Xaver Brenner

Die vergessene Utopie der 68er

Am Beginn eines neuen utopischen Zeitalters?

 

 

Vom »Geist der Utopie« ist in der Rückschau auf 68 gegenwärtig wenig zu spüren. Utopien gelten nun als offensichtlich überholt oder katastrophal gescheitert. Dabei, so unser Autor, ist der utopische Kern von 68 auch der wunde Punkt der gegenwärtigen Gesellschaft. Mit der Totalitarismustheorie ist das Problem theoretisch wie praktisch keineswegs gelöst. Das Beschweigen oder Vergessen der Möglichkeiten und Notwendigkeiten etwa von »kulturellen« oder »zivilisatorischen« Utopien lässt geradezu Platz für ganz alte, reaktionäre und neufundamentalistische Utopien. Dagegen stellt unser Autor Überlegungen über verschiedene utopische Grundformen an. Umso besser lässt sich dann auch 1968 verstehen.

Als gäbe es eine geheime Verabredung zwischen den 68ern und ihren Kritikern. Nur ganz selten taucht der Begriff Utopie (gr. Nirgendsland)(1) in den Debatten zum Thema 68 auf. Vom »Prinzip Hoffnung« wird nicht mehr gesprochen (Bloch),(2) die Idee der »Rätedemokratie« findet keine Erwähnung. Und doch hat sie den utopischen Horizont dieser Bewegung gebildet. Uns hat der Prager Frühling als »Kommunismus mit menschlichem Antlitz« begeistert. Davon haben viele geträumt. Heute wird er nur noch als Beginn des Verfalls des Ostblocks gedeutet. In den USA hat Martin Luther King diesem Aufbruch ein Gesicht und eine utopische Botschaft gegeben. Für ihn war eine Welt ohne Träume nicht erstrebenswert. Damit hat er die amerikanische Bürgerrechtsbewegung inspiriert. Sie wiederum war Teil einer weltweiten Jugendbewegung, die mit ihrem zentralen Anliegen: »Die Phantasie an die Macht!« auch Europa erreichte.

Diese utopische Bewegung gegen den Stillstand der Zeit ist in der Bundesrepublik auf besondere Verhältnisse getroffen. Das Land lag immer noch in der Schockstarre der Nachkriegszeit. Die Elterngeneration blickte zurück auf einen selbst verschuldeten Albtraum, den »man« mit Schweigen überging. Gegen dieses Schweigen opponierte die Jugendbewegung 68. Sie wollte ein anderes Leben und griff deshalb begierig nach den utopischen Träumen einer befreiten Gesellschaft (Marcuse). Sozialistische, urkommunistische und religiöse Utopien waren der »Sauerteig« (Bloch) der 68er-Bewegung. Haben wir das vergessen?

Da von einer linken und rechten Verschwörung nicht auszugehen ist, muss für dieses Vergessen ein Tabu vorliegen! Ist das verdrängte Thema für alle zu heiß, zu unberechenbar, eben zu utopisch? Sind wir also auf ein Tabu gestoßen, das auch die heutige Gesellschaft nicht mehr berühren will? Wenn dem so ist, so ist der utopische Kern von 68 auch der wunde Punkt der gegenwärtigen Gesellschaft. Dann aber arbeitet in diesem Tabu ein geheimes, wechselseitiges Verdrängungsinteresse. Was verbirgt dann die verdrängte Utopie an zentralen Fragen unserer Gesellschaft? Denn nicht nur in Deutschland, auch in Frankreich, England und den USA ist die Rede über Utopien aus dem Diskurs über den Gang der Geschichte verschwunden.(3) Wird doch über Sinn und Ziel der Revolte von 68 debattiert, so wird der utopische Veränderungswille umgangen. In den Talk-Runden kommt das andere Leben nur noch in versteckten Andeutungen vor, schnell gleiten die Reden in das Gewalt-, das Macht- und Umsturzthema ab. Dem Publikum soll so recht der Schrecken in die Glieder fahren. Mit der Verbindung von 68 und Revolution hat man den Bürger dann so geschockt, dass er nicht mehr nachdenkt, »warum die damals diese Welt eigentlich verändern wollten«.

Die Unfähigkeit zu träumen – Erinnerung tut Not

Damals stand für die Jugend die Frage nach der Zukunft dieser Gesellschaft an. Überall stießen wir auf die »Umgehung der Zeit« in den Reden und Haltungen unserer Eltern. Das hat uns berührt und erregt. Über ihre Jugendzeit war mit ihnen nicht zu reden. Nicht über ihre Träume und nicht über ihre Albträume. Damals lag das Schweigen schwer auf diesem Land, die Vergangenheit unserer Eltern war belastet durch den letzten Krieg und die Verbrechen des Holocaust. Sie waren die Verlierer. Es schien, als hätten sie ihre Geschichte verloren. Doch damit war ihr Schweigen für uns und unsere Zukunft zu einer Leerstelle geworden.

Damals verstanden wir ihre Sprachlosigkeit nicht als Ausdruck einer Trauer. Es war eine Trauer, die sie nicht zu leben fähig waren. Mitscherlich hat uns, mit seinem Buch über ihre Unfähigkeit zu trauern, dafür die Augen geöffnet. Er hat uns gezeigt, dass wir es mit einer zutiefst traumatisierten Elterngeneration zu tun hatten. Das interessierte uns jedoch nur im Zusammenhang mit unserem eigenen Leben. Wie jede junge Generation waren wir mit unseren Träumen beschäftigt. Doch an dieser Stelle berührte sich unsere und ihre Geschichte. Hatten sie damals keine Träume? Waren ihre Träume, ihre Hoffnungen für immer verloren? Wer danach fragte, erhielt keine oder nur ausweichende Antworten. Sie wollten von ihren Jugendträumen einfach nichts mehr wissen!

