Michael Jäger

Man muss weitermachen

Gedanken zu Peter Weiss, »Die Ästhetik des Widerstands«

 

 

MAN KANN ES NICHT LESEN, ist die erste Reaktion. Reaktion der Gegner sowieso: Den Rezensenten, die über Weiss’ Hinwendung zum Kommunismus verärgert sind, liefert die angebliche Unlesbarkeit das billigste Argument. Sie vergessen gern, dass man sich auch in den Ulysses von Joyce oder in Becketts Romane erst mühsam hineinlesen musste. Aber auch die westdeutsche neokommunistische Szene nach 1968, die in Weiss den verbündeten Künstler sieht, tut sich schwer mit seinem Stil. Viele Lesegruppen finden den Ausweg, die Ästhetik des Widerstands trotz dieses Titels als »Romanbericht« über eine Politik des Widerstands zu lesen. Das ist er ja zweifellos: Denkmal der Roten Kapelle und Rückblick auf eine Zeit, für die das Moskauer Hotel Lux sprichwörtlich geworden ist. Mit solcher Lektüre hat man in eine Unwegsamkeit Planken gelegt, die fast über den ganzen Roman tragen. Den Ausdruck »Romanbericht« lässt Weiss selbst einmal fallen in den Notizbüchern 1971–80. Und gibt bekannt, die Rote Kapelle in Erinnerung zu halten sei sein erstes Motiv gewesen.

Doch ein Roman ist ein Roman. Er hat seine eigene künstlerische Logik. Es kann Weiss nicht anders gehen als dem Komponisten Hans Werner Henze, der ebenfalls kommunistischen Widerstand gegen Hitler in einem Kunstwerk reflektiert. Was herauskommt, in der Neunten Sinfonie, die auf Anna Seghers’ Das siebte Kreuz Bezug nimmt, ist die Neugestaltung von schon Gehörtem, zum Beispiel einer Wirtshausszene aus Wozzek von Alban Berg. Jedes Kunstwerk ist kommentierende Wiederholung von Kunstwerken. Man kann Kunstwerke politisch deuten, aber nur so, dass man das Politische der Differenz von Kommentar und Kommentiertem abliest, überhaupt der künstlerischen Form. Auch für Weiss gilt: Wer einen Roman schreibt, schreibt die Romantradition fort und will sich in ihr nicht verlieren. Nie ist er das alleinige Subjekt seines Textes, sondern die Stimmen der Tradition sprechen mit. Das Subjekt ist zuletzt der Text selber, wie er hat zusammengefügt werden können.

MAN KANN ES NICHT LESEN: Keine Einführung, eins reiht sich ans andere in langen Sätzen, die durch viele Kommata nur unübersichtlicher werden; man blättert weiter und sieht, es geht über zehn Seiten ohne Absatz weiter. Ohne Absatz! Dann endlich eine Leerzeile, dann wieder ein Zehnseitenblock, und so von Anbeginn bis Seite 1196. Das Modell, dessen sich Weiss bewusst gewesen sein muss, ist Becketts Roman Der Namenlose. Der ist genauso geschrieben, nur dass bei Beckett die Blöcke in geometrischer Progression immer länger werden. Der erste ist nur eine Seite lang, der letzte geht über 135 von 175 Seiten. Dennoch wird kein Leser glauben, die Unverdaulichkeit des Beckettbuchs sei eine Folge der Form. Im Gegenteil: Hier bringt die Form etwas zum Vibrieren, ergibt eine schlimme unendliche Melodie, und obwohl nie klar wird, worum es überhaupt geht, rührt der Schlussteil des über fünf Seiten sich erstreckenden letzten Satzes an etwas, das der Leser unbewusst weiß: »... man muss weitermachen, ich kann nicht weitermachen, man muss weitermachen, ich werde also weitermachen, man muss Worte sagen, solange es welche gibt, man muss sie sagen, bis sie mich finden«, »... sie haben mich vielleicht bis an die Schwelle meiner Geschichte getragen, vor die Tür, die sich zu meiner Geschichte öffnet, es würde mich wundern, wenn sie sich öffnete, es wird ich sein, es wird das Schweigen sein«, »... im Schweigen weiß man nicht, man muss weitermachen, ich werde weitermachen.«

