Roger Peltzer

Vielschichtige soziale Realität am »Trips-Ring«

Ein Ausflug in die Mitte der deutschen Gesellschaft

 

 

Die Stadt Kerpen gehört zum Großraum Köln und liegt inmitten des rheinischen Braunkohlereviers. Die Lebensverhältnisse der dort lebenden 60000 Menschen sind teils durch die nahe Großstadt geprägt, teils haben sie noch dörflichen Charakter. Die Reportage über eine typische Reihenhaussiedlung gibt Einblicke in einen Alltag, wie er für weite Teile des Rheinlandes typisch sein dürfte. Thesen zunehmender Verelendung und Polarisierung der Gesellschaft bei gleichzeitig misslingender Integration kann dieser Bericht, der freilich nicht gesamtdeutsche Wirklichkeit spiegelt, nicht bestätigen.

Auf einer Fläche von 300 mal 400 Meter drängen sich kreisförmig 250 Reihenhäuser mit circa 1000 Bewohnern. Viel dichter als in der Wohnanlage am Graf-Berghe-von-Trips-Ring in Kerpen-Horrem im Rheinland kann man nicht bauen. Da bleiben für das Haus und den Garten nicht mehr als 150 bis 200 Quadratmeter. Der »Trips-Ring« ist ein typisches Familiengetto, von denen es um die Großstadt Köln herum viele gibt. Mit 265 Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren hat die Siedlung mehr Kinder pro Quadratmeter aufzuweisen als fast alle mehrgeschossigen Komplexe des sozialen Wohnungsbaus in den umliegenden Gemeinden des Rhein-Erft-Kreises. In der nahe gelegenen Grundschule sind Einzelkinder die Ausnahme. Ein Grund sind die Immobilienpreise: Mit circa 180000 Euro sind die Häuser und Bungalows mit 100 bis 150 Quadratmeter Wohnfläche für Familien mit mehreren Kindern erschwinglich. Ein Großteil der Erwachsenen pendelt zur Arbeit. Über die nahe gelegene S- und Regionalbahn ist der Dom einschließlich Fußweg zum Bahnhof in 25 Minuten zu erreichen. Viele arbeiten aber auch in Aachen, in Düsseldorf, Bonn oder pendeln über die Woche nach Berlin, München, Hamburg, Basel oder auch St. Petersburg. Die deutsche Bundesbahn und Germanwings machen es möglich.

Aus Sicht der alteingesessenen Einwohner des Kerpener Stadtteils Horrem handelt es sich bei den Leuten vom Trips-Ring fast ausschließlich um Zugezogene. Die Fluktuation ist mit fünf Prozent im Jahr recht groß. Der Wunsch nach einem allein stehenden Einfamilienhaus, Scheidungen oder – wichtiger – berufsbedingte Wechsel führen dazu, dass praktisch immer Häuser zum Verkauf stehen. Bemerkenswert ist die soziale Zusammensetzung: Von Chefsyndikus einer großen Kölner Versicherung über Handwerksmeister, Verkäufer, Ärzte, selbstständige Unternehmer bis hin zu Lehrern, Taxifahrern, Facharbeitern und Musikern ist ein breiter Querschnitt der Gesellschaft vertreten. Einige Familien beziehen Wohngeld oder Hilfe zum Lebensunterhalt vom Sozialamt der Stadt.

Insofern verbirgt sich hinter den etwas monotonen Reihenhausfassaden eine vielschichtige soziale Realität. Für Besucher insbesondere auch aus dem Ausland – die vielfach vorhandenen Gelegenheiten zum Schüleraustausch werden rege wahrgenommen – ergibt sich dennoch der Eindruck eines Maßes an sozialer Homogenität, die sie aus ihren Heimatländern oft nicht kennen, und die auch der These der zunehmenden sozialen Spaltung der deutschen Gesellschaft zu widersprechen scheint. Schein oder Sein?

Jobs sind keine Mangelware

Heinrich ist 63 und Diplommathematiker, seine Frau Petra Lehrerin an der Realschule im benachbarten Erftstadt. Da die beiden recht spät geheiratet haben, sind die Söhne Jan und Sebastian mit 20 und 18 Jahren noch recht jung. Heinrich arbeitet seit vielen Jahren als selbstständiger Berater im Bereich der Software-Programmierung. Er gehört zu den modernen Nomaden, die von Unternehmensberatungen zu großen Teams zusammengestellt werden, um neue SAP-Anwendungen zum Laufen zu bringen. Seit mehr als einem Jahr ist Heinrich die Woche über bei Siemens in München im Einsatz. Im dem Beraterteam gibt es eine ganze Reihe von Kollegen, die die 50 überschritten haben. Der Kommentar von Heinrich dazu: »Als über 50-Jährige haben wir keine Chance mehr auf eine Festanstellung, aber als Selbstständige sind wir gesucht und können ganz gutes Geld verdienen.« Heinrichs Erfahrung und die Systematik seines Herangehens werden geschätzt. Er könnte zurzeit auch problemlos wechseln. Die Anfragen häufen sich. Das sah 2004/2005 noch ganz anders aus. Da gab es für Heinrich eine fast neunmonatige Zwangspause, und seine Frau Petra musste wieder auf eine Vollzeitstelle gehen, um sicherzustellen, dass die Raten für das Haus rechtzeitig bezahlt werden konnten.

