Michael Jäger

Machtfrage und Parlamentstaktik

Die Politik wechselnder Mehrheiten – damals und heute

 

 

Unter welchen besonderen historischen Voraussetzungen kam in der Bundesrepublik ein stabiles Zwei-Lager-System ohne Mehrheitswahlsystem zustande? Was hat sich im »Machtblock« verändert, dass diese Art des parlamentarischen Systems krisenhaft wurde? Gibt es politische Taktiken, in die Zusammensetzung des Machtblocks einzugreifen, mit entsprechenden Auswirkungen für die politischen Formationen? Wenn derzeitige Versuche wechselnder Mehrheit darauf angelegt sind, das krisenhafte Zwei-Lager-System zu bewahren, wo liegen Möglichkeiten, es durch Bildung eines neuen Lagers aufzubrechen? Und wen oder was müsste dieses Lager umfassen? Die ökologischen Inhalte, so unser Autor, müssten jedenfalls die Essenz sein.

1. Das Zwei-Lager-System der Achtzigerjahre

1.1 Wechselnde Mehrheiten damals

In diesem Text soll gezeigt werden, dass wechselnde Mehrheiten immer noch eine nützliche Methode wären, deren Anwendung jedoch unter einem ganz anderen Stern stünde als in den Achtzigerjahren. Damals wäre es ein Weg gewesen, das Zwei-Lager-System im Parlament, gebildet aus drei »Wachstumsparteien« wie man sie nannte, Union, FDP und SPD, gleichsam ökologisch zu durchkreuzen. Es wäre darum gegangen, die Frage »Union oder SPD« nicht zu beantworten, sondern zurückzuweisen, indem man gesagt hätte: »Wir fragen ›ökologisch oder antiökologisch‹, entscheiden deshalb über unser Abstimmungsverhalten nur fallweise.« Auf diese Weise hätte man ein drittes Lager ins Leben gerufen, dem sich mit der Zeit auch andere hätten anschließen können. Die Perspektive wäre ein Parlament aus drei Minderheits-Lagern gewesen, in dem das ökologische Lager aus einer Mittelposition heraus und eben mit wechselnden Mehrheiten regiert hätte. Denkbar war das natürlich nur auf der Basis zuvor errungener gesellschaftlicher Hegemonie.

Ich will die parlamentstaktischen Überlegungen, die seinerzeit in der Kommune debattiert worden sind, hier nicht im Detail wiederholen. Nur an die zugrunde liegende Analyse des Zwei-Lager-Systems muss kurz erinnert werden. Denn sie wurde damals nicht weit genug getrieben. Um notwendige Ergänzungen geht es in den folgenden beiden Abschnitten. Mit ihrer Hilfe wird man die Entwicklung, die das Zwei-Lager-Systems seitdem genommen hat, besser begreifen.

Seinerzeit war die Einsicht entscheidend, dass überhaupt ein parlamentarisches System als solches »herrschen« kann: War doch bis dahin geglaubt worden, das Thema Herrschaft müsse sich im Hinweis auf eine oder mehrere herrschende Klassen erschöpfen. Militärisch werde sie nur deshalb nicht ausgeübt, weil die Menschen sich auch ohne Gewalt manipulieren ließen, wozu es ausreiche, dass die herrschenden Klassen ihre Lügen verbreiteten. Ich nahm stattdessen an, dass der permanente Regierungswechsel von der Union zur SPD und wieder zurück als solcher schon die Form kapitalistischer Herrschaft sei. Diese Analyse ging von Antonio Gramscis Hinweis aus, die Großbourgeoisie unterstütze abwechselnd die Parteien des Kleinbürgertums und der Arbeiterklasse und wiegle sie gegeneinander auf, herrsche also durch divide et impera. Damit war ein Anfang gemacht, freilich ein sehr einfacher. Er wurde bald ersetzt durch den Rückgriff auf ethnologische und psychoanalytische Einsichten: Eine familiare Denkweise der Massen, die das kapitalistische System tragen, verwandle dessen ökonomische Ausbeutungsrealitäten auf parteilicher Ebene in Kategorien des Ehegezänks – »Ja, aber nicht so!« »Ja, aber auch das!« – zwischen symbolischer Männlichkeit (Selbstbehauptung, Politik der Stärke) und symbolischer Weiblichkeit (Friedenspolitik, Pflege des Konsenses). Es greife somit unbewusst auf eine archaische, die Strukturen der Verwandtschaft spiegelnde Spaltungsordnung zurück, deren Formen etwa in Indianerdörfern bereits den Ethnologen Claude Lévi-Strauss an moderne Zwei-Parteien-Systeme erinnert hatten.

Wie ich vor einigen Jahren ergänzte, spiegelt dieselbe Spaltungsordnung auch den neuzeitlichen Hegemonieverlust der Kirche wider. Es stehen sich nämlich vor allem deren Anhänger und Gegner gegenüber. Das ist der Hauptgrund, weshalb Linke sich als fortschrittlich, Rechte sich als konservativ beschreiben. Ablehnung des Kapitalismus hier, seine Verteidigung dort spielen auf beiden Seiten eine geringere Rolle.

Diese Erklärung, so richtig sie mir nach wie vor scheint, war doch etwas einseitig geraten. Sie war der Machtfrage gegenüber partiell blind. Denn man tut zwar gut, Parteien für den zentralen Mechanismus der Ausarbeitung politischer Richtlinien zu halten, sollte aber zugleich sehen, dass sie Macht nur haben, indem sie sie weitergeben. Sie kommen dann in die paradoxe Lage, als Vertreter von Kräften agieren zu müssen, die sie selbst zur Macht gebracht haben. Wo ist die Macht? Im Parlament ist sie nicht. Und beileibe auch nicht nur in der Regierung. Ein Parlament kann sich die Macht vielleicht auch zurückholen. Dazu werden bestimmte Parlamentstaktiken besser geeignet sein als andere. Zuerst muss man aber bedenken, dass sie alle nichts taugen, mögen es sogar wechselnde Mehrheiten sein, wenn sie die Rechnung ohne den Wirt machen, das heißt ohne Berücksichtigung der Machtfrage. Ich will meinen Ansatz um diese Frage erweitern und greife deshalb auf die Staatstheorie von Nicos Poulantzas zurück. An seiner Terminologie, Klassen, Revolution und so weiter, nehme man bitte keinen Anstoß. Poulantzas ist Marxist, seine Analysen werden aber auch den anregen, der in anderen Rastern denkt.