Wie nähert man sich einer solchen Elterngeschichte? Zärtlich, traurig, wütend? Damals haben wir uns der Verweigerung ihrer Erinnerung wütend genähert. Wir wollten die Stille durchbrechen, denn aus ihrem gesammelten Schweigen konnten wir keine Vorbilder für unseren Lebensweg gewinnen. Für den Mangel an Perspektive haben wir sie oft wütend kritisiert und am Ende mit dem ganz anderen Entwurf unseres Lebens konfrontiert. Ja, wir wollten ganz anders leben! Dass wir durch den Bruch in der deutschen Geschichte gezwungen waren, uns ein anderes Leben zu erfinden, begriffen wir damals nicht. Die anderen Ideen und die ersten Vorbilder fanden wir in amerikanischen Filmen (James Dean), der Musik (Elvis) und der US-Bürgerrechtsbewegung. Als aus ihr die weltweit wirkende Flower-Power-, Hippie- und Friedens-Bewegung hervorging, kam uns dieser neue Geist gerade recht. Durch ihn kam ein frischer Wind in den westdeutschen Winkel am Rande des Eisernen Vorhangs. Wir waren Provinz und wollten es nicht mehr sein. Wir waren auf der Suche nach der Lust am Körper und genossen die Freude an der Provokation. So spürten und lebten wir den Geist der Utopie(4) mehr, als dass wir ihn verstanden.

Lassen sich die utopischen Träume von 68 verstehen?

In der Rückschau stellt sich die Frage, wie unsere utopischen Träume zu verstehen sind. Gerade der Bruch in unserer Geschichte zwingt zu Überlegungen, in welchem Verhältnis sie zu den kriegsbedingten Albträumen unserer Eltern stehen. Der Schlüssel, so ist zu vermuten, liegt im Umgang mit der Zeit. Jede Jugend ist zur Erfindung ihrer Zukunft gezwungen. Ob sie es Utopie nennt oder nicht. Ob sie sich vom zivilisatorischen Strom und seinen technischen Innovationen treiben und verführen lässt oder nicht. Immer spielt der Traum des guten und besseren Lebens eine Rolle.(5) Warum reden wir hierzulande um dieses Thema wie um den heißen Brei herum? Ganz offenbar, weil wir unbedingt vermeiden wollen, über die reaktionäre germanische Utopie als Utopie zu sprechen. Folglich – das ist die These – sind wir auch nicht in der Lage, die zwei Traum- und Zeitebenen unserer Geschichte zu diskutieren. Denn unsere Träume vom befreiten Leben (1968) lassen sich nur im Zusammenhang mit den Albträumen unserer Eltern verstehen. Ihre germanischen Utopien wurden in der Zeit von 1933 bis 1945 geprägt. Und am Ende des »Tausendjährigen Reiches« war der Traum vom Herrenmenschen restlos gescheitert. 1945 lag er als zerbrochenes Leben vor ihren Füßen, während unser Traum vom freien, selbstbestimmten Leben mit dem Datum 68 begann.

Eigentlich überflüssig darauf hinzuweisen, dass die beiden Zeitebenen – 33 und 68 – durch die Eltern-Kind-Beziehung miteinander verbunden sind, wäre da nicht die eine, wesentliche Anormalität. In dieser Beziehung werden Erfahrungen weitergegeben, auch wenn sie problematisch sind. Doch mit dem Bruch in ihren utopischen Vorstellungen vom eigenen Leben konnten unsere Eltern ihre Träume nicht weitergeben. Die germanische Volksgemeinschaft war eine reaktionäre Utopie nach dem Muster der Bodenproduktion (Volk ohne Raum). Die Zukunft dieser Utopie lag in der Eroberung von Territorien irgendwo im Osten, mit den technischen Mitteln des Westens. Nach dem totalen Scheitern erwachten unsere Eltern im Nirgendwo. Das Land war nach 1945 zerstört und ihre Utopie auch. So konnte uns diese Generation keine Ideale vermitteln, die auf ihrem Lebenserfolg aufbauten. Also stürzten sich unsere Eltern in den Wiederaufbau. Der Wille zum Wunder, zur Utopie, er ergoss sich jetzt in die Einrichtung des »Wirtschaftswunderlandes«. Organisiert mit der Sachlichkeit einer kriegserprobten Bürokratie fügte sich der neue Volkswille fast reibungslos in das Räderwerk der Erhardschen Marktwirtschaft. Die anfänglichen gewerkschaftlichen Widerstände, die hohe Anfangsinflation, die Atomtodkampagne, sie waren bald vergessen. Das Schlaraffenland mit seinen Fress-, Wohnungs-, Auto- und Urlaubswellen, es war die neue Utopie der Dinge. War der Traum bis 45 noch ein territorialer gewesen, so wurde er jetzt zu einer dinglich-industriellen Utopie. Der Exportweltmeister eroberte mit Dingen die Weltmärkte. Das führte, wenn auch in Brüchen und mit Widersprüchen, zu einer Verdinglichung des Bewusstseins. Unsere Eltern begannen, die Erinnerung an den Krieg unter konsumierbaren Wunschträumen zu begraben.

Politisch abgesichert hat die Adenauerregierung den verdinglichten Traum durch die Ideologie des Antikommunismus. Jeder alternative Gedanke wurde dem Systemtest unterzogen: »Nützt das der anderen Seite?« Die Anpassungen in den Betrieben und »Institutionen« zielten auf die Ausschaltung jeder Alternative.(6) In dieser Phase entstand eine differenzierte Kritik an der neuen »Versachlichung, Entfremdung und Eindimensionalität«. Sie war keine Spezialität der »Frankfurter Schule«. Die Kritik an der geistigen Verödung wurde von so unterschiedlichen Intellektuellen wie Hans Freyer, Helmuth Plessner und Karl Jaspers getragen. Sie alle kritisierten das langsame Abgleiten unseres »Systems in den Totalitarismus«.(7)