Aber nicht nur Heinrich spürt die anziehende Konjunktur deutlich. Der 50-jährige Architekt bekommt nach diversen vom Arbeitsamt geförderten Maßnahmen und längerer Arbeitslosigkeit wieder eine Stellung. Die über der ganzen Familie schwebende Drohung, das Haus verkaufen zu müssen, um Arbeitslosengeld II beziehen zu können, ist vom Tisch. Und die Jugendlichen vom Ring finden – auch dann, wenn sie »nur« den Hauptschulabschluss B und schlechte Noten haben – durchweg wieder Lehrstellen oder als Ungelernte Jobs. Michael, der die Hauptschule nach dem 8. Schuljahr und einigen Wiederholungen ohne Abschluss verlassen hat, arbeitet seit einigen Monaten für eine Firma, die sich auf Asbestsanierungen spezialisiert hat. Er hat es dort in wenigen Monaten zum Vorarbeiter gebracht und bringt von seinem anstrengenden Job immerhin 1500 Euro netto im Monat ohne Überstundenzuschläge mit nach Hause. Gegenüber dem Frühjahr 2005, als die Arbeitslosenzahlen aufgrund der Hartz-IV-Reform stiegen und die SPD die Landtagswahl in NRW verlor, hat sich die Stimmung gründlich gewandelt. In der Nachbarschaft und im Bekanntenkreis des Trips-Ringes gibt es kaum noch Personen, die längere Zeit eine Stelle oder einen Ausbildungsplatz suchen.

Wie verträgt sich diese Erfahrung mit den hohen Arbeitslosenzahlen, die im Rhein-Erft-Kreis immer noch bei 8,3 Prozent liegen? Werner Monich, Leiter der Arbeitsagentur im benachbarten Bergheim und ebenfalls Nachbar am Ring, verweist auf die Alterstruktur der Arbeitslosen: »Über die Hälfte der 3000 Arbeitslosen des Kreises sind älter als 50 und zu 80 bis 90 Prozent Personen, die über Sozialprogramme der großen Firmen Ford, RWE oder auch der Chemieindustrie auf Kosten der Sozialversicherungen und der Allgemeinheit frühzeitig in Ruhestand geschickt worden sind. Bei RWE/Rheinbraun wurden die Mitarbeiter zeitweise mit 51 Jahren in den Ruhestand geschickt.« Zieht man diese »Frühpensionäre« ab, könnte sich der Erftkreis bei der Zahl der Arbeitslosen mit den Verhältnissen in Bayern und Baden-Württemberg messen. In der Kombination von Leistungen der Sozialversicherungen, Firmenabfindungen, Betriebsrenten, Nebenjobs und mitarbeitenden Familienmitgliedern ist der Lebensstandard dieser »Frühpensionäre« meist nicht gering. Und der Rhein-Erft-Kreis liegt denn auch im Ranking des Bruttoinlandsproduktes pro Kopf mit Platz 162 im oberen Drittel von 435 deutschen Städten und Landkreisen.

Lässt die Bereitschaft zum Ehrenamt nach?

Trotz Fluktuation und sicher auch wegen der vielen Kinder sind die Nachbarschaftskontakte rege. Wenn Kathrina, die es in eine Neubausiedlung in der Nähe von Dresden verschlagen hat, erzählt, dass sie sich nur bei ganz ausgewählten Freunden am Sonntag die Eier ausborgen würde, die sie beim samstäglichen Einkauf vergessen hat, dann plagen solche Skrupel den durchschnittlichen Bewohner des Trips-Ringes nicht. Ob es die benachbarte Optikerin, der Rechtsanwalt, die Lehrerin oder der Handwerker ist, man hilft sich mit Rat und Tat, fährt zusammen in den Urlaub oder hat gelegentlich ein halbes Dutzend Kinder aus der Nachbarschaft zur Übernachtung im Haus. Gleichzeitig ist die Siedlung so groß, dass man sich seine Kontakte aussuchen oder sich der Nachbarschaft auch völlig entziehen kann. Die hohe Bevölkerungsdichte, das Nebeneinander von spielenden Kindern, pubertierenden Jugendlichen, zahlreichen Hunden und Katzen führen natürlich zu vielen Konflikten und Reibereien. Glaubt man allerdings Herrn Steinmann, dem am Ring ansässigen örtlichen Schiedsmann, dann ist die Zahl der Nachbarschaftskonflikte deutlich geringer und deren Austragung zivilisierter als in manchen Vierteln der Stadt mit aufwändigen allein stehenden Einfamilienhäusern.

