Balduin Winter

Chinas Wilder Westen

 

 

Jianku – hart arbeiten. Es könnte von einer alten Kalligraphie kommen, von Maos »Hart arbeiten, einfach leben«. Bei den Han-Chinesen, die nach Tibet gehen, sich für acht Jahre verpflichten, »Tibet zu helfen«, taucht »jianku« oft auf. Es ist nicht leicht, auf ungewohnter Höhe zu arbeiten, hartnäckig hält sich bei sehr vielen das Vorurteil, die dünne Luft sei gefährlich, verkürze die Lebenserwartung. Darüber lachen die Tibeter, aber die seien anders, seien die Höhe gewohnt, arbeiteten nicht so viel, deshalb sei das Land auch so rückständig. Jianku: hart arbeiten um zu helfen. Man verdiene zwar besser als in anderen Teilen Chinas, dafür bringe man ein Opfer. Auch die soziale Situation sei schwierig, so fern der Familie und der Verwandtschaftsnetze. Das will was heißen in China mit seinen starken diesseitigen Bindungen. Aber man müsse es tun, zwei Millionen Tibeter seien zu wenig für dieses riesige Land, dessen Karten große Flächen als »unbewohnt« ausweisen.

Für ein seit Jahrtausenden hochzivilisiertes Land muss es tatsächlich eine Herausforderung sein, Regionen wie Tibet (Autonome Region) und Xinjiang (Ostturkestan) einzuschließen, die zusammen fast ein Drittel der gesamten Staatsfläche einnehmen; das ist eine Fläche von zwei Dritteln der gesamten EU, die nicht bis wenig besiedelt und nicht bis kaum kultiviert ist, während die östlicheren Landesteile, dicht besiedelt, aus allen Nähten platzen. Zivilisationsarbeit, zu der Peter Hessler vom Atlantic Monthly schon mal eine Analogie zum amerikanischen »Go West« zieht. Und, was Tibet betrifft, einen kühnen Vergleich zieht: »Ein unvoreingenommener Schiedsrichter würde die tibetischen Argumente zugunsten der Unabhängigkeit zwingender finden als die chinesische Version der Geschichte – aber er würde vielleicht auch erkennen, dass die Chinesen einen stärkeren historischen Anspruch auf Tibet haben als die Vereinigten Staaten auf die meisten westlichen Gebiete Amerikas.« Geschrieben freilich in einer anderen Zeit – Hessler, der in China und Tibet lebte, verfasste seine Reportage »Tibet Through Chinese Eyes« für die liberale US-Zeitschrift im Februar 1999.

Hessler befragte zahlreiche Han-Chinesen und Tibeter nach den Umständen ihres Lebens auf dem Dach der Welt. Man merkt, er weiß Bescheid über etwas Fundamentales, das sich nicht einfach als »gesellschaftlicher Faktor« oder als »geistige Rückständigkeit« instrumentalisieren lässt. Indem er Tibeter und Han-Chinesen gerade nicht gegeneinander in Front stellt – oft arbeiten sie zusammen, sind auch befreundet – wird die Differenz zwischen den Menschen zweier so unterschiedlicher Lebenswelten und Kulturen deutlich. Liest man dazu aktuelle chinesische Blogs – wenn sie nicht gerade wieder gesperrt sind –, wird diese »Mentalitätskluft« nur bestätigt. »Gibt es Nahrung für die Seele?«, fragt einer, und: »Dem alten Geldgott wird mit großen Feuerwerken noch die meiste fromme Aufmerksamkeit des Jahres zuteil, kurz bevor die Mitternacht den vierten und fünften Tag des neuen Mondjahres teilt.« Ein anderer, US-Auslandschinese, sieht durch die Familienpolitik und »das Rennen um ein besseres Leben« die traditionelle chinesische Familie in ihren Grundfesten erschüttert, deren Werte den Menschen wie eine Schutzhülle vor dem enormen Ansturm der neuen Dingwelt umgeben; »alles nur noch Investition?«

Noch spielen Familie und Überleben eine große Rolle, erst recht bei den Tibetern und den Uiguren in Xinjiang, wobei es noch um etwas ganz anderes geht: Zigtausende Nomaden wurden in den letzten zehn Jahren zur Sesshaftigkeit gezwungen. Wie Robert Barnett, Direktor des Instituts für Moderne Tibetische Studien an der Columbia University in open democracy schreibt (4.4.), wurden 100000 Nomaden zwangs- und 250000 Landwirte aus ihren Dörfern umgesiedelt in Häuser längs der Hauptstraßen. In Xinjiang haben die Behörden seit 2001 650000 Uiguren, Nomaden und Halbnomaden in Städten und Dörfern angesiedelt. Durch die nomadische Viehwirtschaft – die allerdings schon viele Jahrhunderte in dieser Weise betrieben wird – hätten sich nach Klagen chinesischer Behörden 81 Prozent der Fläche der Inneren Mongolei bereits in Wüsten verwandelt. Große Teile der Inneren Mongolei sind inzwischen Sperrgebiet; der 2005 von Human Rights Watch veröffentlichte 114-Seiten-Bericht »Devastating Blows: Religious Repression of Uighurs in Xinjiang« vermutet Öl- und Gasfunde. Tatsächlich ist Xinjiang zum wichtigsten Erdöl- und Erdgaslieferanten der Volksrepublik geworden.