1.2 Grundlegendes zur Machtfrage

Die herrschenden Klassen sind nicht nur im parlamentarischen System präsent, sondern in allen Staatsapparaten. Das ist noch keine überraschende Einsicht. Sie wird erst dadurch interessant, dass Poulantzas unterstreicht: Es sind die Staatsapparate, die bestimmte Klassen zu herrschenden Klassen erst machen. Das müssen nicht die Parteien des Parlaments sein, das kann auch die Armee sein, die nach einem Staatsstreich die Macht an sich gerissen hat. Aber diese Armee verhält sich dann auch als Partei – Partei, die selbst kein Teil der herrschenden Klassen ist und dennoch ein Konzept erarbeitet und durchsetzt, das bewirkt, dass sie herrschende Klassen sind und bleiben. Ob Armee in der Militärdiktatur, politische Polizei im Faschismus oder parlamentarische Parteienvielfalt: Es ist immer der Staat, bei dem Konzeption und Durchsetzung, Initiative und Hebel der Macht liegen. Wenn durch ihn hindurch das Kapital herrscht, dann weil staatliche Akteure es nicht anders wollen.

Was sie wollen, sind immer Projekte, die hohe Staatseinnahmen voraussetzen. Sie wollen gewiss nicht direkt »die Herrschaft der herrschenden Klassen«, aber ihre Politik impliziert diese Herrschaft. Wie geschieht das? So, dass sie in allem, was sie tun, die Einheit der herrschenden Klassen und Klassenfraktionen in Anspruch nehmen und auch erreichen. Diese Einheit, die Poulantzas den »Machtblock« nennt, können die Klassen und Klassenfraktionen nicht selbst herbeiführen. Das ist dramatisch, denn ohne Einheit wären sie nicht herrschend. Würden die Kapitalgruppen, die im ökonomischen Konkurrenzkampf übereinander herfallen, es auch politisch tun, und wäre dann ein Gegen-Machtblock einheitlicher als sie, dann müsste diesem Gegen-Machtblock die Herrschaft zufallen.

Was Poulantzas speziell über Parteien schreibt, ist eher unbefriedigend. Seine ersten Leser und oft er selbst haben angenommen, die Verschiedenheit der Parteien sei nur Schein, den der Machtblock auf einer »politischen Bühne« erzeuge, um die Massen zu täuschen. Aber was er eigentlich einschärfen will, weist in eine ganz andere Richtung: dass Mehrparteiensysteme den Machtblock gerade deshalb optimal »vertreten« können, weil sie auf Austragung von Kontroversen mit offenem Ausgang unter Beteiligung der ganzen Bevölkerung, kurz: weil sie auf Demokratie angelegt sind. Denn so sehr es darauf ankommt, die Kapitalfraktionen zu einen, eben einen Machtblock aus ihnen zu machen, kann doch nichts die Bedingung des Problems zum Verschwinden bringen: dass sie verschiedene sind und sich in der Konkurrenz wechselseitig das Wasser abgraben. Mehrparteiensysteme sind genau deshalb zu ihrer Einigung geeignet, weil sie selbst Konkurrenzsysteme sind, solche aber eben, in denen die Konkurrenz, statt zur wechselseitigen Zerstörung auszuufern, die Basis einer grundlegenden Einheit nicht verlässt.

Poulantzas’ rudimentäre Parteientheorie begnügt sich mit dieser Feststellung. Ihn interessiert dann fast ausschließlich der Unterschied des »normalen« Mehrparteienstaats vom »Ausnahmestaat« – Faschismus oder Militärdiktatur –, den er, wie schon angedeutet, als Regime sei’s einer faktischen, sei’s einer sich selbst so nennenden Einheitspartei beschreibt. Er begründet und zeigt, dass mit einem solchen Regime zwar die sich anbahnende Revolution erstickt werden kann – indem Kräfte auftreten, die einen bereits begonnenen Zerfallsprozess des Machtblocks stoppen, ihn zu neuer Einheit umstrukturieren und auf solcher Basis gegen die Revolution die Staatsgewalt einsetzen können –, dass es der Einheitspartei dann aber nicht gelingen kann, die Spannungen im Machtblock auf Dauer zu verwalten. Das ginge eben nur, wenn sie in sich selbst mehr Spannungen zulassen könnte. Deshalb sind Faschismus und Militärdiktatur stets nur Übergangslösungen; früher oder später wird der Rückweg zum Mehrparteienstaat erforderlich.

1.3 Der deutsche Sonderfall: ein stabiles Zwei-Lager-System ohne Mehrheitswahlrecht. Vorgeschichte

Vor diesem Hintergrund kann man sich besser klarmachen, was überhaupt die Existenzbedingungen eines parlamentarischen Zwei-Lager-Systems sind. Es bestand in den Achtzigerjahren vor allem in Großbritannien, den USA, Westdeutschland und Frankreich. In Italien regierte noch eine »dominante« Partei, die Democrazia Cristiana, in einem insgesamt extrem instabilen Parlament. Häufig wechselten die Kabinette, woran man sieht, dass sogar dies, die Regierung einer einzigen und immer derselben Partei, auch wenn es andere daneben gab, eine zu unflexible Form war, den Machtblock zu verwalten. Noch instabiler war die Lage im französischen Parlament gewesen, bevor de Gaulle die Gründung der Fünften Republik erreicht hatte. Es hatte dort niemals klare Mehrheitsverhältnisse gegeben; diese wurden nun durch den Übergang vom Verhältnis- zum Mehrheitswahlrecht erreicht. Woran wir exemplarisch begreifen: Die Stabilität eines Zwei-Lager-Systems kann nicht auf eine Formalie zurückgeführt werden, als die man das Mehrheitswahlrecht ansehen müsste, wollte man es zur letztinstanzlichen Ursache hochstilisieren. Es ist keine, da es selbst nur als Ergebnis gesellschaftlichen Kräftemessens zustande kommt.