Agnes kommt aus Polen, ist 35 Jahre alt, hat zwei hellblonde Töchter und ist mit Werner verheiratet. Sie ist ausgebildete Krankenschwester und arbeitet an Wochenenden in Nachtschichten in einem Kölner Krankenhaus. Die Grundschule verdankte Agnes nicht nur eine wunderschöne Krippe zu Weihnachten, sondern auch die Inszenierung eines Theaterstückes mit Kindern zur Martinsgeschichte. Zusammen mit Jürgen ist Agnes eine der Säulen des bürgerschaftlichen Engagements am Trips-Ring. Jürgen hat als Sozialarbeiter ein Leben lang in einer Einrichtung für schwer erziehbare Jugendliche gearbeitet. Er ist jetzt in Altersteilzeit und sollte eigentlich mit seiner Frau, die ebenfalls in Rente ist, den Ruhestand genießen. Stattdessen schiebt Jürgen noch aushilfsweise einige Nachtschichten in Jugendwohngruppen ein, kümmert sich im Beirat der Eigentümergemeinschaft unter anderem um die Ordnung und Sauberkeit am Ring und ist zusammen mit Agnes eines von zehn Mitgliedern der Redaktion der Trips-Ring-Zeitung. Diese erscheint seit 15 Jahren zwei Mal im Jahr mit 20 Seiten, organisiert Straßenfeste und nimmt sich dringender Probleme der Nachbarschaft an. Im Umgang mit nicht immer einfachen Jugendlichen abgehärtet, findet Jürgen die richtige Mischung aus Gelassenheit und Nachdruck, wenn es darum geht, gemeinsam vereinbarte Spielregeln des Zusammenlebens auch dem Nachwuchs am Ring deutlich zu machen.

Gerade hat er zusammen mit Rainer, Elektriker bei RWE, Friedhelm, Ingenieur und Gruppenleiter bei T-Mobile, Heinz, Redakteur bei N-TV, und einigen Jugendlichen am benachbarten Bolzplatz den Bau einer Sitzgruppe, die Anlage eines Basketballfeldes und das Aufstellen einer Tischtennisplatte auf den Weg gebracht. Die nötigen 2500 Euro Bargeld sind durch einen Spendenaufruf der Trips-Ring- Zeitung zustande gekommen. Die gesamte Installation erfolgt in Eigenleistung. Hätte die Stadt Kerpen den Bau dieser Anlage ausgeschrieben, hätte sie das vermutlich zwischen 15000 und 20000 Euro gekostet.

Nun beschränkt sich das ehrenamtliche Engagement vieler Nachbarn nicht auf die Wohnsiedlung. Ob in Sport- oder Karnevalsvereinen, in der katholischen und evangelischen Kirchengemeinde, im Kinderschutzbund, der Arbeit mit Asylbewerbern oder in den zahlreichen Schul- und Klassenpflegschaften am Ort, der Trips-Ring ist fast überall vertreten. Lässt die Bereitschaft zum ehrenamtlichen Engagement nach? Sicher ist, dass sich Freiwillige auf die Dauer nur gewinnen lassen, wenn die Motivation stimmt. Das Engagement muss Spaß machen, das Team muss stimmen, und man muss sich auch wieder zurückziehen können. Die zunehmende Berufstätigkeit beider Elternteile, die Herausforderung, Kinder und Beruf unter einen Hut zu bringen, und lange Arbeitszeiten setzen zudem der Tragweite freiwilligen Engagements Grenzen. So sinkt die Bereitschaft der Arbeitgeber rapide, junge Mitarbeiter bei Alarm mit der freiwilligen Feuerwehr ausrücken zu lassen. Insofern hat man Glück im Unglück, wenn es abends brennt. Da sind mehrere Löschzüge in Minuten da. Vormittags wird es noch ein Löschzug der Freiwilligen Feuerwehr aus Horrem schaffen, und auf die Berufsfeuerwehr aus dem Nachbarort wird man dann etwas länger warten müssen.