Schon die Natur, sagt Hessler, baut eine enorme Barriere auf. Chinas wilder Westen: Die menschenleeren Weiten der Hochebenen, die Viehzüchter mit den Wanderherden, ihr von Spiritualität durchdrungenes Naturdenken, die tiefe Gläubigkeit. Der dicht besiedelte Osten, die uralte Kultur, der diesseitige Konfuzianismus, Existenzkampf und neu entfesselte Warenwelt. Auch politisch scheint der Graben nach den jüngsten Unruhen sehr tief zu sein. Es mag etwas Wahres daran sein, wenn chinesische Offizielle behaupten, die VR China habe Tibet aus der reaktionären Sklavenhalterei befreit, sie habe massive Entwicklungshilfe geleistet. Aber, hält Tang Danhong, Dokumentarfilmerin aus Chengtu (Sichuan), dagegen, »Chinesen und Tibeter haben eine lange Geschichte gegenseitiger Enttäuschungen«. Sie nennt das Bahnprojekt, chinesische Straßennamen in Lhasa, Zerstörungen durch Investitionen – und die Religion. Sie selbst ist Han und sagt: »Viele Chinesen sind durch die Religion im Alltag entsetzt.« Obwohl inzwischen die Religion auch bei den Chinesen angekommen ist, ein wenig jedenfalls, immerhin sind Ex-Parteichef Jiang Zemin und Ex-Premier Zhu Rongji Buddhisten geworden – so der Dalai Lama im Spiegel-Interview, 10.5. –, werden religiöse Aspekte trotz verfassungsmäßig garantierter Religionsfreiheit mit »patriotischen Erziehungskampagnen« bekämpft – Kampagnen, bei denen es manchmal um Leben und Tod, immer wieder um Gefängnisstrafen geht. »Religionen«, bemerkt Thomas Heberer in der Zeitschrift für chinesisches Recht 1/08, »galten schon im alten China als suspekt. Zum einen brachten die Chinesen selbst keine Erlösungsreligion hervor, zum anderen setzte der philosophische Konfuzianismus Religion und Aberglaube gleich. Da aus religiösen Aktivitäten häufig parallele Machtstrukturen entstanden, die zur Bedrohung für den Staat wurden, war religiöse Betätigung strengen Kontrollen unterworfen. Erwies sie sich als staatstragend und loyal, wurde sie geduldet, wenn nicht, verfolgt. Die Kommunisten konnten an dieser Haltung, die Religion als etwas Fremdes, von außen Gekommenes, teilweise Staatsbedrohendes begriff, das vor allem in Zeiten innerer Schwäche an Einfluss gewann, anknüpfen.«

Kompliziert wird es zusätzlich durch die Probleme des chinesischen Zivilisationsexports. Die Sinologin Susanne Weigelin-Schwiedrzik von der Universität Wien gesteht der Führung der VR Chinas durchaus vielfältige Bemühungen zu, die soziale Lage in Tibet und Xinjiang durch Hebung der Ökonomie zu verbessern. Was heute passiert, ordnet sie in einen größeren Rahmen ein: »Der Westen hatte bereits ein Konzept der Moderne und glaubte, dass sich auch China nach diesem Modell entwickeln müsse. Die Reaktion darauf war dann die chinesische Revolution, denn die Chinesen fühlten sich überfremdet und übervorteilt. Sie suchten nach einem eigenen Weg in die Moderne. Anscheinend haben sie diesen Weg gefunden, den sie jetzt aber den Völkern innerhalb des chinesischen Territoriums, die nicht Chinesen sind, aufoktroyieren wollen. Das ist ›interner Kolonialismus‹, den wir bis jetzt vornehmlich politisch und kulturell wahrgenommen haben, der aber eine starke ökonomische Komponente hat.« (Presse, 30.3.)