Den britischen und US-amerikanischen Fall muss man hier natürlich ausnehmen. Das englische Parlament entstand in einer vorkapitalistischen Zeit, in der noch niemand daran dachte, die Massen an der Wahl der Abgeordneten zu beteiligen. Das Mehrheitswahlrecht war da nur die nahe liegendste und einfachste Organisationsweise. Die nach Amerika auswandernden Pilgrims hatten keinen Grund, es zu ändern.

In Deutschland jedoch kam ein stabiles Zwei-Lager-System auch ohne Mehrheitswahlrecht zustande. Wie konnte das nach den nicht nur instabilen, sondern chaotischen Weimarer Zeiten geschehen? Mir stellt sich die Frage so: War es nur die Folge der Verfassungsänderungen nach dem Sieg der Anti-Hitler-Koalition, oder gehört schon Hitlers Regierungszeit selber zu den Bedingungen ihrer Möglichkeit? Blicken wir zurück, und arbeiten wir mit Poulantzas. Die Nazis konnten den Zerfall des Machtblocks in der Weltwirtschaftskrise seit 1929 nur dadurch stoppen, dass sie in ihm einen Hegemoniewechsel herbeiführten, hin zur großen Bourgeoisie. Rein ökonomisch war diese natürlich immer am stärksten gewesen, politisch jedoch hatten kleinbürgerliche Kräfte geherrscht. Nun wäre es nach 1929 abstrakt denkbar gewesen, dass eine in der Krise verschärfte Wertvernichtungskonkurrenz – des großen Kapitals gegen das mittlere sowie gegen die agrarischen Groß- und Kleineigentümer – politisch zur Auflösung des bisher immer beständigen Bündnisses von mittlerer und großer Bourgeoisie geführt hätte. Dem wirkten jedoch aus Angst vor den Kommunisten, die alle Fraktionen der Bourgeoisie pauschal angriffen, verschiedene politische Kräfte und eben mit besonderem Erfolg die Nazis entgegen.

Einmal an der Macht, reorganisierten sie den Machtblock derart, dass das Großkapital nunmehr auch politisch herrschte – das will sagen, Staatspolitik war von da an nachhaltig an den Interessen und Existenzbedingungen dieser Fraktion orientiert –, wobei es das mittlere Kapital und auch das agrarische Eigentum jedoch »mitnehmen« musste, es also politisch nicht ausmanövrieren, daher auch ökonomisch nicht vernichten, sondern eben nur beherrschen durfte. Durch die staatlich organisierte Vorkriegs- und Kriegswirtschaft sowie die Enteignung des jüdischen großen und mittleren Kapitals und dessen Weitergabe an die nichtjüdischen deutschen Konkurrenten wurde eine solche Umstrukturierung und erneute Festigung des Machtblocks entscheidend erleichtert.

Wenn man diese Entwicklung nach ihrer parteientheoretischen Bedeutung befragt, wird man vor allem auf ein Faktum stoßen: In der Zeit der Hegemonie des kleinen und mittleren Kapitals im Machtblock hatten sich die kleinbürgerlichen Massen in einer Vielzahl von Parteien organisiert, und entsprechend instabil war ihre Staatsmacht. Die Nazis waren dann die ersten, die eine sehr große Kleinbürgerpartei schaffen konnten – unter der genannten Bedingung, dass das große Kapital in ihr die Hegemonie bekam. In gewisser Weise wurde damit die Behauptung von Marx und Lenin bestätigt, das Kleinbürgertum könne keine eigene Partei bilden. Es kann von sich aus nur viele Parteien bilden, die als solche keine stabile Staatsmacht erlangen. Nur das Großbürgertum kann das Kleinbürgertum einen. Dies geschah hierzulande zuerst im Medium der Nazipartei.

1.4 Die Bedingung für ein stabiles Zwei-Lager-System

Nach dem Krieg war die NS-Parteiorganisation zwar verschwunden, der parteiliche Kleinbürger-Massenzusammenhang, den sie geführt hatte, bestand jedoch weiter. Diese Kleinbürger-Massenpartei hörte auf, Nazipartei zu sein, wurde das Gegenteil, eine christliche Union, blieb aber die Partei des Bündnisses kleinbürgerlicher Massen mit der Großbourgeoisie unter der Bedingung, dass Letztere die Hegemonie im Machtblock hatte.

CDU und CSU waren von allem Anfang an antifaschistische Parteien. Gerade in ihrem ökonomischen, dem »ordoliberalen« Programm wurde das sehr deutlich, wie etwa Michel Foucault gezeigt hat. Aber sogar der Umstand, dass so viele Nazi-Leichen im Keller der Doppelpartei lagen, deren Politik von ihnen natürlich auch mitbestimmt wurde, konkretisiert nur deren Antifaschismus. Der Versuch, die Hitler-Erben durch demokratische Umerziehung zu neutralisieren, konnte eben nur um den Preis ihrer Integration, daher ihrer Machtteilhabe gelingen. Immerhin mag es eine Spur davon sein, dass CDU und CSU bald nicht mehr imstande waren, einen Regierungswechsel für denkbar zu halten, und es auch deshalb – vielleicht sogar vor allem deshalb – der 68er-Revolte bedurfte.