Die Utopie der Selbstregierung

Gegen diese Tendenz hat die Außerparlamentarische Opposition (APO) auf dem demokratischen Recht der Selbstherrschaft bestanden und Formen direkter Demokratie gefordert. Schon das war eine Stellvertreterkampagne. Damals standen große Teile der Bevölkerung der Demokratie immer noch skeptisch bis ablehnend gegenüber.(8) Marcuse hat das Demokratiedefizit in den westlichen Gesellschaften als das zentrale Problem dieser Zeit verstanden. Er hat gefragt, was denn geschieht, wenn die Masse der Bevölkerung »sich mit ihrem Dasein identifiziert« und am »sozialen Wandel«(9) wie an politischer Freiheit kein Interesse hat. Es gehört zu den Seltsamkeiten unserer Geschichte, dass dem Planungsstab im Kanzleramt die Existenz dieser Anti-Utopie mehr bewusst war als den 68ern.(10) Wir leugneten diese Differenz, obgleich wir uns als Avantgarde begriffen und doch eigentlich wussten, wie groß die Kluft zwischen uns und ihnen war. Wir lösten das Problem durch das Prinzip Hoffnung. Irgendwann würden uns die Massen verstehen und sich in unsere Demos einreihen. Denn Demokratie, das war für uns die »Regierung der sich selbst Regierenden«,(11) also Selbstherrschaft. Eine Demokratie ohne demokratische Praxis, ohne sozialen Wandel, das war für uns ein Widerspruch in sich.

Mit diesen Vorstellungen forderten wir die Gegenutopie unserer Eltern heraus. Sich selbst zu regieren war für sie der eigentliche Albtraum. Es war ihr Traum, sich regieren zu lassen. Sie träumten vom starken Führer, einem Barbarossa, einem Friedrich, einem Bismarck. Doch die gute Führerregierung war im Kyffhäuser begraben. Wagner inszenierte ihre Auferstehung in seiner Musik. Und Nietzsches »Übermensch« wurde von unseren Eltern als Mensch der »Machtergreifung« missverstanden.(12) Für sie war er der Führer, der sie von der eigenen Selbstverantwortung befreite. Geschah es durch den Raub der Mächtigkeit des Volkes, dann war diese Ermächtigung durch den Machtmenschen im »Ausnahmefall«(13) absolut gerechtfertigt. Er musste nur die utopischen Sehnsüchte in den deutschen Märchen von der Vorsehung und vom auserwählten Volk ansprechen. Weit vor Hitler hatte die wilhelminische Propaganda diese reaktionäre Utopie im Krieg gegen Frankreich benutzt. Der Raub der Volkssouveränität wurde für die in Aussicht gestellte Entlastung von Verantwortung billigend in Kauf genommen. »Gewünschte Unfreiheit« ist ein reaktionäres Motiv in der Utopie unseres Volkes. Sie ist und war rückwärts gewandt, weil mit diesem Motiv für die Unverantwortlichkeit gekämpft wird.

Ihr Kampf, unser Kampf

Götz Aly hat in der Tradition des Konvertiten ein Buch mit dem Titel Unser Kampf. 1968 – Ein irritierter Blick zurück geschrieben. Er nimmt darin reumütig Abschied von seiner revolutionären Vergangenheit. Als Erlebnisbuch könnte das noch durchgehen. Doch Aly sucht als Geschichtswissenschaftler eine Theorie der 68er zu liefern.(14) Darin ist er ernst zu nehmen. Und darin ist er gescheitert. Von vielen Seiten ist zu hören, dass er ein unwissenschaftliches, ein schlecht begründetes Buch geschrieben hat, das hoffentlich bald vergessen sei. Einerseits ist das zu hoffen, damit die Reputation, die sich Götz Aly als Historiker erworben hat, nicht vollständig verloren geht. Andererseits wird das Buch von einer einzigen, ursprünglichen Intuition getragen, die mehr wert ist, als Aly selbst aus ihr entwickelt. Diese Intuition spiegelt nicht nur Alys seelische Vorgänge wider, wie Jörg Später in der Kommune 2/08(15) meint. Der Kern seiner Intuition liegt in der These, die »Bewegung von 68 spiegelt 33«.(16) Diese These ist richtig, muss aber gegen Götz Alys widersinnige Ableitungen verteidigt werden. Dazu gehört die unbewiesene Behauptung, die 68er-Bewegung sei der »Widergänger der ... Nationalsozialisten«(17) und darin »als sehr deutscher Spätausläufer des Totalitarismus« zu verstehen.(18)

Zur Beweisführung seiner Intuition benutzt Götz Aly den historischen Vergleich und das logische Instrument der Analogie. Die Parallele von Studentenbewegung und Hitlers Mein Kampf sucht er durch den Kampfbegriff zu beweisen. Doch vom griechischen Kampf (das agonale Prinzip) bis zu den olympischen Kampfspielen spannt sich ein weiter Bogen. Wenn in und um alle Systeme gekämpft wird, so man fragt sich: Wodurch unterscheiden sich demokratische, faschistische oder kommunistische Parteien dem Inhalt nach und worin sind sie sich strukturell gleich?

Gerade die Ziele (die teleologischen Aspekte) muss ein Historiker von den Mitteln zu ihrer Umsetzung unterscheiden. Welche Utopie steht hinter dieser Bewegung? Was ist ihr historischer Richtungssinn (siehe Abbildung 1)? Stattdessen beharrt Aly auf der These von der Gleichheit des Kampfes, vom Schulkampf bis zum »langen Marsch durch die Institutionen«. Überall Kampf gegen das »System«. Bei den Nazis und den 68ern. So wird aus der konkreten Frage über die Analogie der Oberfläche ein absurder Schluss gezogen. Weil beide Bewegungen gegen ein System kämpften, wird der Systemkampf zur Brücke für sein Schlussverfahren. »Alle die gegen das bürgerliche System gekämpft haben, sind faschistisch. Die Studentenbewegung hat gegen das bürgerliche System gekämpft. Also ist die Studentenbewegung faschistisch.«(19)

Die methodische Dürftigkeit solcher Analogieschlüsse schreit nach einer stützenden Theorie. Götz Aly findet sie im Totalitarismusvorwurf. Doch damit gerät er in noch größere Beweisnot. Gegen eine Generation oder ein Volk erhoben, lässt sich der Totalitarismusvorwurf nur auf dreierlei Art und Weise führen:

A) Biologisch-rassistisch. Die Deutschen wären dann als Rasse totalitär. Diesen Pfad verfolgt er aus guten Gründen nicht.

