerischen Strategien misstrauend, auf Methoden, oftmals aber eher Pseudomethoden und Strategien der Wissenschaft verlegen, die diese oft schon längst hinter sich gelassen hat.(7)

Bei dieser ganzen Debatte beschleicht einen manchmal das Gefühl, dass die Wissenschaftler, die Theoretiker, den Künstlern am liebsten das wegdiskutieren wollen, was die Kunst zumindest teilweise noch ausmacht, nämlich die Idee des Kunstwerks. Wenn man Kunst nämlich nur noch als Prozess begreift, Künstler nur noch als nützliche Ideengeber oder gar ausübende Idioten, dann gelangt man an den Punkt, wo Künstler, vor allem aber Maler, nicht mehr gebraucht werden. Dann können Wissenschaft und Designer einer am Event orientierten Alltagskultur die Kunst ja übernehmen.

Noch aber steht dem die Idee des Kunstwerks, des Artefakts, welches es aber immerhin auch zu schaffen gilt, entgegen. Gelegenheit zur Realerfahrung also, und die Malerei ist hier von zentraler Bedeutung.

Obwohl die Utopie der Kunst, das Hoffen auf die Moderne der Zukunft über weite Strecken gescheitert ist, wie die anderen großen Utopien auch, erleben wir immer noch Künstler, die glauben, das allen Ernstes bedienen zu können. Längst hat schon die Postmoderne die Moderne desillusioniert und auf Distanz gebracht, schon schreit man wieder nach ihr.

Kaum jemand glaubt mehr an Gott, aber alle gehen noch in die Kirche. Am Ritual hält man sich gerne melancholisch fest, der moderne, zeitgenössische Künstler als »Fliegender Holländer«, gleichsam dazu verdonnert, nie anzukommen.

Alles ist durchgespielt, nur das Spiel selbst scheint halt noch zu fesseln. Der Umbau kultureller Konventionen wurde in Gang gesetzt, indem vor allem die Künste eine Emanzipation von Konventionen, eine Befreiung versprachen, die sich aber bald als illusionär herausstellte. Das Programm verwandelte sich deshalb in ein »l’art pour l’art« der Befreiung und wir erlebten zudem eine Abkehr vom Geschmack. Die Kunst war nicht länger der Ort von Utopie und Innovation, sondern wurde zum Ort des »Anything goes«. Das ganze Leben ist eine Soap-Opera und wir haben unheimlich viel Spaß dabei. Ambiance und Lounge-Kultur sind in aller Munde, überschaubar, idyllisch, kontrollierbar, steuerbar. Kunst wird zunehmend zum Wohlfühlfaktor und zum lokalen oder regionalen Tourismusargument.

Man fragt sich entgeistert: Wie kam es dazu? – Schlechten Geschmack gab es schon immer, das ist nichts Neues. Aber neu und nicht überraschend ist, dass sich ein Großteil dieses Geschmacks in seiner ganzen Unkultiviertheit und Unwissenheit auf die Kunst konzentriert, beziehungsweise was man vorübergehend immer mal wieder so nennt. Dies ist nur Feststellung, keine Erklärung. Der enorme Kunstboom der letzten Jahre ist ja nur der offenkundigste Hinweis. Auch das: nur eine Feststellung.

Beides deutet vielleicht darauf hin, dass eine sehr große Zahl von »neuen« Menschen, nachmodernen Menschen aus aufstrebenden neuen Gesellschaftsschichten, aus den neuen Mittelschichten, in die Sphäre der Hochkultur gelangt sind. In ihrem Jugendwahn und aus ihrem versammelten Unwissen heraus – Resultat einer Bildungskatastrophe der letzten dreißig Jahre –, identifizieren sie Hochkultur mit dem Neuen, mit der Avantgarde. Der Begriff erscheint ihnen ganz unbelastet. Warum tun sie das? Frühere gesellschaftliche Aufsteiger taten dies nicht unbedingt.

Die Politik, ihre Stars und überhaupt die Leitbilder unserer Gesellschaft haben ihre Lektion gelernt: Sie haben längst verinnerlicht, dass die radikalste, absurdeste Kunst wohl die beste sein muss. Und: Aufsteiger halten sich an Idole, an Stars. Aber hier beißt sich die Katze in den Schwanz. Die Stars, die Idole, die Politiker sind auch Neulinge. Neulinge im Hinblick auf ihre eigene Geschmacksdemontage, die rückblickend – wenn man es denn weiß – von den Triumphen der Avantgarde herbeigeführt wurde. Wenn wir nun haufenweise auf solche Menschen in allen gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen stoßen und zugleich die Halbwertzeiten der Idole und Stars immer kürzer werden, sinken verständlicherweise die Qualitätsmaßstabe. – Zunächst einmal!? – Es ist doch bedauerlich, dass der Niedergang des Geschmacks sich in der Kunst selbst breit macht. Kunst ist Leben? Nein! Schon eher: Leben ist Kunst.(8)