Eine funktionierende Nachbarschaft wird – von gelegentlichen Ausnahmen abgesehen – auch nicht Schicksalsschläge wie Behinderung, Krankheit oder Tod auffangen können oder wollen. Ohne familiären Rückhalt wird es dann schwierig. Unter den Besuchern der Kranken, die sich stationär in der Psychiatrie der Rheinischen Landesklinik im 20 Kilometer entfernten Düren aufhalten, wird man nicht so oft Nachbarn und Freunde finden. Das sind zu 80 Prozent Ehepartner, Eltern, Geschwister, Kinder.

Integration: Zwischen Assimilation und Gettobildung

Hanim wohnt seit 15 Jahren mit ihrem Mann und den zwei Söhnen Mehmet (27) und Onur (21) am Trips-Ring. Sie ist vor 20 Jahren aus der Türkei zugezogen, arbeitet als Selbstständige in der Altenpflege und hat immer Wert darauf gelegt, dass ihre Söhne gut Deutsch lernen. Bei Grundschul- und Nachbarschaftsfesten war Hanim nicht selten mit vielen türkischen Köstlichkeiten vertreten. Und in der Tat, wer Mehmet und Onur im Kreis ihrer vielen Freunde am Trips-Ring erlebt, wird einen Unterschied zwischen Deutschen und Ausländern – obwohl die beiden immer noch keinen deutschen Pass haben – kaum noch ausmachen können. Eines unterscheidet die beiden allerdings von ihren Altersgenossen. Sie sind jeweils schon stolzer Besitzer eines Hauses, das sie weitervermieten. Da verbindet sich handwerkliches Geschick – Mehmet ist Maurer – und ein instinktiver Geschäftssinn mit dem türkischen Streben nach Immobilienbesitz. Neben Hanim, ihrem Mann und ihren Söhnen leben viele weitere türkische, persische, polnische und italienische Familien am Trips-Ring. Einzelne Ehegatten kommen aus Holland, Großbritannien, den USA, Mexiko und vielen anderen Teilen der Welt. Probleme mit der Integration und dem Zusammenleben gibt es weitgehend nicht. Negative Erfahrungen hat nur Onita Boone, eine Sängerin und Afroamerikanerin aus den USA, gemacht, die der Liebe wegen zu ihrem deutschen Mann, einem Posaunisten, an den Trips-Ring gezogen ist. Sie fand eines Tages einen Zettel in ihrem Briefkasten, dass sie als Schwarze nicht erwünscht sei. Dieser Vorfall hat zu einer breiten Solidarisierung vieler Nachbarn mit Onita Boone geführt. Auf dem darauf folgenden Sommerfest der Siedlung war sie mit ihrer ausdruckstarken Stimme, die die Berliner 2007 im Musical Daddy Cool am Ostbahnhof genießen konnten, der Star des Abends.

Probleme mit der Integration gibt es, wenn die männlichen pubertierenden Jugendlichen den Trips-Ring verlassen. Da treffen sie auf türkische und marokkanische Altersgenossen, die aggressiv und einschüchternd auftreten. Auf großen Feten gibt es nicht selten Zoff, und wenn einer alleine auf eine türkische Clique trifft, werden Geld und andere Konsumgüter »abgezogen«. Die Erfahrung der Ohmacht gegenüber der demonstrierten türkischen Männlichkeit mündet bei vielen deutschen Jugendlichen im Alter von 14 bis 18 Jahren in Sympathien mit rechtem und rassistischem Gedankengut. Wenig später relativiert sich das wieder. Man kennt sich eben vielfach doch aus Schule, Berufsausbildung oder Jugendclub. Erstaunen macht sich nur dann breit, wenn türkische Bekannte, mit denen man sich beim Bier im Jugendzentrum um die Mädchen gestritten hat, plötzlich mit Vollbärten und langen Kaftanen auftauchen und ein Leben nach strikten islamischen Grundsätzen führen.

Insofern stellt sich Integration ganz unterschiedlich dar. Vielfach ist sie – wie am Trips-Ring – vollständig und meist bis hin zur Assimilation gelungen. Auf der anderen Seite gibt es im Kerpener Stadtteil Nordring starke Ansätze von Gettobildung. Die dort akzeptierten Autoritäten sind die Imane – die sich übrigens in der Regel mittlerweile aktiv um gute Deutschkenntnisse bemühen – und die Vorstände der Moscheevereine. Gelingt es, diese in Dialogprozesse einzubinden, lassen sich viele Probleme zum Beispiel an der Grundschule oder auch mit gewaltbereiten Jugendlichen leichter lösen. Ferah ist die Tochter des Vorsitzenden des Kerpener Moscheevereins, der mit der DITIB liiert ist. Sie hat am Kerpener Gymnasium ihr Abitur gemacht, an dem heute auch ihre Tochter zur Schule geht. Sie ist seit vielen Jahren allein erziehende Mutter, da ihr Mann schon früh bei einem Unfall tödlich verunglückt ist.