B) Die Deutschen ändern sich nicht aufgrund ihres nationalen Charakters. Das läuft auf die Kollektivschuldthese hinaus. Auch ein absurder Vorwurf, endet er doch im Stillstand der Geschichte.

C) Der »autoritäre Charakter«, den Adorno und Horkheimer im Deutschland der Vorkriegszeit untersucht haben. Er wird von Götz Aly aus gutem Grund umgangen. Erstens weil diese Untersuchung nachweist, dass die deutsche Gesellschaft in ihrem historischen Richtungssinn auf die Restauration der Vergangenheit ausgerichtet war. Und zweitens, weil dieselbe Untersuchung in ihrem methodischen Ansatz von einem demokratischen Richtungssinn ausgeht, der den Fortschrittsgedanken im Auge hat.

Die Utopie einer Epoche ist ein totaler Gesellschaftsentwurf

Jeder Epoche liegt ein totaler Gesellschaftsentwurf zugrunde. Auch ein bisschen Feudalismus und ein bisschen Demokratie gibt es nicht. Dass im Wechsel der Epochen jedes System eine Epochengrenze überschreitet, hat auch Hannah Arendt gewusst. Wenn sie von der Grundbedingung jeder »totalen Herrschaft« spricht, so meint sie die »Umwandlung der Klassen(gesellschaft) in die Massen(gesellschaft) und die damit einhergehende Beseitigung jeder Gruppensolidarität«.(20) Mit ihrer Totalitarismustheorie lässt sich der Terror begreifen und kritisieren, der bei dieser Umwandlung angewendet wird. Das zugrunde liegende utopische Sinnsystem deckt diese Theorie jedoch nicht auf. Das ist ihre eigentliche Schwäche. Zwei Fragen bleiben unbeantwortet. Erstens, in welcher Richtung die Zeit überschritten wird. Zweitens, von welchem utopischen Sinn dieser Systembruch getragen wird. Wenn auf diese Zeit und Sinnfragen nur mit der Verurteilung der Mittel des Terrors geantwortet wird, so steht die Französische Revolution unterschiedslos neben der russischen und chinesischen Revolution. Nur die Zahl der Opfer, beileibe keine unerhebliche, macht dann den Unterschied zum totalitären System aus.

Auch Adorno hat die Totalitarismusidee benutzt. In einem Brief an Herbert Marcuse schreibt er: »Die Meriten der Studentenbewegung bin ich der Letzte zu unterschätzen: sie hat den glatten Übergang zur total verwalteten Welt unterbrochen. Aber es ist ihr ein Quäntchen Wahn beigemischt, dem das Totalitäre teleologisch innewohnt.«(21)

Die »total verwaltete Welt« steht bei Adorno für die verdinglichte Gesellschaft der Bundesrepublik. Für sie, wie die anderen Gesellschaften des Westens, fürchtet er den Totalitarismus der Dinge, des Konsums und der Versachlichung des Lebens. Die Studentenbewegung, die eben diese Tendenzen kritisierte, wird nicht wegen ihrer kritischen Politik angegriffen, sondern wegen des Wahns, der über die Gesellschaft hinausschießt. In ihm ruht für Adorno ein teleologisches Element. Es geht ihm um die Ziele, die ins Totalitäre überschießen. In dieser Verbindung kritisiert er unausgesprochen die innewohnende Utopie. Der Konflikt mit Bloch kommt nicht zur Sprache. Doch er klingt durch. Adorno misstraut Theorien, die das »Ganze für das Wahre« halten. Hier lohnt es sich, die utopischen Vorbilder ins Auge zu fassen.

Die historische Verlegenheit

Die Französische Revolution erledigte für sich die Vorbildsuche, indem sie in die Historie griff. Die römische Republik, ihre Konsuln, ihre Parteien und die republikanischen Strukturen, das war ihr Vorbild. Die Utopie der »bürgerlichen Freiheit« wurde in die römische Republik zurückgespiegelt. Schon der Kult des höchsten Wesens war eine Kopie aus Rom. Und als sich dann die Revolutionäre noch in Konsule (Napoleon) verwandelten, war die utopische Transformation perfekt. Die Französische Revolution war der Verlegenheit entronnen, ein praktisches Modell für ihre Utopie zu liefern. Ihre Revolution wurde vom Vorbild nicht diskreditiert.

Der ungeheure Vorteil des utopischen Modells liegt darin, dass es die Utopie nicht gibt. Die englische Revolution (1648/Cromwell) suchte ihre Utopie im himmlischen Jerusalem. Jenseits der Zeit war dieser Ort unwiderlegbar wahr, wurde nur an ihn geglaubt. Die amerikanische Revolution träumte das Land der Reinen in den weiten Westen hinein. Auch diese Utopie war ohne Makel, dachte man das Land als leeren Raum, indem man die Indianer dem Bereich der Natur zurechnete.

Von der Pariser Kommune über die Oktoberrevolution bis hin zur chinesischen Revolution taucht ein anderer Utopietyp auf. Er sieht sein Heil in der reinen Zukunft. Erst am Ende der Zeit sollte der Kommunismus wie das himmlische Jerusalem auf Erden entstehen. Auch diese Utopie erfüllte in geradezu klassischer Weise die Grundbedingung des utopischen Denkens: das Glück beginnt erst hinter dem Horizont. Eine Utopie, die es gibt, ist geradezu ein Widersinn. Utopien motivieren die Suche nach einem Zustand, den es nicht gibt, den sich die Menschen aber trotzdem wünschen. Bloch hat das die Suche nach dem »Noch-nicht und doch-schon« genannt. Wie kann man sich aber etwas wünschen, das es noch nicht gibt? An diesem Widerspruch arbeitet jede Utopie. Die technischen Utopien suchen nach dem Perpetuum mobile, das in die Suche nach der Energiequelle schlechthin umfunktioniert wurde.