Zu selben Zeit, als Michel Foucault mit dem Zitat dieser Satzteile seine Antrittsvorlesung am Collège de France beginnt, schreibt Weiss seinen Roman und erwägt anfangs, ihn Die Namenlosen zu nennen. Er will der Roten Kapelle ein Denkmal setzen, sie der Erinnerung einschreiben, allen Mächten zum Trotz, die sie längst der Vergessenheit überantwortet haben. Wer kennt denn noch die Namen dieser Kämpfer – Heilmann, Coppi, Bischoff und andere? Es reicht nicht, von ihrer Tat zu wissen. Denn nie hätte es die Rote Kapelle gegeben, wenn nicht Einzelne in Erwartung, dass sie zu Tode gefoltert werden könnten, was dann oft wirklich geschah, den Kampf aufgenommen hätten. Sie haben Geschichte gemacht, doch es geht nicht bloß um Geschichte überhaupt, sondern um ihre Geschichte – »es wird ich sein«, jedes Mal mit dem Ich-Namen. Von hier aus erschließt sich die Kette der Gemälde- und Skulptur-Deutungen, die sich durch die beiden ersten Bücher des Romans zieht. Weiss ist selbst Maler, er findet eine Art Namensgedächtnis auch in der bildenden Kunst. Auch Gesichter, individuierte Körpergesten halten Personen fest, die längst verschwunden sind; die Kunst ist nicht über sie hinweggeschritten wie die Geschichtsschreibung der Sieger. So ist schon auf den ersten Romanseiten, wenn Weiss den Pergamonaltar beschreibt, sein Bedauern spürbar, dass er den Opfern der Sieger ihr Unverwechselbares nicht zurückgeben kann: »Diese eben geschaffnen, wieder erlöschenden Gesichter«, »diese unendliche Anstrengung, sich emporzuwühlen aus körnigen Blöcken«, wobei man an Michelangelos Sklaven denkt, »jede Einzelheit ihren Ausdruck bewahrend, mürbe Bruchstücke, aus denen die Ganzheit sich ablesen ließ«. Untrennbar ist dies Unverwechselbare von einem schlimmen Kampf: »wie zart der Schimmer der Haut, bereit für Liebkosungen, doch ausgesetzt dem unerbittlichen Wettstreit, der Zerfleischung und Vernichtung«, und auch von einer Hoffnung, die vergeblich scheint: »grimassierend in Schmerz und Verzweiflung, so rangen sie miteinander, handelnd in höherem Auftrag, träumend«, »verwoben alle in eine Metamorphose der Qual«.

IM DRITTEN BUCH DES ROMANS will Weiss, wie er sagt, die vorher an Kunstwerken anderer besprochene Ästhetik selbst einlösen, und zugleich sagt er, Thema des dritten Buchs sei eine »Hadesfahrt«. Er nimmt damit das einzige vorher besprochene Kunstwerk auf, das nicht Bildkunst, sondern selber Text ist, nämlich Dantes Inferno. Daran sehen wir nicht nur, dass Weiss auch in den Insassen dieser Hölle, ganz wie in den Zerfleischten des Pergamonaltars, die entstellte Erinnerung an einen Widerstand findet. Sondern auch, dass »Hadesfahrt« das Letzte und Endgültige seiner Ästhetik und so des an ihr ablesbaren Politischen zu werden droht. Denn das dritte Buch schließt den Roman. Gewiss ist damit allein die Hoffnung nicht negiert, vielmehr gibt eine Stimme der Tradition zu bedenken, dass gerade die Geschichte der Befreiung realistisch nur bis zum Schein ihres Scheiterns erzählt werden sollte: Bach in seiner Passionsmusik. Es ist auch unzweifelhaft, dass Weiss Hoffnung zu Gehör bringen will. Doch wo der Roman von Hoffnung spricht, geht es in der gestalteten Hölle fast unter. Viel hörbarer ist das Urteil des kommunistischen Arztes Hodann, der auf dem Höhepunkt des dritten Buchs seine Sicht der Menschheitsgeschichte darlegt: Es sei eine Geschichte bloß des Mordens, genauer der Mörder, und nicht bloß die Sieger, auch die Unterlegenen seien welche – obwohl Weiss die Letzteren in der Besprechung des Pergamonaltars noch schmerzlich gefeiert hatte. Da waren es gescheiterte Revolutionsheroen gewesen, jetzt scheinen es Verbrecher zu sein, die nur nicht zum Zug kamen. Weiss hat den Roman nicht nach einem Gesamtplan geschrieben, sondern im offenen Prozess des Erkennens, an dessen Ende nun eben der Mensch als Mörder zu stehen scheint.