Wie bei Religionen nach dem Ausbleiben des Erlösers die Erlösungstat weiter gepredigt wird, wird das Neue im Kunstbetrieb weiter verkündigt, obwohl Neues nicht erscheint. Wenn sich also die Kunst dieser Forderung nach der Utopie beugt, wenn sie allen Ernstes glaubt, dies weiter bedienen zu können, wird sie zum gewöhnlichen Dienstleister und unterscheidet sich fortan in nichts mehr von einer kommerziellen Unterhaltungsindustrie, die mit Utopie-light, Kitsch und Idylle als Alltagstherapeutikum herumdoktert. Dann sind wir wieder angelangt beim Prinzip: Heilung durch Kunst.

Aber, und kurzum! Ich glaube nicht mehr an die Gnade von Innovation und Avantgarde, es hilft alles nichts! Kunst ist keine Trostanstalt! Unterhaltungskunst vielleicht.

Daher sollte man um der Praktikabilität willen, damit man weiß, worum es geht, beginnen von Dingen zu sprechen, die in anderen Bereichen doch längst gang und gäbe sind. Man spricht von Unterhaltungsliteratur, Unterhaltungsmusik, und – ich habe dies bereits seit einiger Zeit eingeführt – man sollte sich doch nicht länger scheuen, von Unterhaltungsmalerei zu sprechen.

In meiner Generation wird noch und – wieder selbstbewusster – auch gemalt, viel gemalt. Ich stelle aber fest: Es gibt zu viele Spezialisten. Spezialisten, die zum Beispiel die Experimente eines Barnett Newman repetieren. Schwarze Leinwand, blaue Leinwand, roter Streifen auf Blau et cetera. Man spezialisiert sich also gern im »Abstrakten«, oder man vagabundiert ein wenig im »Sinn-Bildhaften«, da die Fotografie mit ihren technischen Mitteln das »Ab-Bildhafte« anscheinend »objektiv« besser leisten kann. Und: »Peinture« ist auch wieder gefragt. Diese oft gut gemachte, aber im Endeffekt harmlose Spezialistenmalerei fügt sich über weite Strecken widerspruchslos ein in einen auf Arbeitsteiligkeit und Effizienz angelegten Kunst- und Wirtschaftsbetrieb, in eine Gesellschaftsstruktur, in eine gewünschte globale Ordnung, in der eben auch wieder nur die Spezialisten die Entscheidungsträger sind. Die Malerei oder vielleicht sogar die Kunst im Allgemeinen kapriziert sich weitgehend und immer noch viel zu sehr auf ihre Selbstanalyse. Dies ist psychologisch betrachtet verständlich und schafft Wohlbehagen im Club der Eingeweihten und Weltfremden. Es mag nach dem Scheitern der politischen Utopien, an die die Kunst sich in unheiligen Allianzen anband, auch verständlich sein. Man hat vielleicht Angst, den Schutzraum, die Klinik zu verlassen.

Jedoch: Die Resultate liegen längst auf dem Tisch.

Mit diesen atmosphärisch pastelligen Nebelkerzen, diesem eskapistischen Mit- und Nebeneinander nomadisierender Egozentriker, die den Unterschied zwischen Individualismus und Egoismus nie begriffen haben, katapultiert sich die Kunst, die wir doch alle wünschen, heraus aus gesellschaftlichen Zusammenhängen und Relevanzen. Vielleicht nur, um nicht mehr zu irren, um sich nur ja nicht verantworten zu müssen?

Diese ganze selbstreferenzielle Malerei oder Kunst, die sich heute meistenteils in eine nette, harmlose und dekorative Entbehrlichkeit verabschiedet hat, ist ein einziger opportunistischer Reflex. Sie ist sparkassen-/regierungs- und bürogebäudekompatibel, sie langweilt nur noch und desavouiert zugleich ihre geistigen Väter und Mütter. Es gibt gar nicht so wenige Langweiler, die sich abendfüllend über die Befindlichkeit von Farbe beim Auftreffen auf die Leinwand unterhalten können, oder ob es vielleicht doch besser ein Stück Blech oder Holz sein sollte, auf das man malt.

Nicht mehr das Neue, sondern das Andere, nämlich Relativierung, Zeitgenossenschaft, artikulierter Zweifel und Mut, nicht Analyse, sondern Synthese wagen, erscheint mir interessant.