Und die Utopie der 68er-Bewegung? Offiziell hatte sie keine Vorbilder. Die Utopie war das antiautoritäre Leben selbst. Die Aktion, die sich in der Bewegung selbst neue Lebensformen und Inhalte schafft. Und doch gab es von Anfang an Vorbilder. Die Männer und Frauen des Widerstandes, die Exilliteraten und Philosophen aus Amerika gehörten dazu.(22) Ihre Utopien bewegten sich im Reich der Ideen eines kritischen Denkens. Herbert Marcuse kritisierte die repressive Gesellschaft des Westens. Seine utopische Idee sah die Ausgegrenzten, die Randgruppen die revolutionäre Initiative übernehmen, nachdem das Proletariat an der Veränderung dieser Gesellschaft scheinbar kein Interesse zeigte.(23) Nach dem Scheitern der politischen Kampagne gegen die Bildzeitung und die Notstandsgesetze war diese Bewegung in der Verlegenheit, eine historische Perspektive anzugeben. Wie weiter, jenseits der Kampagnen, jenseits der Mühen der Ebene? Wo war die leuchtende Perspektive, die Utopie einer besseren Welt?

Die Erfindung der Gegenutopie

Es gab reale Vorbilder. Doch gerade dieser Vorteil verkehrte sich für Teile der 68er-Bewegung ins vollkommene Gegenteil. Übernahm diese ein Vorbild, so lieferten sie sich diesem Vorbild aus. Indem sie ihre Utopie auf die Sowjetunion oder China festlegten, war sie keine Utopie mehr. Die verschiedenen Gruppen, die nach dem Zerfall des SDS und der APO entstanden, konkurrierten um Mitglieder, aber auch um Vorbilder. Es entstand ein Wettlauf um das beste utopische Modell weit weg von zu Hause. Doch indem diese Gruppen sich zum Nachbild ihrer Vorbilder machten, hatten sie unbemerkt ihre eigene Utopie begraben. Die Erfindung des Absurden nahm ihren Lauf. Robespierre, Danton und Marat waren in ihrer Orientierung auf das alte Rom freier, utopischer, mit mehr historischem Spielraum versehen als diese Gruppen. Die Revolutionäre der Französischen Revolution konnten ihre Welt erfinden, gerade weil es diese Utopie nicht gab. Wir hingegen waren plötzlich mit einer utopischen Projektionsfläche unserer Träume unterwegs, die es gab und die uns keine Wahl ließ. Wir hatten nicht verstanden, dass es so etwas wie ein utopisches Paradoxon gibt: Je stärker Utopien in der Wirklichkeit verwirklicht werden, desto weniger sind sie Utopien. Indem sie ihren Charakter als Nirgendsland verlieren, verlieren sie damit auch ihre utopische Funktion und werden zur Gegenutopie.

Dieser Schluss war uns zu ungeheuerlich. Und doch waren wir in jeder Diskussion mit ihm konfrontiert. Auf die Frage: funktioniert eure Utopie überhaupt? antworteten die verschiedenen kommunistischen Gruppen ganz unutopisch mit dem Hinweis auf die Sowjetunion, China und manche sogar mit Kambodscha. Das war ja so weit weg. Keiner wusste genau Bescheid. Und die Hoffung auf das Erwachen der Dritten Welt (Vietnam) zeigte weit nach Osten. Die Strahlkraft von Maos Utopie war noch ungebrochen. Vielen von uns erschien der Slogan »Kulturrevolution« als die alles umfassende utopische Metapher. Das Vorbild eines Zeitalters der kulturellen Umbrüche hatte eine Leitidee. Doch die Frage nach der Utopie entzauberte sich, als die Nachrichten von dort immer klarer vom Terror berichteten. Damals haben wir Abstand genommen. Unser Nirgendwoland war entzaubert. Es gab den realen Albtraum dort, wo wir vorher noch den gelebten Traum des Sozialismus in einem Lande vermuteten. Wir erfuhren bitter, dass Gesinnung der Sinn ist, den man in eine Sache hineinlegt und der wieder auf einen selbst zurückgeht.

Was zu lernen ist: Die Raum- und Zeitformen von Utopien

Utopien sind nicht gleich Utopien. Utopien arbeiten mit unterschiedlichen Raum- und Zeitformen. Während die ältesten Utopien an die Idee der Wiedergeburt des Bodens gebunden waren, haben sie die Raumform des gelobten Landes und der ewig sich wiederholenden Zeit mit der Wiedergeburt des Leibes verbunden. Im Buddhismus war das letztlich das Nirwana. Im Judentum war es die Wiedergeburt als Weiterleben im eigenen Stamm. Erst Griechenland entwickelt aus den Mysterien von Eleusis und der Wiedergeburtsidee des Geistes (Platon)(24) die Idee eines himmlischen Ortes. Paulus(25) hat diese Idee übernommen und als Auferstehungsmythos ins Christentum eingebaut. Zwei Orte und zwei Zeiten wurden so verbunden. Die Vergangenheit der Erde und ihre Kreisläufe wurden mit der Zukunft des himmlischen Ortes zu einer utopischen Symbiose verschmolzen. Diese große eschatologische Idee(26) hat nur einen Fehler: Man muss an sie glauben. Wissen kann man sie nicht. Trotzdem haben alle utopischen Bewegungen aus ihr geschöpft und sie dabei säkularisiert.

Drei Grundutopien mit unterschiedlichen Raum- und Zeitvorstellungen haben sich aus ihr entwickelt (siehe Abbildung).