Wiederum ist das nicht eindeutig. Nicht den Menschen, sondern den Mann sieht Hodann als Mörder. Aber diese Patriarchatskritik, wirkt sie nicht aufgesetzt, hat sie denn in der Geschichte des Spanienkriegs, des Widerstands im Deutschen Reich, des Hotels Lux eine Stütze? Gehört sie nicht eher zum Autor, der den Roman in einer Blütezeit des Feminismus schreibt, als zum Roman selber? Der Roman zeigt, dass die Führer des kommunistischen Widerstands sich wechselseitig verraten und verleumden, der Verschleppung und buchstäblich der Ermordung preisgeben. Gewiss ist die positivste Figur eine Frau: Lotte Bischoff, die in Hitlers Berlin überlebt, während die Mitkämpfer gefasst werden und furchtbar umkommen. Sie wird Lehrerin in der DDR, Weiss kann sie noch sprechen, sie immerhin ist wirklich ein Hoffnungszeichen, zumal sie nicht nur überlebt, sondern die Tradition weitergeben kann. Weiss stellt aber auch heraus, dass sie Parteisoldatin ist. Sie setzt Befehle um, nach deren Sinn zu fragen sie sich nicht erlaubt – sie ist quasi stumm. So kann er sie von der Kritik am politischen Gebaren der Widerstandsbewegung ausnehmen. Aber so nimmt er ja alle aus, die wie Heilmann und Coppi Parteisoldaten sind oder buchstäblich Soldaten wie die Frontkämpfer im spanischen Bürgerkrieg. Der Text sagt uns, dass es keine Rolle spielt, ob Bischoff eine Frau oder Heilmann ein Mann ist: Wenn die Menschheitsgeschichte eine Geschichte von Mördern sein sollte, dann nicht, weil sie eine Männergeschichte wäre, sondern eher vielleicht, weil sie eine Geschichte falscher Befehle war.

DER ARZT HODANN ist die Hauptfigur des ganzen Romans. Schon auf den ersten Seiten taucht er auf als derjenige, der Heilmann, Coppi und den fiktiven Romanerzähler intellektuell, ästhetisch und politisch gefördert hat. Weiss erwog zeitweise, den Roman mit dem Bericht seines Todes zu schließen. Hodann als Kommunist ist kein blinder Parteisoldat: Er prüft die Befehle, kommt zu anderen Schlüssen als die Führer, wehrt sich vergeblich gegen deren Sektierertum, muss die Partei deshalb schließlich verlassen. Er ist eine Parallelfigur zu Willi Münzenberg, dem kommunistischen Führer mit ebenfalls abweichenden Ansichten, der auch gehen musste und von Genossen ermordet wurde. Weiss zeichnet nicht nur Münzenberg mit Sympathie, sondern auch Herbert Wehner, der zur Sozialdemokratie übertritt. Auch Wehner wäre ermordet worden und hat selbst eine Zeit gehabt, in der er Genossen an die Tscheka verriet. Weiss ist weit entfernt, Wehners Übertritt zur Sozialdemokratie zu loben. Gewürdigt wird aber seine Abkehr von den falschen Befehlen: dass er dann noch weitermacht. So ist auch Wehners Existenz ein Zeichen der Hoffnung. Oder mindestens kann gesagt werden, dass Bischoff es nicht mehr ist als er: sie in der Blindheit der Parteisoldatin, er in der Blindheit des Offiziers, der zu lernen versucht und freilich nur eine Blindheit gegen eine andere vertauscht.