Ferah hat unter anderem Germanistik studiert, ist sehr religiös und trägt ein Kopftuch. Mittlerweile ist sie die stellvertretende Geschäftsführerin im Kölner Begegnungs- und Fortbildungszentrum für moslemische Frauen, eine Einrichtung, die systematisch benachteiligte moslemische Frauen fördert und die bundesweit viel Beachtung findet. In ihrer Freizeit vertritt Ferah ihren Vater, der seinen Ruhestand sechs Monate des Jahres in der Türkei verbringt, als Vorsitzende des Moscheevereins. Die Tatsache, dass Ferah einspringen muss, zeigt, dass den Moscheeverein Nachwuchssorgen plagen. An den großen moslemischen Feiertagen wie etwa dem Opferfest ist die Moschee allerdings überfüllt. Da kommen 800 Gläubige, weit mehr als die 200 Mitglieder des Vereins. Ferah ist auch eine gefragte Gesprächspartnerin im Arbeitskreis Ausländerintegration, der von der Stadt Kerpen mit der Erarbeitung eines Integrationskonzeptes beauftragt worden ist. Integration der islamisch geprägten Menschen ausländischer Herkunft wird nur gelingen, wenn Menschen wie Ferah darin eine wichtige Rolle spielen können und wollen.

Kinshasa oder Kerpen: Die Qual der Wahl

Celestin ist vor 17 Jahren als Asylbewerber aus dem Kongo nach Horrem gekommen. 15 Jahre lang hat er in der Bettenfabrik gearbeitet, bevor diese ihre Produktionsstätten in einen Nachbarort verlagert hat. Da hat sich Celestin, der inzwischen die deutsche Staatsangehörigkeit erworben hatte, entschieden, zusammen mit seiner Frau Jully einen Kiosk für Afrikaner aufzumachen, circa 800 Meter vom Trips-Ring entfernt. Denn zwischenzeitlich hatte die Zahl der Kongolesen, Togolesen, Kameruner und Angolaner in Horrem – die meisten von ihnen Asylbewerber – eine auch kaufmännisch interessante kritische Masse erreicht. Und bei Celestin können sie das kaufen, was an anderer Stelle nicht so leicht aufzutreiben ist: Bruchreis, rotes unraffiniertes Palmöl, Cassava und Yam-Mehl sowie gesalzene Chips aus Gemüsebananen (plantain). Wichtige Dienstleistungen von Celestin und Jully sind auch das Angebot billiger Telefonate und der angeschlossene Friseursalon. Bei Celestin trifft man sich abends zum belgischen Bier, und ab und zu sitzt auch ein Weißgesicht in der ansonsten schwarzen Runde. Seitdem allerdings Netcologne zum Flattarif das Telefonieren in europäische Nachbarländer anbietet, geht der Umsatz deutlich zurück. Auch die Tatsache, dass nicht anerkannte Asylbewerber keine Arbeit aufnehmen dürfen, wirkt sich negativ auf das Geschäft aus.

Celestin, der öfter in seine Heimat nach Kinshasa fliegt, überlegt sich ernsthaft zurückzukehren und dort einen modernen Supermarkt aufzumachen. Die Immobilie hat er schon. Jully ist mit diesen Plänen allerdings nicht ganz einverstanden: »Das letzte Mal bin ich im Kongo sehr krank geworden, da habe ich das deutsche Gesundheitssystem erst richtig zu schätzen gelernt. Auch lebt man hier in Horrem wesentlich sicherer.« Und die beiden Töchter – die eine studiert Werbekauffrau und die andere geht noch auf eine weiterbildende Schule – können sich überhaupt nicht vorstellen, nach Afrika zu gehen. Für sie sind schon die afrikanischen Milieus in Paris und Belgien, in die die Eltern vielerlei Kontakte haben, eine Welt, mit der sie kaum noch etwas anfangen können.

Die staatliche Grundschule: »Melting Pot« mit Problemen

In der Rathaus-Grundschule, circa einen Kilometer vom Trips-Ring entfernt, treffen sie alle aufeinander: die Kinder aus nahe gelegenen sozialen Brennpunkten, die Kinder vom Trips-Ring und mittlerweile auch eine ganze Reihe kleiner Kongolesen und Afrikaner anderer Nationalitäten. Der Ausländeranteil liegt bei 20 bis 25 Prozent – die Kinder der Russlanddeutschen aus Kasachstan nicht mitgerechnet – und ist damit weder sehr hoch noch niedrig, so dass die Schule eine hohe Integrationskraft aufweisen sollte. Problemkinder sind allerdings nicht immer ausländischer Herkunft. Gerade allein stehende Mütter aus sozial schwachen Verhältnissen sind mit der Erziehung ihrer Kinder vielfach völlig überfordert mit der Folge, dass ihre Sprösslinge allen anderen an der Grundschule das Leben schwer machen.