1. Die Utopie des fruchtbaren Landes bestimmt ihren Richtungs-Sinn durch Wiedererinnerung der Vergangenheit.

Die denkbar brutalste und reaktionärste Variante hat die Naziideologie mit der Utopie des Ariertums entwickelt. Die Blut- und Boden-Ideologie ist schon augenscheinlich eine bodengebundene Utopie (Volk ohne Raum). Ihr Traum war die Landnahme im Osten durch die Arier (Idee des »auserwählten Volkes«). Die reaktionäre Utopie benutzt dabei das Muster jeder kulturellen Tradition. Kultur erinnert an das »Gute in der Vergangenheit« und sucht nach Wegen ihrer Wiedergeburt. Auch das ist eine Form der kulturellen Erneuerung, sie lebt von der Illusion, historisch Bekanntes lasse sich bruchlos wiederholen. Der Richtungs-Sinn dieser Utopie ist rückwärts gewandt durch die Idee des »Immer-wieder-So«. Die automatische Zugehörigkeit zum Stamm oder Volk vermittelt ihren Anhängern das utopische Versprechen, sie könnten die offene Zeit vermeiden. Die Vermeidung der Zukunft durch Wiederholung einer bodenfixierten Vergangenheit ist also das Fundament der konservativen, aber auch der totalitären Systeme.

2. Die zweite utopische Grundstruktur wird durch die Idee der technisch-organisatorischen Bewegung der Geschichte bestimmt.

Im Zentrum der technischen Utopien steht seit Francis Bacon die Erfindung von brauchbaren Dingen. Diese Utopie wird von der Überzeugung getragen, dass die Zivilisation durch Anwendung der Erfindungen von einem klaren, unumkehrbaren Richtungs-Sinn in die Zukunft getragen wird. Die Orientierung an der Erfindung von Sachen erzeugt die Illusion, der qualitative Fortschritt der Geschichte sei durch die Erzeugung besserer Produktqualität zu lösen. Diese Idee ist die Grundlage jedes verdinglichten Bewusstseins. Der technikorientierte Mensch glaubt an die Identität von persönlichem Nutzen und gesellschaftlichem Fortschritt. Für ihn löst der zivilisatorische Prozess die Sinnfragen. In der Verbindung von Dingen und Räumen scheint Zukunft als das automatisierte Nebenprodukt bei der Herstellung von Lebensqualität. Die Verantwortung für den gesellschaftlichen Fortschritt muss nicht wahrgenommen werden. Diese Utopie verschließt die offene Zeit durch den Glauben, die technisch-ökonomischen Innovationen würden den Gang der Geschichte von selbst bestimmen (invisible hand).(27)

3. Die dritte utopische Grundstruktur wird durch die Idee der offenen Zukunft bestimmt, die als kulturelle Zukunft gestaltet werden muss.

Dabei steht diese Idee jedoch vor einer doppelten Schwierigkeit. Sie muss zunächst die anthropologische Erkenntnis vermitteln, dass das »Mängelwesen Mensch« nicht bleiben kann, was es ist. Seine Position im Hier und Jetzt ist durch die Sorge geprägt. Dadurch ist der Mensch exzentrisch immer auf die nächste Zukunft ausgerichtet. So lebt er in einer Position, die er verlassen muss, ohne zu wissen, wo er ankommen wird. Helmuth Plessner hat dies die »exzentrische Positionalität«(28) des Menschen genannt. Er meint, wir sind zum Sprung in die Zeit voraus gezwungen, ohne zu wissen, was uns dort erwartet. In dieser Bewegung erlebt der Einzelne seine Geschichte in zweifacher Hinsicht als bodenlos. Die Vergangenheit entschwindet ihm, weil die Zeit nicht anzuhalten ist. Der Zeitraum der Zukunft ist ebenfalls bodenlos, weil ungewiss und deshalb furchtbesetzt. So müssen die Menschen in sorgender Verantwortung kulturelle Netzwerke erfinden. In dieser Bewegung der Neuformierung des Lebens findet eine beständige Integration kultureller Erinnerung statt. Tradition wird aufgenommen und sofort in das Neue integriert. Aus diesem Grunde gibt es kulturelle Erinnerung, aber keine identische kulturelle Wiederholung. Jede Bewegung, die eine kulturelle Utopie erfinden will, weiß mehr oder weniger gut um dieses Problem.

Was ist zu tun?

Die 68er-Bewegung kann nur verstanden werden, wenn wir uns daran erinnern, dass sie vom Versuch getragen war, eine kulturelle Utopie zu erfinden. Das war ihr Anliegen. Der Wahn, um mit Adorno zu sprechen, lag in der Transformation der nahen Utopie von Selbstregierung, Gerechtigkeit, Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit in ferne utopische Vorbilder des Raumes. Es war unser Fehler, Utopien immer wieder mit dem utopischen Raum zu verwechseln. Utopie ist aber das Nirgendwoland. Als Utopie ist sie also die utopische Zeit. Mithin der Zeitraum naher Utopien, die trotzdem so fern sind wie die Gerechtigkeit, wie die Brüderlichkeit. Gerade bei ihr zeigt sich, dass sie als Verhältnis zum Anderen in der nächsten Zeit doch so fern ist, aber als Forderung sich trotzdem in der nächsten Nähe des eigenen und anderen Anderen aufhält. Die Freiheit im utopischen Sinn ist nur der offene Möglichkeitsraum, vor dem sich die meisten Menschen fürchten. Obwohl das Volk weiß, dass »Stillstand Rückschritt« ist, flüchtet es doch immer wieder in statische Verhältnisse.

Es scheint, wir sind am Ende des utopischen Zeitalters angelangt. Die letzte utopisch denkende Generation, die Alt-68er, haben ihre Utopien vergessen, ganz sicher auch, weil sie noch immer ihre Irrwege verdrängen wollen. Damit liegt der dritte Bereich der schöpferischen Utopien heute völlig brach.