Allenfalls dies Hoffnungslicht ist auch durch Hodanns düsteres Menschheitsgemälde nicht ausgeblasen: dass das Tappen von Blindheit zu Blindheit nicht alles sein möchte; die Blindheit mag doch einmal abnehmen, sich gar lichten. Deshalb macht man weiter. Weiss lässt Hodanns Geschichtsbild der Mörder-Menschen nicht den ganzen Raum. Allerdings widerspricht der Romanerzähler nur halb: »Dennoch war das Wesentliche nicht, dass da Mächte am Werk waren, Menschen in gewaltigen Mengen niederzumetzeln, sondern dass einige sich daran gemacht hatten, diesen Taten entgegenzuwirken« – weniger noch: »dass es sie überhaupt gab«. Es ist kein kommunistischer, sondern ein existenzialistischer Kommentar, und so ist der stilistische Bezug auf Beckett kein Zufall. In einem Interview beruft sich Weiss unter anderem auf Sartre. Die Verquickung von Kommunismus und Existenzialismus prägt viele Kulturzeugnisse der 68er-Zeit.

DIE KUNSTWERKE, DIE WEISS in den beiden ersten Büchern des Romans bespricht, illustrieren immer wieder die Hadesfahrt, und zwar so, dass Hoffnung eigentlich nicht aufkommen kann. Ist das »die Ästhetik des Widerstands«? Nicht einmal Das Floß der Medusa von Géricault kann ausgenommen werden, das Gemälde, das Weiss am ausführlichsten bespricht. Es stellt zwar dar, wie Schiffbrüchige nach der Rettung winken, die, fast unerkennbar, aber real, am Horizont aufscheint. Aber wie sehr schwärzt sich das Positive, wenn man mit Weiss näher hinsieht und dann auch noch die außerkünstlerischen Umstände erfährt. Das Problem liegt nicht in der Naturgewalt des Meers, sondern in der Verantwortungslosigkeit der Schiffsoffiziere und letztlich der Staatspolitik, die sie ernannte. Das Gemälde zeigt bei näherer Betrachtung nicht nur die hoffend Winkenden, sondern hinter ihnen die Leichen. Weiss betont, dass Géricault, als er das malte, seinem Hang zum Wahnsinn entgegenarbeitete; er war das Gegenteil eines Hoffenden.

Der Berliner Religionsphilosoph Klaus Heinrich hat das Hoffnungslose des Bildes noch stärker akzentuiert: Die Schiffbrüchigen auf dem Floß zerfallen in zwei Hälften, vorn die energisch Winkenden, dahinter die Hoffnungslosen, für die jede Rettung zu spät kommt; gerade wer das als Bild des geschichtlichen Fortschritts lesen wollte, müsste sehen, dass der Fortschritt der einen stets nur die Kehrseite des Zurückbleibens der anderen ist. Diese Konstellation im Ganzen müsste ihm als etwas erscheinen, das niemals irgendwohin fortschreitet, vielmehr in ewiger Wiederkunft sich wiederholt. Kein Fortschrittsbild also, sondern ein Sisyphusbild, gespeist aus nihilistischer Angst und Verzweiflung. Wenn es hier dennoch Hoffnung gibt, dann kann es nur die sein, dass solche Bilder doch nicht die ganze Menschheitsgeschichte typisch erfassen, sondern nur die schwarzen Zeiten in ihr: die Geschichtsunterbrechungen.