Das offizielle China stellt diesen Weg bevorzugt als positive Entwicklung dar, meist mit einer Menge Zahlen versehen wie ein Bericht der amtlichen Agentur Xinhua am 1.5. über »Autonomie und Harmonie«. Das erscheint wie ein Wurmfortsatz von China heute während der Siebzigerjahre, als Szenen aus dem Leben nationaler Minderheiten als folkloristische Beglückung für die gelungene Kulturrevolution in grässlichen Farben abgebildet waren. In diese Zeit fallen aber die gewalttätige Unterdrückung der muslimischen Uiguren und buddhistischen Tibetaner durch kommunistische Pogrome. Diese historische Erinnerung kann nicht einfach durch Entschuldigung getilgt werden. In der Folge sollten die Betroffenen in ihren zentralen Anliegen – und dazu gehört eben die Religion – besonders beachtet werden, ist in einigen Blogs zu lesen. Doch die Angst vor dem Verlust der territorialen Einheit hat das Misstrauen in Religionen befeuert und die Entschuldigungen entwertet. Allen »Aufbautaten« aber liege doch nur dieses Misstrauen zugrunde. Xinhua aber schreibt: »Nach 61 Jahren erweist sich das Autonomiesystem als kluge Wahl zur Förderung harmonischer Beziehungen zwischen den Menschen der verschiedenen ethnischen Gruppen. Die Regierung haftet für dieses System, das ein wichtiger Teil der nationalen Einheit des Landes ist und Frieden und Wohlstand für ganz China sichert.« Andere Meinungen aus China als diese Politlyrik sind wegen der Zensur zeitweise schwer zu erhalten. Kritische Stimmen direkt aus Tibet und Xinjiang sind, so die tibetische Exilregierung, oft nur vereinzelt vernehmbar.

Kein Zufall. Da gibt es das in China am meisten verbreitete Internet-Portal Tencent (http://www.tencent.com/index_e.shtml), an der Hongkonger Börse notiert, mit derzeit zehn Millionen Usern. Es verwendet die Installations-Software QQ2003. Diese enthält, wie chinesische Hacker kürzlich entschlüsselten, die Programmakte COMToolKit.dll mit einer Liste von rund tausend im chinesischen Cyberspace zensierten Wörtern, die automatisch blockiert werden, wenn das QQ läuft. 15 Prozent der Wörter beziehen sich auf pornografische Inhalte, 20 Prozent auf Falungong, 10 Prozent sind Wörter des liberalen politischen Sprachgebrauchs (wie »democracy«, »freedom«, »dictatorship« u.<|>a.), 5 Prozent sind nationalistische Begriffe, 15 Prozent der verbotenen Wörter hängen mit Anti-Korruption und Kriminalität von Parteifunktionären zusammen, weitere zensierte Wörter sind Namen von Dissidenten, kritischen Intellektuellen, Titel bestimmter ausländischer Publikationen und Ähnliches.

Mark Leonards optimistisches Urteil über »China’s new intelligentsia« im britischen Magazin Prospect (März 2008), der China eine lebhafte und experimentierfreudige intellektuelle Klasse attestiert, hat eine Grauzone, nämlich jene staatstragende und -schützende (Partei-)Intelligenz, die »Neocomms«, die in jeder kritischen Bemerkung eine Kriegserklärung sehen. Sie gibt es auf allen Parteiebenen und sie veranlassen ausländische Beobachter immer wieder zu Spekulationen über Machtkämpfe in der Führung. Keine Spekulation aber ist es, dass Chang Ping und Shen Yuzhe im Internet ihren Meinungskampf ausfochten (»Wie findet man die Wahrheit über Lhasa?«, 3.4., »Der unbekümmerte Populismus«, 4.4.), worauf der Befürworter im Netz bleiben durfte, während der Kritiker für einige Zeit abgeschaltet wurde. Wichtiger aber ist, dass die Zahl solcher Streits zunimmt und zunehmend die Auffassung widerlegt, China sei ein »unreifes Land«, die Menschen könnten »widersprüchliche Meinungen nicht ertragen«. Diese Meinung tauchte des Öfteren in Blogs wie auch in den Medien auf, meist in Verbindung mit einer Haltung, Vorsicht im Umgang mit China, das so schwer verständlich ist. Natürlich finden sich in der Internet-Szene vornehmlich parteikonforme Meinungen. Erstaunlich ist dennoch, dass trotz scharfer Zensur immer wieder diese kritischen Texte auftauchen.

Zhengxu Wang, Forscher am China-Politik-Institut der britischen University of Nottingham, das um Ausgewogenheit bemüht ist, schreibt am 1. Mai in der Singaporer Zeitung Lianhe Zaobao: »In den Augen vieler Leute importiert China zu viel, exportiert zu viel, produziert zu viel, verbraucht zu viel und beschmutzt zu viel. ... Für China ist die Ära, in der es sich leisten konnte, die Meinungen des Restes der Welt zu ignorieren, zu Ende. ... Es ist an der Zeit, dass China anfängt, die Werte und den Glauben anderer zu verstehen.« Den Westen ermahnt er angesichts des Tibet-Bashing, China seinen »legitimen Platz in der Welt« mit dem gebührenden Respekt zuzubilligen. Für China aber sei es »Zeit geworden, die Werte und den Glauben der anderen zu verstehen«. Die derzeitige Frustration und Verstörung in der chinesischen Bevölkerung solle positiv genutzt werden in einer »Auseinandersetzung mit neuen Ideen, die zu einem neuen Bewusstsein führen«. Unabdingbar dazu seien Meinungs- und Pressefreiheit. Nur Öffnung und gegenseitiges Verständnis könnten den »chinesischen Traum von Einheit und Teil der einen Welt zu sein« erfüllen.

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 3/2008