Nun war aber gerade die Integration der Altnazis eine Bedingung, durch welche die Überleitung des von den Nazis geformten Machtblocks in eine demokratische, republikanische Umwelt mindestens sehr erleichtert wurde. Und da die neue Machtblockstruktur erstmals die Bildung einer großen Partei der Kleinbürgermassen erlaubt hatte, konnte auch diese Erbschaft in die Republik hinübergerettet werden. Weil aber die geistigen Vorzeichen vertauscht waren, war die Partei der Kleinbürgermassen als demokratische, republikanische Partei möglich geworden. Sie bildete sich zwar nur Schritt für Schritt, indem CDU und CSU die Fünfzigerjahre hindurch eine Reihe kleinerer Kleinbürgerparteien schlucken mussten. Aber es war ein recht kurzer Prozess. Den Namen »Union« trugen sie mit Recht. Es schwang darin mit, dass es endlich die Kleinbürgerpartei gab, mochte sie auch vom Großkapital beherrscht sein.

Damit war aber überhaupt erst die entscheidende Existenzbedingung für ein stabiles Zwei-Lager-System entstanden: die Bedingung, dass es nicht nur auf der linken Seite in Gestalt der SPD, sondern jetzt auch auf der rechten in Gestalt dieser »Union«eine große einheitliche Klassenbündnispartei gab, obwohl kein Mehrheitswahlrecht mitgeholfen hatte. Nur die kleine FDP blieb ansonsten noch übrig, die klassenmäßig ein ebensolches Bündnis war, auch ebenso antifaschistisch, aber ohne das christliche Band. Dass sich nun leicht stabile parlamentarische Mehrheiten herstellen ließen, war eben nicht primär die Folge der Fünfprozentklausel.

Ich will vor allem das Klassentheoretische hervorheben: Die Hegemonie des Großkapitals im Machtblock konnte sich von nun an parteimäßig als Hegemonie nicht nur über die proletarischen Massen links, sondern auch über die kleinbürgerlichen rechts artikulieren. Alles in allem wird deutlich, wie äußerst kurz die Zeit des Zwei-Lager-Systems doch bemessen war. Erst in den Sechzigerjahren zur Entfaltung gelangt, kam es schon nach zwei Jahrzehnten in die Krise. Dieses System konnte sich nur auf der Basis einer ganz bestimmten Zwischenphase der Akkumulationsgeschichte des Kapitals halten.

2. Das heutige Parlament und die möglichen Taktiken

2.1 Das Ende der Stabilität

Wenn wir nun den Sprung ins 21. Jahrhundert wagen, sehen wir sofort den auffälligen Unterschied, zuerst auf der parteilichen Ebene: Mit dem stabilen Zwei-Lager-System ist es vorbei; die verschiedensten Parteibündnisse sind möglich und erforderlich geworden, nur eine Koalition von FDP, CDU/CSU und Linkspartei scheint dauerhaft ausgeschlossen. Da man aber dennoch versucht, an dem System festzuhalten, wird die Idee wechselnder Mehrheiten inzwischen teilweise auch von SPD und Union adaptiert. Das ist in Hessen der Fall, wo die Grünen zur Jamaika- und die SPD zur großen Koalition nicht bereit sind. In dieser Lage wollte die SPD mit wechselnden Mehrheiten regieren; es gelang ihr nicht, aber nun muss es an ihrer Stelle die CDU-Regierung versuchen. Roland Koch kann zwar immer mit Recht behaupten, Mehrheiten zusammen mit der Linkspartei würden nicht angestrebt. Aber der faktische Mechanismus besteht doch darin, dass ein Gesetzentwurf frei zur Wahl gestellt wird, er sich, wie man sagt, seine Mehrheit sucht.

Wechselnde Mehrheiten kommen jetzt also nicht mehr als Methode, das Zwei-Lager-System aufzubrechen, ins Spiel; ganz im Gegenteil werden sie eingesetzt, um es zu retten.

Gleichzeitig sieht man aber, wie unerwünscht, wie »revolutionär« eine solche Entwicklung im gesamten Deutschland immer noch ist. Die meisten Politiker sehen die Stabilität des Herrschaftssystems in Gefahr, und sie haben Recht. Eine Minderheitsregierung der SPD mag immer versuchen, die Linkspartei durch die Politik wechselnder Mehrheiten nur auf eine Eingemeindung ins Zwei-Lager-System vorzubereiten – wie sie es schon einmal in Sachsen-Anhalt versucht hat –, aber es kann doch nicht mit völliger Sicherheit ausgeschlossen werden, dass die Linkspartei dahin gelangt, sich als drittes Lager zu begreifen. In welchem Fall ein System wechselnder Mehrheiten auf die quasi offizielle Anerkennung dieses neuen »revolutionären« Phänomens hinauslaufen würde.

In Fortführung unseres Ansatzes versuchen wir jetzt zuerst, das Ende der Stabilität des Zwei-Lager-Systems auf der Ebene des Machtblocks zu erklären. Lässt es sich auf Veränderungen in ihm zurückführen oder nicht? Wenn das geklärt ist, können wir besser beurteilen, ob es sich nur um eine vorübergehende Krise des Systems handelt, wie seine parteilichen Träger natürlich glauben möchten, oder doch vielleicht um den Übergang zu einem anderen System. Tatsächlich hat sich auf der Ebene des Machtblocks Gravierendes getan. Die Anfänge davon in den 70er-Jahren hat Poulantzas noch konstatieren können. Es handelt sich um das Auftauchen einer neuen Fraktion, der von ihm so genannten »inneren Bourgeoisie». Hierunter ist ein Kapital zu verstehen, das vor allem transnational agiert, jedoch von der Nation aus, in der es seinen Standort hat, und das sich in einer Dialektik der Abhängigkeit vom US-amerikanischen Kapital einerseits, des wachsenden Widerstands dagegen und des langsamen Eigenständigwerdens andererseits bewegt. Diese Fraktion wird unter Bedingungen der Globalisierung immer mächtiger, und es ist eine neue Fraktion, statt dass man sagen könnte, eine, die schon vorher bestand, habe sich jetzt nur zusätzlich internationalisiert. Zur inneren Bourgeoisie gehören nämlich sowohl große als auch mittlere Kapitale – die Globalisierung erlaubt es auch Letzteren, zu Weltmarktführern aufzusteigen –, während es weiterhin Kapitale jeden Kalibers gibt, die nicht zu ihr gehören.