SO SEHR IST WEISS NICHT EXISTENZIALIST, dass er wie Camus den Sisyphos zum Geschichtssymbol erheben will; er evoziert eine andere Traditionsgestalt. Bei der Ästhetik des Widerstands, hat Walter Jens gesagt, handle es sich um einen »Gegenentwurf« zum Ulysses von Joyce: »Herakles tritt auf den Plan und fordert Odysseus in die Schranken der Poesie!« Das ist zunächst ganz buchstäblich wahr. Die Deutung des Pergamonaltars kulminiert in der Heraklesgestalt. In den Kampf der Götter und Titanen, den Weiss als Kampf einer herrschenden Klasse gegen aufbegehrende Sklaven liest, ist der Held auf der Götterseite engagiert. Nie hätten die Götter den Kampf gewonnen, wenn nicht er für sie gestritten hätte, von dem man sagt, er sei halb Mensch, halb Gott – man kann genauso gut sagen, der Mensch Herakles, der im Kampf gegen andere Menschen siegt, werde als Halbgott bezeichnet, weil man seinen Sieg einer definitiven Heilsgeschichte zuschreibt. Doch das Besondere dieser Gestalt in Weiss’ Deutung ist, dass sein Engagement ein schwankendes und irrendes ist. Dass er an der Seite dieser Götter kämpft, bereut er später und hilft dann den Sklaven; weil er seine Rolle nicht wirklich klären kann, geht er unter. Wie sich herausstellt, ist die Heilsgeschichte noch gar nicht entdeckt, mehr noch, es ist sogar objektiv unentschieden, wie sie sich fortsetzen und ob sie sich vollenden wird.

Der es entscheidet, ist eben Herakles. Wo er siegt, siegen die Götter, die sich später dennoch als Götzen entpuppen können. Ausgerechnet von ihm, der so anfällig für Irrtümer ist, hängt also das Heil ab. In diesem Sinn ist Herakles das große Symbol des Romans, das zweierlei sagen will: Erstens, auch die Kommunisten haben sich furchtbar geirrt, und zweitens, etwas Besseres als der kommunistische Irrtum war keiner zeitgenössischen Heilsgeschichte eingeschrieben; so schlimm stand es nun einmal, dass gerade dieser Kommunismus die geschichtliche Avantgarde stellte. Die Kommunisten unter Stalins Kommando waren Herakles: halb Mensch, halb Gott und Götze. Weiss’ Herakles ist kein »Gegenentwurf« zu Odysseus, sondern ist dieser selbst zu Herakles umgeschrieben. Auch der befindet sich ja auf einer Irrfahrt. Wäre es anders, könnte er ein so überzeugendes Romansymbol nicht sein. Denn jeder Roman, sagten wir, muss die Romantradition fortschreiben, und was hauptsächlich fortzuschreiben war, war Homers Odyssee.

Diese ist die Urpflanze der epischen Gattung: Wiederholt zunächst in der Aeneis, Geschichte eines Odysseus-Gefährten, der zuletzt Rom fand und als neue Heimat gründete, während Odysseus zur alten Heimat zurückkehrte; dann in den Geschichten von Parzival, dem irrenden Ritter, der zuletzt den Gral findet; dann in der gelehrten frühbürgerlichen Persiflage von Rabelais, dessen Ritter gern saufen, weshalb ihnen statt des Grals die »heilige Flasche« verheißen ist; später im Don Quichote; noch später in Goethes Wilhelm Meister und anderen »Bildungsromanen«, die das Umherirren vollbürgerlich kanalisieren; aber auch weiterhin in echten Irrfahrten wie dem Komet von Jean Paul, natürlich dem Ulysses von Joyce, übrigens auch den Geschichten von Old Shatterhand, zuletzt noch den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull. In diese Tradition eingeschrieben ist der kommunistische Herakles ein Odysseus, der nur deshalb, weil er irrt, noch lange nicht seine Größe verliert. Denn Odysseus und Aeneas haben doch schließlich die Heimat gefunden.