Das zivilisationsgläubige Bürgertum, nicht nur des Westens, ist in die Utopie des schnellen Geldes geflüchtet und dem Neoliberalismus auf den Leim gegangen. Besserwerden durch Reicherwerden hat zur Produktion von Gütern des Massenkonsums geführt. Die Sehnsucht nach diesen Gütern motiviert die Jagd nach noch mehr Geld. In China erleben wir, wie die Utopie der nützlichen Dinge und Mittel (Deng Xiaoping) heute in die Hortung von Tauschwerten (Geld) umgeschlagen ist. In den letzten beiden großen Krisen (Dotcom und Immobilien) hat diese Jagd zwar einen Rückschlag erlitten. Doch der Westen in seiner Fantasielosigkeit macht weiter, als wäre nichts geschehen.

Die Renaissance der bodengebundenen Utopien ist damit eine schiere Notwendigkeit. Sie füllen eine Lücke, die durch das Vergessen der kulturellen Utopien und durch das Versagen der zivilisatorischen Utopien entstanden ist (siehe Abbildung).

So beackern heute das Feld der Utopien nur noch die religiösen Utopisten. Die Fundamentalisten träumen vom neuen Jerusalem, jenseits der Zeitgrenze. Der politische Islam (Osama bin Laden) hat seine Utopie der Erneuerung des Paradieses entworfen. Die Wiederkunft der Religionen entpuppt sich in dieser Hinsicht als die erneute metaphysische Besetzung des Zukunftsraumes mit ganz alten Utopien. Ihr Antrieb liegt im Kampf gegen die Offenheit der Zeit und die Freiheit der Entwicklung. Beide sind für diese reaktionären Utopien der Fundamentalisten jeder Couleur die Bedrohung schlechthin.

Durch diese Hintertür der Geschichte ist also das Thema Utopie wieder in unserer Kultur angekommen. So befinden wir uns tatsächlich nicht am Ende, sondern am Beginn eines neuen utopischen Zeitalters. Die Auseinandersetzungen um die Zukunft werden zwischen den oben beschriebenen utopischen Grundformen ablaufen.

Es gibt also keine geheime Verabredung zwischen den 68ern und ihren Kritikern. Was es hingegen gibt, ist die totale Unfähigkeit, sich dem Thema der Utopie zu nähern. Angesichts der Tatsache, dass reaktionäre Utopien auf dem Felde der Ideologie die Jugend wieder verführen, ist dieses Versagen mehr als nur alarmierend.

1

Utopie, von gr., ou »nicht« und tópos »Ort«, Nirgendsland, Titel des Staatsromans des Thomas Morus (1516). Damit wollte Morus den eschatologischen Charakter seiner Staatsidee herausstreichen. Die Orientierung aber liegt im himmlischen Jerusalem, einem Territorium der absoluten Idealität. Es diente als Kritikfolie des schlecht geführten englischen Landes. Diese territorial-utopische Idee bildet den Hintergrund für die abstrakte Rationalität, mit der Morus sein Staatswesen konstruiert.

2

Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt am Main 1959.

3

Fukuyama hat mit seiner These vom »Ende der Geschichte« ja geradezu eine Gegenutopie aufgebaut. Sie lebt von einem Paradoxon, das da lautet: Das Ende der Geschichte ist eine Utopie, die von der Utopie lebt, die geschichtliche Zeit könnte sich auflösen und das Werden wäre in dieser Antiutopie zu Ende gekommen.

4

Ernst Bloch: Geist der Utopie (erschien zuerst 1918), Frankfurt am Main 1964, S. 347. Als Thema gab Bloch an: »Die Welt ist nicht wahr, aber sie will durch den Menschen und die Wahrheit zur Heimkehr gelangen.« Dieses Heimkehrmotiv liegt als Eschatologie (gr.,), »als Lehre von den letzten Dingen«, dem Buch zugrunde. Die letzten Dinge sind aber das gelobte Land, der Himmel, den die Utopie auf Erden zum Vorbild hat, nie aber erreicht.

5

Tugendhat hat auf den Zusammenhang von gut und besser als »Sich-Steigern … im Sich-Öffnen für die Realität und im Lernen« verstanden. Er entwickelt den Gedanken im Anschluss an Iris Murdoch. Und im Blick auf Nietzsche sagt er, dass das »Schritte wären, sich mehr zu genießen«. Ernst Tugendhat: Anthropologie statt Metaphysik, München 2007, S. 30. Sokrates hat dies als Besser-Werden (beltio esesthai) im Dialog Protagoras verstanden. Platon: Protagoras 318 c, zuletzt Göttingen 2006.

6

Hans Freyer: Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart 1958, S. 89. »Der Mensch wird den Institutionen willig gemacht und ihnen angepasst. Was er zu sein hat, sogar was er ist, wird nicht von ihm selbst aus, sondern von seiner Stellung und Funktion im Sachprozess entschieden.«

7

Plessner kritisierte die »Machtkonzentration zwischenstaatlicher und innerstaatlicher Art … das gesamte gesellschaftliche Leben kontrollieren, so dass im Endeffekt sich die freie Welt von den Systemen des Totalitarismus … nur noch ideologisch unterscheidet?« in: Helmuth Plessner: »Technik und Gesellschaft in Gegenwart und Zukunft« (1969), Ges. Schriften Bd. X, Frankfurt am Main 1985, S. 299. Karl Jaspers, heute zu Unrecht vergessen, hat immer wieder seine Stimme gegen die neue Versachlichung erhoben.

8

Siehe Wildenmann-Studie von Anfang 1968. Die Aussage: »Der Nationalsozialismus war im Grunde eine gute Idee, die nur schlecht ausgeführt wurde, befürworteten 9 % der Studenten mit ... Ja, aber 43 % ihrer nicht studierenden 17- bis 24-jährigen Altersgenossen. In der Gesamtbevölkerung teilten 1968 noch 50 % diese Ansicht.« Zit. nach Götz Aly: Unser Kampf. 1968 – ein irritierter Blick zurück, Frankfurt am Main 2008, S. 85.