Gisela ist 54 und ausgebildete Gymnasiallehrerin. Als sie mit dem Studium fertig war, wurden gerade keine Lehrer eingestellt. Sie hat stattdessen drei Kinder groß gezogen und zeitweise für wenig Geld in einer Nichtregierungsorganisation gearbeitet. Seit acht Jahren begleitet Gisela die Schritte der NRW-Regierung, die Betreuungsangebote für Kinder von berufstätigen Eltern an den Grundschulen zu verbessern. Sie arbeitete auf einer 400 Euro-Basis zunächst für die Schule von 8 bis 13 Uhr, dann für das Angebot 13 bis 16 Uhr und seit Beginn dieses Jahres in der neu eingeführten Offenen Ganztagesschule. Außerdem gibt sie die Vorbereitungskurse für Vorschulkinder, die bei den Einschulungstests erhebliche Defizite aufweisen. Gisela kennt sich bei der Förderung von Kindern, die zu Beginn ihrer Schullaufbahn Handicaps aufweisen, aus.

Wenn man Gisela nach einer Bilanz dessen fragt, was in der Ganztagesbetreuung erreicht worden ist, fällt ihr Urteil zwiespältig aus: »Für berufstätige Eltern bedeuten die Angebote einen großen Fortschritt. Sie können den Nachwuchs heute nachmittags von der Schule abholen und darauf vertrauen, dass die Hausaufgaben weitgehend erledigt sind und dass es ein ordentliches Essen gab. Gerade in der Betreuung der leistungsschwachen sowie der Kinder mit Handicaps gibt es allerdings weiterhin riesige Defizite. Jüngere Reformen im Grundschulbetrieb wie die Einführung des jahrgangübergreifenden Unterrichts – die Kinder von zwei Jahrgangsstufen werden in einer Klasse unterrichtet– oder auch das Angebot einer Fremdsprache fordern die Lehrerinnen bis an die Grenze ihrer Belastbarkeit und verstärken eher – allen klugen Strategiepapieren zum Trotz – die Schere zwischen leistungsstarken und schwächeren Schülern.« Eine gezielte Förderung etwa des ausländischen Schülers, dessen Eltern gerade zugewandert sind und der noch kein Deutsch kann, oder des Jungen, dessen Begabung sich hinter einer massiven Aufmerksamkeitsstörung verbirgt, der Mädchen, die an einer massiven Rechenschwäche leiden, findet – wenn überhaupt – nur zufällig und durch viel freiwilliges Engagement statt. Der Ganztagesbetrieb ist finanziell so knapp ausgestattet, dass gerade mal die Standardangebote – Essen, Hausaufgaben, Betreuung des freien Spiels – einigermaßen ordentlich abgewickelt werden können. Für individuelle Betreuungsangebote ist die Personaldecke viel zu dünn.

Es kennzeichnet zudem das relative Gewicht, das der Bildung in NRW beigemessen wird, wenn der selbst erklärte zehntgrößte Industriestaat der Welt seinen Ganztagesbetrieb über aus dem Boden gestampfte private – oft überforderte – Trägervereine und mit durchweg prekären Teilzeitbeschäftigungsverhältnissen und 400-Euro-Jobs organisiert. Das Ganze funktioniert nur deshalb halbwegs, weil noch einige Jahre die Generation der gut ausgebildeten und hoch motivierten Frauen zur Verfügung steht, die der Kinder wegen zeitweise aus dem Beruf ausgestiegen sind, und für die solche Jobs, nachdem die Kinder aus dem Haus sind, aufgrund des Ehegattensplittings wirtschaftlich einigermaßen interessant sind.

Wenn Gisela sich etwas wünschen würde, dann wäre es, dass NRW für die individuelle Förderung der Grundschulkinder ein Drittel des Personals bereitstellt, das in den Grundschulen Finnlands zum Standard gehört. Dort kommt auf drei Grundschulklassen zusätzlich eine sonderpädagogisch geschulte Fachkraft, übrigens bei einem Anteil von Ausländerkindern aus bildungsfernen Schichten, der gegen Null tendiert, und bei durchweg kleineren Klassen. Für die Rathausgrundschule mit ihren acht Klassen wäre eine solche Ganztages-Fachkraft ein großer Schritt nach vorne.

Die Jugendlichen: eine klassenlose Gesellschaft?