Indem sich diese neue Fraktion organisch aus dem Bündnis der großen und mittleren Bourgeoisie, von dem die Rede war, entwickelt hat, ist besonders die rechte, seit Gerhard Schröder aber auch die linke Massenpartei des Zwei-Lager-Systems bestrebt gewesen, ihr die Hegemonie im Machtblock zu sichern. Das heißt, es wurde eine Politik gemacht, die ökonomisch ihren Interessen diente. Der springende Punkt dabei war, dass man der inneren Bourgeoisie zuliebe, damit sie, wie man sagt, das Land nicht verlässt, Steuern und andere Bürden drastisch erleichterte, was für jedermann spürbar mit einem gewissen Abbau des Sozialstaats bezahlt werden musste; und damit sie, wie man erklärte, in der globalen Konkurrenz bestehen kann, suchte man die proletarischen Massen zum Lohnverzicht wie auch zur Verlängerung der Arbeitszeit zu bewegen. Aber es war eigentlich klar, mit den Integrationsmethoden des überkommenen Zwei-Lager-Systems würde sich eine solche Politik nicht mehr managen lassen. Der Auftritt der inneren Bourgeoisie führt notwendig das Ende dieses Systems herbei, weil weder die klassische linke noch die klassische rechte Massenpartei in der Lage sein kann, den Protest gegen die neuen Zumutungen zu kanalisieren. In Deutschland ist der Auftritt der Linkspartei die Folge gewesen. Und so sehen wir, dass die aktuellen Schwierigkeiten der Regierungsbildung keine Übergangserscheinung sind. Sie werden bleiben.

Wenn wir die Diagnose in den internationalen Kontext stellen, wird deutlich, dass der deutsche Fall zwar nur auf überall gleiche Globalisierungsbedingungen reagiert, aber dennoch einzigartig bleibt. Die Zwei-Lager-Systeme in den USA, Frankreich und England sind ökonomisch denselben Spannungen unterworfen: Sie bleiben wegen des Mehrheitswahlrechts stabil. In derselben Zeit streben andere fortgeschrittene Länder noch immer nach diesem System, das sie nie gekannt haben. Auf dem Weg dahin regiert in Spanien die Sozialistische Partei noch immer als größte parlamentarische Minderheit mit wechselnden Mehrheiten, was dort keineswegs auf Subversion des Systems hinausläuft. In Italien ist die Bildung rechter und linker Massenparteien bis heute nicht abgeschlossen. Da sie sich freilich unter den skizzierten Globalisierungsbedingungen vollzieht, fragt man sich, ob sie überhaupt noch abgeschlossen werden kann. Es ist auch durchaus nicht sicher, dass allein mithilfe des Wahlrechts die parteilichen Verhältnisse etwa Frankreichs auf Dauer unbeschädigt bleiben können.

Wie dem auch sei: Deutschland war so eingerichtet, dass es auf die Veränderungen im Machtblock seismografisch rasch und auf eine im Parteiensystem sofort sichtbare Weise reagieren musste. Ein parlamentarisch stabiles Zwei-Lager-System hatte ohne Mehrheitswahlrecht bestanden, es konnte die Umstrukturierung des Machtblocks zugunsten der inneren Bourgeoisie nicht überleben.

2.2 Öffentlich diskutierte Parlamentstaktiken

Vor diesem Hintergrund fragen wir nun nach dem Charakter einer Politik wechselnder Mehrheiten von Seiten der Grünen, wie sie in Hessen diskutiert wird, und überhaupt nach den Perspektiven und strategischen Möglichkeiten dieser Partei. Zunächst, welche anderen Wege scheinen den Grünen möglich und werden auch schon beschritten? Zum einen betonen alle Parteiflügel, dass die rot-grüne Mehrheitsregierung immer noch die gewünschteste Konstellation sei. Niemand hat sich noch mit dem Satz vorgewagt, diese Konstellation gehöre der Vergangenheit an. Zum andern hat endlich auch die schwarz-grüne Koalition auf Landesebene, auf die man schon lange warten konnte, ihre Premiere gehabt. Dieses neue Bündnis, das noch vor wenigen Jahren als umwälzend empfunden worden wäre, gehört heute aber nur noch zu den Versuchen, das Zwei-Lager-System aufrechtzuerhalten.

Man muss sicher einräumen, ja anerkennen, dass die Hamburger Grünen der dortigen CDU eine Menge Zugeständnisse abgerungen haben, die ihnen die SPD nie gewährt hätte. Mehr noch, es ist auch vom Standpunkt der Gesamtpartei rational, einer SPD, die bis dato nie wirklich bereit war, in den Grünen mehr als einen Flügel ihrer selbst zu sehen, ihre Eigenständigkeit auf die dicke Haut zu brennen, und sei es mithilfe der CDU. Man fragt sich freilich sogleich, was das denn noch nützen kann, wenn ein später erneuertes Bündnis mit der SPD doch keine Mehrheit mehr erlangen kann. Und was die Zugeständnisse der Hamburger CDU angeht, so haben sie vorm Wichtigsten, dem Kohlekraftwerk Moorburg, natürlich Halt gemacht. Hier waren die Grünen wieder mit dem konfrontiert, was sie schon aus ihren Verhandlungen mit Schröder um den Atomausstieg kannten. Es gab Verträge, in diesem Fall Vorverträge, die man hätte kündigen müssen, das heißt, der Koalitionspartner stand nicht einfach vor der Wahl, ob er Energie aus Kohle oder anders gewinnen wollte: Er musste sich entscheiden, ob er bereit war, dem Kapital aggressiv zu begegnen. Da er natürlich nicht bereit war, kam nur eine koalitionsvertragliche Regelung analog zu Garzweiler II heraus.