WEISS HAT DEN HEROISMUS VON IRRENDEN nicht nur dargestellt; er ist auch selbst in Irrtümern befangen. Wir haben nichts vor ihm voraus, wenn wir einiges, das wahrscheinlich irrig ist, ein Vierteljahrhundert später benennen können. Es gibt eben Annahmen, die Weiss nicht einmal für bezweifelbar hält, geschweige denn für irrig; wer sagt aber, dass nicht gerade sie den Ausweg blockieren, der aus der Geschichtsunterbrechung herausführen könnte? Herakles weiß nicht, dass diese blinden Flecken existieren, denn es sind seine eigenen.

So lesen wir am Roman-Ende den düsteren Ausblick auf die Zeit des Kalten Krieges, die Vorahnung geradezu der Niederlage des Ostblocks: »Gegenüber der Herrschaft des Geldes würde die Arbeit ihre Kärglichkeit zeigen. Die gekaufte Presse des Westens würde die Armut des Ostens den Mängeln der sozialistischen Planwirtschaft zuschreiben.« Zu Weiss’ letzter Lebenszeit begann sich aber herauszustellen, dass es »die« sozialistische Planwirtschaft nicht gibt: Sie hat selber eine Geschichte. Ihre erste, die sowjetische Form scheiterte vielleicht gerade daran, dass sie Arbeit und Geld gegeneinander ausspielte. Heute glauben manche marxistischen Forscher, die chinesische Fortentwicklung seit Deng, die sich gegen Geld nicht mehr sperrt, sei unvermeidlich gewesen. Angenommen, das wäre richtig, müsste gesagt werden, es sei während der Zeit der Sowjetunion die historische Wahrheit auf West und Ost verteilt gewesen: Der Westen hätte sich einseitig am Geld orientiert, mit der Folge der Kapitalmacht, und der Osten anders einseitig an der Arbeit, mit der Folge der Armut. Nun stelle man sich aber die Ausweglosigkeit des Hasses vor, den West und Ost im Kampf solcher Einseitigkeiten gegeneinander empfinden und zur Tat werden lassen mussten. Und dann erst die Angst vor dem Hass der anderen Seite: Kann sie nicht leicht zu paranoiden Widerstandsbefehlen und Selbstzerfleischungen führen?

Selbst den Nazis gegenüber macht es sich Weiss zu einfach. Über die Angeklagten des Nürnberger Gerichts schreibt er: »Ihrer Funktionen entkleidet, glichen sie zusammengefegtem Gewürm. Wenn ein Dutzend von ihnen gehängt wurde, so war damit von ihren Mordtaten nichts gesühnt.« »Unerklärt blieben ihre Grausamkeiten«, fügt er wenigstens ehrlich hinzu. Doch wenn es gerechtfertigt wäre, Feinde als Gewürm zu sehen, das man zusammenfegen sollte, was würde dann noch gegen die Henker vom Plötzensee sprechen, die in den Gefangenen der Roten Kapelle ebenfalls nur Gewürm sahen?

FÜR DIE ZEHNSEITENBLÖCKE OHNE ABSATZ gibt es nicht nur die existenzialistische Referenz, die wir anführten, sondern auch eine kommunistische. Sie ist dafür verantwortlich, dass die Sätze von Weiss sich sperrig lesen, während die Sätze von Beckett an eine unendliche Melodie erinnern. Wohl geht es auch bei Weiss um Unendliches, wie wir gleich sehen werden, um Melodisches aber nicht mehr. Denn Weiss’ Blöcke sind anders als die von Beckett aus Stückwerk montiert. Er selbst macht darauf aufmerksam, dass gerade der Montagecharakter, und damit die Äußerlichkeit der Zusammenhänge, durch die Blocksetzung hervortreten soll. Die Irritation des Lesers, wenn ohne Übergang oder Absatz von der Gemäldebetrachtung zum innerparteilichen Kampf und von dort zum Leben des Malers gesprungen wird, ist beabsichtigt.