Dennoch wird die Grundschule ihrer Integrationsaufgabe gerecht. Das gemeinsame Aufwachsen und der gemeinsame Grundschulbesuch führen dazu, dass unter den Kindern und Jugendlichen des Trips-Rings eine weitgehend klassenlose Gesellschaft vorherrscht. Freundschaften bleiben auch dann erhalten, wenn sich die Schul- und Berufswege deutlich trennen. Und am Trips-Ring sind alle Schul- und Ausbildungsformen vertreten vom Sonderschüler über den Malerlehrling, den Fachschüler bis hin zur Medizinstudentin. So ist es nicht unüblich, dass die jungen Berufstätigen ihre studierenden Freunde auf die großen Uni-Partys in Köln begleiten. Und in den einschlägigen Diskos an den Kölner Ringen verlaufen die Grenzen nach Musikgeschmack und nicht nach Ausbildung oder Herkunft. Statussymbole bei der Kleidung spielen eine Rolle, aber diejenigen Jugendlichen, die sich dem völlig entziehen, werden auch akzeptiert. Feine Unterschiede gibt es allerdings beim Medienkonsum. Während Gymnasiasten und der akademische Nachwuchs ihre Informationen fast ausschließlich – der Sportteil der Lokalzeitung ist da die Ausnahme – aus dem Fernsehen und dem Internet beziehen – ist an den Berufsschulen der arbeitenden Jugend die Lektüre des Kölner Express weit verbreitet.

Andererseits entscheidet die Schullaufbahn nicht unbedingt über den späteren Berufsweg. Nicht wenige der Jungen, die die Schule haben schleifen lassen, bilden sich nach abgeschlossener Berufsausbildung über Meisterkurse oder Fachschulen weiter. Christoph hat, nachdem er die Realschule mit Mühe absolviert hat, bei Smart in Köln-Godorf eine Ausbildung als KfZ-Mechatroniker absolviert. Im Rahmen des Programms »Work and Travel« macht er jetzt in Australien die Erfahrung, dass er mit seinen Fachkenntnissen eine gesuchte Fachkraft ist, die recht hohe Stundenlöhne verlangen kann. Die duale Berufsausbildung und anschließende berufsbezogene Weiterbildung vermitteln in Deutschland immer noch deutlich mehr Know-how als viele Studiengänge etwa in Frankreich, die anschließend in die Arbeitslosigkeit oder prekäre Beschäftigungsverhältnisse münden. Auch deswegen ist es bemerkenswert, dass die breite bildungspolitische Diskussion in der Publizistik den dramatischen Stundenausfall an den Berufsschulen überhaupt nicht thematisiert, während die »geringen« deutschen Studentenzahlen ein Dauerthema sind.

Die Menschen, die am Trips-Ring leben, weisen viele Gemeinsamkeiten auf: Ihre Wohnsituation und die Schulen der Kinder – durchweg öffentlich – sind identisch. Man trifft sich zum Einkaufen bei Aldi, Lidl oder Rewe sowie in der S-Bahn oder im Stau auf dem Weg zur Arbeit und spendet den Kuchen oder Kaffee für das Nachbarschaftsfest sowie die Schulfeier. Und wenn die fünfte Saison, sprich: der Karneval, angesagt ist, steht man gemeinsam in der Schlange, um Karten für die »lachende Kölnarena« oder die Stunksitzung zu ergattern. Da ist wenig von einer Spaltung der Gesellschaft zu spüren, was umso erstaunlicher ist, wenn man bedenkt, dass die Nettoeinkommen zwischen 1500 und 5000 Euro schwanken dürften. Genaues weiß man nicht, da die Gehaltshöhe in privaten Gesprächen fast immer ausgeblendet wird.

Auf den zweiten Blick relativiert sich diese Einkommensschere allerdings. Während Werner, Programmentwickler bei einer mittelständischen Firma, oft 50, manchmal 80 Stunden und mehr in der Woche arbeiten muss – Überstunden werden in den außertariflichen Gehaltsgruppen selten bezahlt, und der Freizeitausgleich findet vielfach nur auf dem Papier statt –, verdienen sich Facharbeiter oder auch die Verkäuferin nach getaner 40-Stunden-Woche noch ein substanzielles Zubrot über Nachbarschaftshilfe, einen 400- bis 800-Euro- oder einen Zweitjob. Für Putzhilfen wird ein Stundenlohn von mindestens neun Euro bezahlt, die Handwerkerstunde in Nachbarschaftshilfe ist deutlich teurer. Und während die Besserverdienenden mit zwei bis drei Kindern vom Kindergarten über die Offene Ganztagsschule bis hin zum Studium kräftig zur Kasse gebeten werden – bei zwei studierenden Kindern kommen da inklusive Studiengebühren schnell 1400 Euro pro Monat zusammen –, fallen diese Kosten bei den Haushalten mit geringem Einkommen weitgehend nicht an, oder es gibt Bafög für das Studium. Kostenfreie Angebote im Sportverein für Kinder aus Familien mit einem niedrigen Einkommen oder die Spenden an die Fördervereine für die Schulen sorgen für weiteren sozialen Ausgleich. Bemerkenswert ist nur, dass die finanzielle Unterstützung für Klassenfahrten, die der Förderverein des Gymnasiums anbietet, recht wenig in Anspruch genommen wird. Die Kasse des Vereins ist besser gefüllt, als sie sein sollte.