Ohne Wert ist die Behauptung, in Hamburg zeige sich, dass die Grünen nunmehr mit einer Politik der einzelnen »Inhalte«ernst machten. Sie sind nun einmal mit der Aufgabe, sich um ökologische Rettung zu sorgen, geschlagen. An den hiermit zusammenhängenden »Inhalten« ist ihre Politik zu messen. Wir räumen durchaus ein, dass ihre Hamburger Koalition insofern ein kleiner Schritt voran war, einfach weil er, noch im Scheitern, das öffentliche Bewusstsein über die Verkehrtheit der Kohlepolitik schärfte, in der sich Union und SPD einig sind. Dasselbe konnte einst über die nordrhein-westfälische Koalition gesagt werden, die trotz Garzweiler und im Streit darum entstand. Man sieht aber schon, es ist in beiden Fällen eine dem Zwei-Lager-System völlig immanente Politik; der Unterschied ist nur, dass dieses System im ersten Fall schlicht bestand und man sich einreihte, während es im zweiten in der Krise ist und man sich faktisch bemüht, es zu retten. Darauf würde auch jede Jamaika-, jede Ampel-Koalition hinauslaufen.

Eine linke parlamentarische Mehrheit ist im Grunde sehr unwahrscheinlich. Das heißt keineswegs, dass sie nicht versucht werden wird, auch unter Billigung der Grünen. Aber hier ist der Blick nach Italien hilfreich. Es ist einfach unerfindlich, wie ein linkes Mehrheitslager aussehen sollte, dessen dominanter sozialdemokratischer Teil die Geschäfte der inneren Bourgeoisie zu führen versucht, während andere Teile die auf die Straße Geworfenen vertreten. Wohl halte ich es für möglich, dass eine Kraft wie die Linkspartei sich für einen solchen Versuch hergeben könnte. Aber dann würde sich nur an ihr wiederholen, was gerade der SPD geschah: Auch sie würde gespalten – womöglich dann in Richtung rechts außen –, und die Mehrheit wäre dahin.

Welche Taktik bleibt übrig? Es wird sich jetzt zeigen, dass die Theorie des Machtblocks keine wenn auch nützliche Zutat war, sondern das, wovon bei parlamentstaktischen Überlegungen ausgegangen werden muss. Die Frage muss nämlich so gestellt werden: Wie können die Grünen auf den Machtblock einwirken – und welche parlamentarische Taktik ergibt sich daraus? Ich bereite die Antwort vor, indem ich eine weitere Erörterung des Machtblock-Theorems einschalte.

2.3 In die Machtfrage eingreifen

Es wurde referiert, dass der Machtblock als die Einheit der herrschenden Klassen und Fraktionen vom Staat erst geschaffen, das heißt durch dessen Politik – die Politik seiner Parteien – impliziert werden muss, und das nicht einmalig, sondern ständig. Der Staat impliziert aber nicht nur diese Gesamteinheit, sondern von ihm, oder besser in ihm, werden schon die Umrisse ihrer Elemente, also der einzelnen Machtblock-Fraktionen zuallererst definiert. In ihm statt nur von ihm, denn natürlich sind die ökonomischen Kräfte am Definieren ihrer selbst massiv beteiligt, das heißt, in einer Hinsicht handelt es sich um Eigendefinitionen. Aber diese können sich die ökonomischen Kräfte nur im Staat geben, auf dem Boden einer oder mehrerer Parteien. Dazu ist der Staat da: Er ist das Gesamtmedium und die Gesamtressource pauschaler Einheit ebenso wie der auf Gruppen und sogar Individuen und auch auf das, was als faktische Wirklichkeit gilt, gemünzten definitorischen, begrifflichen Einheiten. Im Staat aber sind die Kräfte, die in den verschiedenen ökonomischen Bereichen herrschen, mit subalternen Kräften – Arbeitern, Kleinbürgern – zusammen und können nur in der Resultante, die sich mit diesen zusammen erzielen lässt, möglichst entscheidende Spuren zu hinterlassen versuchen. Deshalb kann ihre Bestimmtheit als diese und jene Fraktion des Machtblocks nie das alleinige Ergebnis von Eigendefinition sein.

Im nationalsozialistischen Deutschland zum Beispiel gab es nur »arische« Fraktionen und entsprechend funktionierte die reale Ökonomie: Die Scheidung in jüdische und nichtjüdische Kapitale hatte einen Enteignungsprozess zur Folge und trug, wie schon gesagt, zur Rekonstitution eines bereits zerfallenden Machtblocks bei.

Wenn die Dinge so zusammenhängen, müssen neben solchen Umstrukturierungen, die bloß auf diese oder jene Weise dazu beitragen, dass der Machtblock als Einheit kapitalistischer herrschender Klassen erhalten bleibt, auch »revolutionäre« Eingriffe in den Machtblock möglich sein. Das Wort »revolutionär« bitte ich hier im natürlichsten Sinn aufzufassen, so, wie man sagt, es bedürfe einer ökologischen Revolution, um die Erde noch zu retten. Gehört dazu nicht, dass sie vor einem hemmungs- und verantwortungslosen Wachstum des Kapitals um ihrer selbst willen gerettet werden muss? Das soll nicht heißen, dass man uns vor der Unternehmer-Initiative, freien Preisbildung auf Märkten und dergleichen Dingen retten müsste, die im Prinzip sehr nützlich sein könnten. Der Machtblock besteht aber alles in allem aus Wachstums-Fraktionen. So war es, als die Grünen antraten, und so ist es im Wesentlichen noch heute.