9

Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch, Frankfurt am Main 1967, S. 14 und 31.

10

Bundeskanzleramt, Planungsstab, 18.9.1968, zit. nach Götz Aly, a. a. O., S. 88.

11

Kurt Schilling: Geschichte der sozialen Ideen, Stuttgart 1966, S. 133.

12

Nietzsches »Übermensch« muss gegen die nationalsozialistische Interpretation in Schutz genommen werden. Er meint mit ihm einen selbstbewussten Menschen, der die falsche Moral abwirft und so über den alten, moralischen Menschen des christlichen Abendlandes hinaussteigt. Siehe: Friedrich Nietzsche: »Ecce Homo«, in: Also sprach Zarathustra, Hauptwerke IV, München 1999, S. 542. »… das Ideal eines Geistes, ... der aus überströmender Fülle und Mächtigkeit mit allem spielt … menschlich-übermenschlichen Wohlseins und Wohlwollens, welches oft genug unmenschlich erscheinen wird, ...« Bei aller Kritik der Machtrhetorik. Nietzsche kann nicht als der Erfinder des Kadavergehorsams verstanden werden. Er ruft gerade zum Gegenteil, zur vollkommenen Selbstregierung auf.

13

Siehe Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen, Berlin 1932 (Neuauflage 2002), S. 39.

14

Siehe die Besprechung von Alex Schildt: »Wüten gegen die eigene Generation«, in: Zeit 9/08, S. 54.

15

In der Kommune schreibt Jörg Später: »Fast feinfühlig diagnostiziert Aly jenseits seiner polemischen Rundumschläge die ›familiengeschichtlichen Folgeschäden aus zwei fürchterlichen Kriegen‹, welche diese ›Generation der emotional frierenden Kinder‹ ausgesetzt war ...« Jörg Später: »Keine kalten Blicke«, in: Kommune 2/08, S. 22.

16

Rainer Hank: »Die Wiederholungsfalle«, in: FAZ, 24.2.08.

17

Susanne Kailitz: »Eine Revolution und ein Quentchen Wahn«, in: Das Parlament, 10.3.08, S. 10.

18

Götz Aly, a. a. O., S. 186. Hier bezieht sich Aly positiv auf die von Wilhelm Hennis vertretene These: »… das Tyrannische, Zwingende, Unfreie, alles in Marsch setzende, das Totalitäre im wirklich privat-existentiell erfahrenen Sinne, die Herstellung einer unentrinnbaren Wir-Atmosphäre … Der Stahlhelm war reaktionär, die SS wohl kaum. Herr von Papen war für den Obrigkeitsstaat, Hitler sicher für die levée en masse, genannt Bewegung. Im Nationalsozialismus nur das Autoritäre, den Obrigkeitsstaat zu sehen, aber das Element der Bewegung nicht sehen zu wollen, heißt, so gut wie nichts zu erkennen ...« Hier hätte Aly seine Intuition weiterdenken können, um die reaktionäre Utopie herauszuarbeiten. Er hat diese Chance leider vertan, die doppelte Form des Totalitarismus zu begreifen.

19

Ohne die unhistorische Schwäche dieses Verfahrens (Modus Barbara) zu durchschauen, wendet er es an. Luciano de Crescenzo hat dieses Schlusssystem einmal so kritisiert. »Alles, was pfeift, ist eine Lokomotive. Sokrates pfeift. Also ist Sokrates …« Luciano de Crescenzo: Geschichte der griechischen Philosophie. Die Vorsokratiker, Zürich 1990. Siehe auch: Günther Patzig: Die aristotelische Syllogistik, Göttingen 1969, S. 65 ff.

20

Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986, S. 484. Sie wolle ihre Totalitarismustheorie zu einer allgemeinen Feldtheorie des Sozialen machen, um die neue Epoche zu erklären. Doch der Nachweis, ob es sich beim Totalitarismus wirklich um eine neue Epoche handelt, ist ihr nicht geglückt.

21

Adorno an Marcuse, zit. in: Susanne Kailitz, a. a. O. Adorno spricht nicht vom Totalitarismus, sondern nur vom »Totalitären«. Ganz offenbar misstraut auch er diesem Begriff als Epochenkennzeichnung. Zur Totalität siehe auch: Theodor W. Adorno: Philosophische Terminologie, Bd. 2, Frankfurt am Main 1980, S. 265 ff.

22

Dazu gehörten Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Ernst Bloch, aber auch die eher konservativen Denker wie Ernst Fränkel, Eric Voegelin und Helmut Kuhn.

23

Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch, Frankfurt am Main 1968, S. 14. Dort heißt es: »Die Unterbindung des sozialen Wandels ist vielleicht die hervorstechendste Leistung der fortgeschrittenen Industriegesellschaft.«

24

Platon: Politeia, Buch X. Insbesondere die Geschichte vom Pamphylier Er, der in die Unterwelt abstieg und in den Himmel auf: 614 a–621 b. Platon ist der Erfinder von Hölle und Himmel in unserer Tradition.

25

Paulus: »Römerbrief«, 8, 12. Die Trennung von sündigem Leib (Raum der Erde) und der Erlösung durch Jesus und der Aufstieg als Verheißung (himmlischer Raum) spannen den Bogen über die zwei Zeiten.

26

Zu den letzten Dingen von der anderen Welt (aus gr., éschata, »Letztes«, und lógos, »Lehre«) gehört die Vorstellung vom Untergang der Welt, der Auferstehung der Toten und das Jüngste Gericht.

27

Adam Smith hat mit seiner Theorie der unsichtbar steuernden Hand der Ökonomie die Grundeinstellung des Liberalismus geliefert. Adam Smith: Der Reichtum der Nationen (1776). Zit. von Paul A. Samuelson: Volkswirtschaftslehre, Frankfurt am Main 2002, Bd. 1, S. 56.

28

Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Berlin 1975, S. 288 ff.

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 3/2008