Diese zwanghafte, gebetsmühlenhaft wiederholte Forderung und Suche nach dem ewig Neuen gehört doch nur zur Fortschrittsgläubigkeit einer mittlerweile historischen und linear gedachten Moderne. Woher kommt denn noch immer dieses ungebrochene Bedürfnis nach dieser Utopie?(9) Nicht bei allen darf man Unwissenheit unterstellen. Eigentlich müsste doch längst Übersättigung vorherrschen. Aber nichts da, wie schon gesagt: Kaum hat schon die Postmoderne die Moderne auf erträgliche Distanz gebracht, schreit man schon wieder nach ihr.

Was kann die Malerei noch leisten nach einer Postmoderne, die eben auch schon Historie ist? Sie muss sich zunächst ihren Kanon wieder neu erstellen, um ihre Atomisierung, ihre Selbstzertrümmerung, Selbstzerstückelung auch infolge der Konkurrenz zu den reproduktiven Medien zu überwinden. Sie ist mittlerweile überanalysiert und austherapiert: Die Flucht ins Spezialistentum ist einfach, nahe liegend vielleicht, aber auch opportunistisch, wie gesagt politisch überschaubar, kontrollierbar und zudem langweilig. Studenten kommen heute zu oft schon als Spezialisten aus den Akademien raus, weil eben dort Kissen, Nagel, expressiver Furor, verhaltene Ängstlichkeit, esoterische Wichtigtuerei und ähnliches Spezialistentum gepflegt wird. Sie beherrschen keinen Kanon mehr, und das nimmt dann oft auch –verständlicherweise – niemand mehr ernst.

Wir können uns nicht auf die einfachen Lösungen mit ihren allzu naiven Heilsvorstellungen und Rezepten stürzen. Nachdem das Pathos der Totalität nur mehr als Dämmerlicht auszumachen ist, wird doch zunehmend eine Vielfalt von Möglichkeiten sichtbar. Dieser Vielheit müssen wir uns stellen. Zudem hat dies zur Folge, dass es auch nicht mehr darum gehen kann, sich von bürgerlichen Denkformen abzuwenden, sondern dass der auftretende Dissens mit bestehenden Denk- und Lebensweisen sich von einer langweiligen und kräftezehrenden Antihaltung zu einer raffinierteren und womöglich auch viel subversiveren Metahaltung oder Metareflexion wandeln muss. Hier ergibt sich ein Kontinuum des Aufbrechens und Zusammenfügens in einem permanenten Wechsel der Perspektiven und der Erprobung neuer Standorte und Strategien, welches von der Analyse zur Synthese führen kann. Eine Kunst der Beliebigkeit, des »Anything goes« oder des »Alles ist erlaubt« greift zu kurz. Es geht doch vielmehr darum, sich die Vielheit und Komplexität von Bild-, Sprach-, Denk- und Lebensformen bewusst zu machen.

Die Maler sollten daher wieder schnell lernen zu machen, was sie wollen, und nicht, was sie können, denn viele können oft doch nur wenig, denn sie sind Spezialisten. Es kann doch nicht angehen, dass wir vor unseren Bildern mit gehobenen Händen und Schultern stehen und sagen: Hier steh ich, ich kann nicht anders!

Nein! Es muss anders lauten: Hier steh ich, und ich kann noch ganz anders!

Es geht also darum, diese Schiene der Reduktion, der Atomisierung der Malerei zu verlassen. Weniger ist nicht länger mehr, und oft ist es auch überhaupt nichts mehr. Riskieren wir also mehr, selbst auf die Gefahr des Irrtums hin. Wir können aus der Malerei nichts mehr rausnehmen, wir können nur noch das Gegenteil unternehmen. Wir müssen wieder Dinge in die Malerei einführen, die sie vielleicht so auch noch nicht gekannt hat.

Die Malerei sollte noch viel stärker die ästhetischen Resultate der Konkurrenz, seien es elektronische Medien, digitale Bildwelten oder auch die Fotografie würdigen, verinnerlichen und dann aber auch tunlichst verwerten und nutzen mit allen ihr aus der Geschichte der Malerei – und eben nicht nur aus der Geschichte der Malerei der Moderne zur Verfügung stehenden Mittel. So sie die Mittel nicht oder nicht mehr hat, muss sie sich diese verfügbar machen. Besonders die Fotografie und die mit ihr verbundenen Bildwelten – seien sie analog oder digital – erscheinen hier sowohl inhaltlich als auch formal interessant. Inmitten von Bildklitterungen, Klischees und Scheinbarem gerät dieses – einmal als objektiv angesehene – Medium nämlich derzeit etwas ins Schleudern. Zudem dann, wenn sich zum Beispiel die sichtbare Identität einer Person, nämlich ihr Porträt, im endlosen Inszenieren, Verkleiden und Maskieren verbirgt, um überhaupt noch in Erscheinung treten zu können, und zwar so, dass es überhaupt noch einer mitbekommt. Wir können, so glaube ich, bereits vom Anbruch des postfotografischen Zeitalters sprechen.(10)