Ein »revolutionärer«Eingriff würde den Machtblock nicht bloß umstrukturieren, denn das würde an seinem Charakter nichts ändern, insgesamt eine Summe von Wachstums-Kräften zu sein. Aber ebenso wenig wäre er der Versuch, den Machtblock einfach zu vernichten und durch etwas »ganz Anderes« zu ersetzen. Die Politik der KPD am Ende der Weimarer Republik lief auf einen solchen Vernichtungsversuch hinaus, was, wie ebenfalls schon gesagt, die Solidarität der Fraktionen des Machtblocks untereinander erzwang und das Geschäft ihrer Wiedervereinigung durch die Nazis erleichterte. Die Komintern erkannte diesen Fehler übrigens selbst – als es zu spät war – und ging zur Politik der demokratischen Volksfront über. Aber diese war ebenfalls problematisch: Jetzt wollten sich die Kommunisten mit einzelnen Machtblock-Fraktionen gegen andere verbünden. Das heißt, sie versuchten nicht, Fraktionen selber zu definieren. Dies war Ausdruck dafür, dass das Bündnis gar nicht ernst gemeint war. Im spanischen Bürgerkrieg zum Beispiel verbündeten sie sich mit anderen Parteien, die sie als Vertreter von Machtblock-Fraktionen ansahen, nur zum Zweck der Vertreibung der Faschisten. Wenn das gelungen war, sollten die »Verbündeten« ihrerseits ausgeschaltet werden.

Was die Grünen angeht, muss man es ihnen nicht erst sagen, dass sie eine neue Fraktion des Machtblocks hervorrufen können, denn sie tun es bereits. Es ist Folge auch ihrer Anrufung, dass so etwas wie »Ökokapital« entstanden ist. Aber das reicht noch nicht, und es ist auch nicht Folge einer bewussten Strategie der Einwirkung auf den Machtblock. Was verstehen wir eigentlich unter »Ökokapital»? Nur eine besondere, zum Beispiel auf Solarstrom bezogene Kapitalanlage? Müsste man dann sagen, Agrarunternehmer, die in Folge gewisser parteilicher Entscheidungen massiv in Biogaspflanzen investieren, nachdem sie vorher »Hühner-KZs« ausgebeutet haben, sind dadurch in die Ökofraktion aufgenommen, dieselben Unternehmer aber, wenn sie bei ihrer neuen Produktion bleiben, nachdem alle Parteien vor der Falschheit des Biogaswegs gewarnt haben, sind in ihre vormalige ökofeindliche Fraktion zurückgefallen?

Das Beispiel soll zeigen: Der parteiliche Beitrag zur Fraktions-Bestimmung könnte tiefer greifen, als dass er sich nur auf den Gegenstand der Kapitalanlage bezieht. Das Kapital selber ist das Problem, jedenfalls wenn wir darunter mit Marx den Automaten des unendlichen Wachstums verstehen. Es mag sich auf einen ökologischen Gegenstand anwenden, aber dann ist erst einmal nur eine ökologisch-antiökologische Mischung entstanden. Nun soll hier überhaupt nicht bestritten werden, dass auch das schon besser als gar nichts ist. Aber es wäre doch eine Unternehmung besser, die in diesem Widerspruch nicht lebte. Wir wissen ja auch, dass viele Unternehmer, auch Manager nicht- oder antiökologischer Industrien, ökologisch zu denken angefangen haben: Die Frage ist, was sie tun können, da sie nun einmal, durch den Konkurrenzkampf gezwungen, der Kapitallogik verpflichtet sind.

Ich antworte, dass sie in ihren Rollen als Unternehmer und als Kapitalist nicht völlig einerlei sind. In diesem Punkt lohnt sich eine genaue Marx-Lektüre: Man muss wissen, dass nur eine auf unendliches Wachstum angelegte Investition eine kapitalistische Investition ist. Ein Unternehmen, das »Mehrwert« nur einfach deshalb produziert oder zu produzieren versucht, weil es situationsunabhängig liquide sein will, zu welchem Zweck es stets besser ist, etwas zu viel als etwas zu wenig Gewinn zu machen, ist nach Marx’ Auskunft kein kapitalistisches Unternehmen. Es wirtschaftet nur einfach ökonomisch rational.

In diesem Sinn könnte es die epochale und wahrlich revolutionäre Aufgabe der Grünen sein, im Machtblock nicht nur eine Ökofraktion hervorzubringen, sondern – viel allgemeiner und viel ökologischer – eine Fraktion von Unternehmern, die zwischen kapitalistischem Wirtschaften einerseits, ökonomisch rationalem Wirtschaften andererseits unterscheiden können und auch wollen; die jede Möglichkeit, vom kapitalistischen zum ökonomisch rationalen Wirtschaften überzugehen, sofort ergreifen würden und die das alles jederzeit laut äußern. Damit wäre ein Schritt zur Auflösung des Machtblocks getan. Im Maß wie die Möglichkeit dann auch entstünde und realisiert würde, ginge diese Fraktion nicht nur zu einem anderen Gegenstand der Produktion über, sondern zu einem anderen Machtblock. Und es ist klar: Diese Möglichkeit entsteht desto eher, je größer diese Fraktion wird.

Nebenbei werden hier Fehler des traditionellen Marxismus deutlich. Eine Revolution kann sich nicht darauf beschränken, das gegnerische Militär zu spalten. Vor allem muss der Machtblock aufgelöst werden. Die Linie der Machtblock-Auflösung wiederum kann nicht zwischen Befürwortern und Gegnern des Geldes verlaufen, das viele schon eo ipso für die Saat des Kapitals halten, sondern sie muss Duldner und Gegner des unendlichen Wachstums voneinander trennen. Es ist eine Linie auch zur Auflösung der Marx’schen Theorie selber, denn Marx zog beide Linien, die richtige in der falschen oder umgekehrt, und sah nicht, dass er sich zwischen ihnen hätte entscheiden müssen.