Die kommunistische Referenz ist Ernst Blochs Montagetheorie in der Erbschaft dieser Zeit. Die Notwendigkeit, Romane zu montieren, statt sie flüssig zu schreiben und organisch zu gliedern, ergibt sich laut Bloch aus der Erfahrung einer Ziellosigkeit, man kann auch sagen Unendlichkeit, die zur modernen Verwandlung der Odysseus-Situation führen muss. Denn nun gibt es für den Helden keine Heimat mehr. Gerade die Heimat war der Fluchtpunkt gewesen, von dem her alles perspektivisch zusammengeflossen war. Stets war ja Odysseus’ Reise von der Hoffnung begleitet, mit jeder Station rücke die Heimat näher. Wenn keine Heimat mehr zu erhoffen ist, hört der Zusammenhang der Stationen einfach auf. Dann muss man schreiben wie Joyce. Aber Bloch fügt hinzu: Während bei Joyce die Montage ein bloßes »Kaleidoskop« bleibt, verwenden kommunistische Künstler sie so, dass wieder »Sinnhaftes zusammenschießt«; es geschieht »Mischung der Teile zu bereits anderem Zweck«. Mit anderen Worten, es wird ein neues Ziel aus der Ziellosigkeit heraus, in Umrissen wenigstens, erahnt. Bloch nennt Picasso und Brecht, und diese spielen auch in der Ästhetik des Widerstands eine wichtige Rolle.

Das Gemälde Guernica wird von Weiss ausführlich besprochen. Brecht ist dominant im zweiten Romanbuch. Weiss stellt ihn als den dar, bei dem er gelernt hat. Das bedeutet zweierlei. Zum einen will Weiss über Brecht insofern hinausgehen, als er sich von dessen zu schneller Zielgewissheit distanziert. Ein »Lob des Zweifels« hat Brecht zwar verfasst, nie aber taucht er so tief wie Weiss in die nihilistische Schwärze. Um das zu zeigen, erzählt Weiss die Geschichte, wie Brecht das Leben des schwedischen Aufrührers Engelbrekt dramatisieren wollte, die Lust aber verlor, als Engelbrekts schmähliche Ermordung und die Qual seiner Frau hätte dargestellt werden müssen. Zum andern bringt Weiss so aber auch zum Ausdruck, dass es ihm um die Umrisse eines neuen Ziels geht. Genauer gesagt bringt es sein Text zum Ausdruck. Wenn wir lesen, dass Herkules sich mit falschen Göttern verbündete, so ist das nur die halbe Wahrheit; es ging nicht bloß um Bündnispartnerwahl. Man kann sich der guten Sache nicht einfach anschließen. Man muss sie erst (er)finden. Wenn das der Inhalt des Romans nicht sagt, sagt es seine Montageform.

Hängt doch die Geschichte selbst nur durch »Montage« zusammen, oder wie Bloch auch sagt: durch »Ungleichzeitigkeit«, mag ein Romanstil es nun nachahmen oder nicht. »Begriffene Geschichte«, schreibt Bloch in Thomas Münzer als Theologe der Revolution, ist kein »festes Epos des Fortschritts und der heilsökonomischen Vorsehung, sondern harte, gefährdete Fahrt, ein Leiden, Wandern, Irren, Suchen nach der verborgenen Heimat; voll tragischer Durchstörung, kochend, geborsten von Sprüngen, Ausbrüchen, einsamen Versprechungen, diskontinuierlich geladen mit dem Gewissen des Lichts«.

Ich danke den Gesprächspartnern: Anke Bünz-Elfferding, Jobst Dahle, Wieland Elfferding, Eva Jobst, Gudrun Kohn-Waechter, Peter Meyer, Jutta Pape, Petra Struve-Mardones.

 

Aus: Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur – Ausgabe 3/2007