Weiterhin sollte die Malerei ästhetische Resultate und die malerische Kompetenz der gesamten Malereigeschichte schleunigst wieder aufgreifen. Begriffe wie Ornament, Virtuosität, Meisterschaft und auch das erzählerische Moment sollten wieder an Bord geholt werden. Ebenso sollten wir uns an die Resultate der vormodernen Malerei im 18. und 19. Jahrhundert erinnern. Zu nennen sind hier Delacroix, Constable, Turner und andere. Gemeint sind Kompetenzen, die man zur Zeit der Moderne oft als eher hinderlich empfand und manchmal sogar arrogant abtat.

Denn es zählt das Resultat, das gemachte Bild, und nicht die Absicht, sei sie noch so ehrenhaft! Man denke etwa daran, wie die Renaissancemaler unter Zuhilfenahme von technischen Geräten begannen, ihre riesigen Bilder zu malen. Dürer gelang es, mit speziellen Zeicheninstrumenten einen perspektivischen und zugleich auch virtuellen Bildraum zu konstruieren. Und wir heute?

Neben Kamera Obscura, Kamera Lucida, Spiegeln, Linsen und Storchenschnäbeln – um hier nur einige sehr klassische technische Hilfsmittel der Malerei aufzuzählen – stehen uns doch heute noch ganz andere Mittel zur Verfügung. Wir können mit Hilfe des Computers Motive jedweder Provenienz scannen, importieren, und manipulieren. Dies nenne ich synthetisches Vorgehen. So entstehen neue Bildrealitäten, welche die Malerei so noch nicht gekannt hat, und die für sie von höchstem Interesse sind. Nicht dass wir uns falsch verstehen: Ich meine nicht die handelsüblichen Malprogramme, die uns lediglich höchst lichtempfindliche Digital-Prints bescheren.

Ein gemaltes Bild aber, dessen Motiv auf eine Freihandzeichnung zurückgeht, ist das eine. Eines, welches etwa auf eine computergenerierte Zeichnung zurückzuführen ist oder auf eine Projektion, ist ein völlig anderes. Hier können wir aktuell viel lernen von den Architekten, den Designern, die schon früh sich der neuen Technologien bedienten. Ebenso waren es Fotografen und weniger die Maler, die hier die Avantgarde bildeten. Mich wundert immer wieder, wie wenig sich heutige Kunsthistoriker und -theoretiker für das eigentliche Handwerkszeug der Kunst, der Malerei interessieren. Besonders bei optischen oder technischen Hilfsmitteln treffe ich immer wieder auf eher widerwilliges, gelangweiltes Zuhören. Hilfsmittel technischer oder optischer Art ziehen aber ganz bestimmte Wirkungen nach sich und können daher nicht dermaßen ignoriert werden. Wie auch immer die Hilfsmittel geartet sein mögen, sie mindern nicht das Werk eines großen Künstlers. Ihre Beherrschung verlangt oft selbst große Könnerschaft, Geschicklichkeit und Kenntnis. Es ist ja nicht so, dass die technischen Hilfsmittel die Zeichnung oder ein Bild ausführen, sondern es bleibt auch hier die Hand des Künstlers, die das jeweilige Hilfsmittel führt.

Durch die Integration sich verändernder technischer Hilfsmittel konnte sich die Malerei in ihrer langen Geschichte immer prächtig verändern und entwickeln. Zu denken ist hierbei doch nur – neben Leonardo da Vinci, der Entwicklung der Perspektive – zum Beispiel auch an die Entwicklung der optischen Linsen und ihre Auswirkung auf die holländische Malerei einerseits und die italienische Malerei des 17. /18. Jahrhunderts andererseits. David Hockney hat ein sehr luzides Buch über die verlorenen Techniken der Malerei geschrieben.

Aus solcher Offenheit gegenüber den neuen Möglichkeiten einerseits und der Revitalisierung verloren gegangener Möglichkeiten andererseits könnte sich vielleicht ein neuer, weiter gefasster Kanon wieder entwickeln, der etwas möglich werden lässt, was ich malerische Souveränität und Kompetenz nennen möchte. Kunst hat entscheidend mit Empfindung und auch mit Empfindsamkeit zu tun, aber auch sehr viel mit Denken und Nachdenken, mit Wissen und Unwissenheit.