2.4 Wechselnde Mehrheiten heute

Die parlamentstaktischen Konsequenzen ergeben sich rasch. Wir haben gesehen, dass zurzeit jede Taktik, sei es die Koalition mit SPD oder CDU oder auch wechselnde Mehrheiten, auf den unfreiwilligen Versuch der Rettung des alten Zwei-Lager-Systems hinauszulaufen scheint. Wir sehen nun, dies ist nur so lange ein Dilemma, wie die Taktik nur parlamentarisch und nicht auch auf der Ebene des Machtblocks durchdacht wird. Wäre es das Ziel der Grünen, den Machtblock auf der Linie endliches Unternehmertum versus unendliches Kapital aufzulösen, würden sich erst einmal alle Optionen in weiterführende Schritte verwandeln.

Selbst das Bündnis mit Union und FDP hätte einigen Sinn, gerade weil die Strategie der Auflösung des Machtblocks eine »revolutionäre«Strategie wäre. Ich habe auf die bekannte Frage verwiesen, wie sich in einer revolutionären Situation das Militär verhält. Sie ist nicht etwa falsch gestellt. Die Antwort wird aber sein: – je nach Partei oder Parteien, denen es zuneigt. Eine »ökologische Revolution«, die noch so gewaltfrei, ethisch und rein auf Überzeugungsarbeit angelegt wäre, könnte dennoch in die Lage kommen, dass sie zwar einerseits, sagen wir, ein antiökologisch bleibendes Lager aus Union und FDP parlamentarisch aufs Deutlichste in die Minderheit brächte, das Militär aber andererseits ganz überwiegend aus Anhängern eben dieser Parteien bestünde; und wenn dann die große Mehrheit, legal und legitim zwar, doch vom Üblichen deutlich abweichend, sehr radikale Gesetze beschließen würde, deren Realisierung zur Auflösung des Machtblocks führen müsste, könnte ein solches Militär sich quer stellen und den Staatsstreich versuchen. Wie kann man dem entgegenarbeiten? Man muss es auf dem Boden der genannten Parteien tun, wozu zeitweilig auch eine Koalition ohne greifbare ökologische Inhalte gut sein mag. Eine Revolution auf der Basis scharfer parlamentarischer Spaltungen ist immer ein Spiel mit dem Feuer; alles, was sie vermeiden hilft, ist gut.

1984 in meiner ersten Kommune-Veröffentlichung über wechselnde Mehrheiten hatte ich referiert, welche Schlussfolgerung Enrico Berlinguer, in den Siebzigerjahren Parteichef der italienischen Kommunisten, aus dem chilenischen Militärputsch zog: dass es nicht hinreiche, wenn revolutionäre Kräfte nur »51 Prozent« eines Parlaments beherrschten; denn das laufe auf dessen hälftige Spaltung und somit auf die Konterrevolution hinaus. Der Rekurs auf Poulantzas hat uns nun gezeigt, dass auch 80, auch 90 Prozent nicht reichen, wenn das Problembewusstsein fehlt.

Setzen wir jedoch voraus, es werde der problembewusste »revolutionäre« Weg beschritten. Die »Revolution« müsste mit ihrer Selbstpropagierung beginnen. Das kann nicht so geschehen, dass man die alten Konstellationen stützt und sich gar noch selektiv der unökologischsten Partei zuwendet. Wo bliebe dann die Propaganda? Man hätte das verkehrteste Signal gesetzt. Ein »revolutionäres« Signal kann am ehesten durch wechselnde Mehrheiten gesetzt werden. Diese Politik ist heute zwar nicht mehr an und für sich, das heißt rein formal, ein Weg zur Auflösung des Zwei-Lager-Systems, da dieses inzwischen selber zu ihr greifen muss. Aber sie ist dann ein Weg, wenn sie sich strikt an die ökologischen Inhalte bindet, so dass alle erkennen und begreifen können, worauf es ankommt.

Man sollte im Übrigen nicht nur bei parlamentarischen Einzelabstimmungen, sondern auch bei der Koalitionswahl fallweise entscheiden. In Hessen wäre eine rot-grüne Minderheitsregierung, die mit wechselnden Mehrheiten regiert, deshalb gut gewesen, weil die dortige SPD ökologisch denkt. Sie lehnt Kohlekraftwerke ab, sie hätte Hermann Scheer zum Minister gemacht. In anderen auf uns zukommenden Konstellationen zeichnet sich eine solche Bündnismöglichkeit nicht ab. Dort kann die Politik wechselnder Mehrheiten also nicht als Politik einer Minderheitsregierung, an der man sich beteiligt, angestrebt werden. Was Hessen angeht, wäre, rein an den ökologischen Inhalten gemessen, auch eine Dreierkoalition unter Einschluss der Linkspartei denkbar. Dem parlamentarischen Spaltungsgeist jedoch hätte die Variante der Minderheitsregierung besser entgegengearbeitet.

Die nächste Bundestagswahl zur ökologischen Entscheidung zu machen, besteht überhaupt keine Chance, egal ob Beck oder Steinmeier das rot-grüne oder auch linke Lager oder gar eine Ampelkoalition anführen. Aber man kann es so angehen: Unter allen wechselnden Mehrheiten ist eine, in der auch Grüne einen SPD-Kanzler mitwählen, sofern dieser bereit ist, Hartz IV zu reformieren. Auch das ist ökologisch wichtig, denn der Versuch, den Machtblock auflösen, wird nur funktionieren, wenn er sich auf die Kraft der subalternen Klassen stützt. Der Illusion, eine solche Reform veränderte schon gleich die Beziehung der SPD zur inneren Bourgeoisie, dürfte man sich freilich nicht hingeben. Nun wird sich ein Sozialdemokrat nur dann zum Kanzler wählen lassen, wenn ihm ein Minimum von Regierungsverlässlichkeit winkt. Dies Minimum würde in einer begrenzten Zahl von Projekten aller Art bestehen, über die sich SPD und Grüne sicher vertraglich einigen können. Auch mit der Linkspartei kann die SPD einen solchen Vertrag abschließen, der kein Koalitionsvertrag wäre. In allen übrigen Fragen wären SPD, Grüne und Linkspartei frei, nach wechselnden Mehrheiten zu suchen.

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 3/2008