Verlieren die Parteien den Kontakt zum Wähler?

So fließend die sozialen Grenzen am Trips-Ring sind, so unberechenbar ist das Wahlverhalten. Beim Politisieren im Kreis der Nachbarn fällt es schwer, die Diskutierenden eindeutig politischen Lagern zuzuordnen. Je nach Gefechtslage bringt jeder Argumente, die stärker auf sozialen Ausgleich, mehr Eigenverantwortung oder mehr Ökologie zielen, in die Diskussion ein. Und die Wahlergebnisse schwanken denn auch stark. Während die SPD bei der Bundestagswahl im Stimmbezirk, zu dem nicht nur der Trips-Ring gehört – mit 53 Prozent eine deutliche Mehrheit erzielt hat, waren bei der Kommunalwahl die CDU und die Grünen mit 34 und 27 Prozent deutlich stärker als die SPD, die dort lediglich 18 Prozent der Stimmen realisierte. Bemerkenswert auch, dass der CDU-Landrat in der Stichwahl die meisten Stimmen von Trips-Ring (54 %) bekam, während bei der gleichzeitig stattfindenden Bürgermeisterwahl, die SPD-Kandidatin mit 58 Prozent vorne lag. Offensichtlich spielte die Persönlichkeit der Kandidaten bei der Wahlentscheidung eine entscheidende Rolle.

Über mangelnden Zugang zu den politischen Parteien können sich die Anwohner des Trips-Ringes nicht beklagen. So sind Nachbarn für die CDU, die SPD, die Grünen und die FDP im Stadtrat, in seinen Ausschüssen oder in den Stadtverbänden der jeweiligen Parteien aktiv. Nachbarschaftsanliegen – wie zum Beispiel der Bau von verkehrsberuhigenden Schwellen oder die Verhinderung eines neuen Baugebietes im angrenzenden Landschaftsschutzgebiet – finden Gehör, wenn auch die Umsetzungsmühlen der Kommunalpolitik vielfach langsam mahlen. Bei den Nachbarschaftsfesten schauen die Bürgermeisterin und die Vorsitzenden der im Rat vertretenen Parteien ebenso vorbei wie der Ortsvorsteher. Selbst der Draht zur Landespolitik funktioniert. Als sich kürzlich eine Mutter über einige unsinnige Regelungen bei der Einrichtung der Offenen Ganztagesschule in einem Brief an die Vorsitzenden der im Landtag vertretenen Parteien beschwerte, erhielt sie wenige Tage später einen Anruf des damaligen SPD-Landesvorsitzenden, Herrn Diekmann, der Abhilfe versprach.

Zunehmende Armut, soziale Polarisierung, gescheitere Integration und Politikverdrossenheit: Diese Stichworte sind für die soziale und politische Realität der deutschen Gesellschaft weniger zutreffend, als es große Teile der Publizistik glauben machen wollen. Dies zumindest legt der Ausflug zum Trips-Ring nahe. Es stimmt, die 40-Stunden-Woche kennen die meisten Erwachsenen am Trips-Ring nur noch von früheren Zeiten. Fast alle müssen für die Aufrechterhaltung ihres Lebensstandards, ob nur im Hauptjob oder in der Verbindung von erster Arbeitsstelle und Nebenverdienst, hart arbeiten, meist deutlich mehr als vor 15 Jahren. Es stimmt auch, dass bei der Bildung vieles im Argen liegt, wenn auch nicht immer in den Bereichen, die vorrangig publizistisch bearbeitet werden. Aber die Grundrisiken des Lebens sind durchweg einigermaßen abgesichert und der soziale Ausgleich und auch die Integration finden immer noch wesentlich stärker statt als vielfach wahrgenommen und publiziert.

Der Autor wohnt am »Trips Ring« in Kerpen-Horrem und hat die dortige Nachbarschaftszeitung, deren Redakteur er ist, mitbegründet. Die Namen der meisten Personen sind abgeändert.

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 3/2008