Maler zu sein und zu bleiben ist eine psychologische wie intellektuelle Herausforderung allererster Qualität. Der Maler begibt sich damit in eine Kampfzone, die nach ständiger Erweiterung verlangt, und hierbei stößt er seltener auf Verständnis, eher auf Skepsis und Ablehnung.

* Der Text folgt einem Vortrag am Institut für Kunst und Didaktik an der Universität Köln am 18.11.2005 und geht zurück auf einen Vortrag im museum kunstpalast Düsseldorf, 2004. – Die Redaktion hat in Absprache mit dem Autor den Vortragstext leicht überarbeitet.

1

Inwiefern die Malerei sich allerdings den Regeln des Logos beugt, hat er, Rodtschenko, eigentlich nicht gesagt –und dies ist eine eigene Debatte.

2

In Ungnade gefallene Kulturschaffende wurden in der frühen Sowjetunion zur Einstimmung auf stundenlange Verhöre unter anderen auch in Zellen gesperrt, die von oben bis unten mit abstraktem und konstruktivistischen Malereien ausgemalt waren und rund um die Uhr gleißend ausgeleuchtet waren.

3

Künstler wie Nolde u. a. waren zeitweilig, besonders in der Zeit vor dem Kriege, glühende Faschisten und Anhänger Hitlers, die nicht begriffen, warum man sie zurückwies. Es gibt zahlreiche Literatur hierzu, der Briefwechsel zwischen Nolde und der Reichskulturkammer z. B. kann heute nachgelesen werden.

4

Man muss sich nur einmal mit ehemaligen »Patienten« von Otto Mühls Friedrichshof unterhalten, um hiervon eine Idee zu bekommen.

5

All diese Gedanken bildeten übrigens in den Jahren 1995–1999 den Hintergrund für einen Werkzusammenhang, den ich die »Modernebilder« nannte. Der gesamte Zyklus wurde in 1999 erstmals komplett im Kunstmuseum in Düsseldorf gezeigt. – Siehe dazu auch: Heribert C. Ottersbach. Modernebilder 1995–1999, Köln (DuMont Kunst- und Literaturverlag) 2002.

6

Zwar haben sich in der Kunsttheorie Greenbergs Kritiker wie Harold Rosenberg oder auch Rosalind Kraus mittlerweile durchgesetzt, aber das Zitat ist hier durchaus angebracht und sinnvoll.

7

Die so genannte Kontextkunst hat hier in den Neunzigern zumeist noch unter Beibehaltung politisch korrekter Methoden und Strategien manche Blüte ausgetrieben, und zwar sowohl in der Theorie als auch in der Praxis. Die Anverwandlung des Ästhetischen durch die Wissenschaft und die Anverwandlung des Wissenschaftlichen durch die Kunst hat bislang eher etwas Naives, Rührendes denn Ernstzunehmendes. Und mindestens in dem Maße, wie mir oft das Kunstverständnis des Wissenschaftlers fragwürdig erscheinen mag, frage ich mich genauso oft, welches Wissenschaftsverständnis der Arbeit mancher Kollegen und Kolleginnen zu Grunde liegt. Hier herrschen noch weitgehend romantische Vorstellungen vor.

8

Dies nur als Beobachtung, vielleicht als Feststellung, über einen Kunstbetrieb, der über weite Strecken sich der Forderung nach Effizienz, Unterhaltung und einfachen Lösungen gebeugt hat.

9

Wie gesagt: Die Resultate liegen als riesiges Puzzle auf dem Tisch oder hängen in den Museen der Moderne, die in ihrer äußeren Anmutung oft auf mich wirken wie verlassene U-Bahnhöfe aus einer längst vergangenen Zeit.

10

Ich selbst bewege mich mit vielen meiner Bilder und Bildgenerierungen exakt in jenem Bereich der Wahrnehmung, wo Erinnerung und Dejà-vu mit dem Sichtbaren sich überschneiden, beiläufig nur, wie von ungefähr, zufällig. Viele dieser Personen, Räume, Gebäude, Situationen, die auf meinen Bildern auszumachen sind, kommen einem irgendwie bekannt vor. Aber: Es sind lediglich Projektionen – mediatisierte Bilder. Sie ähneln vielleicht Wahrnehmungsmustern und Schemata, sie ähneln erinnerten Bildern, aber nicht sich selbst.

 

Aus: Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur – Ausgabe 3/2007