Christoph Fleischmann

Die Rückkehr der alten Antworten

Benedikt XVI. hat Schwierigkeiten mit der Moderne

 

 

Seit wann sitzt die intellektuelle Avantgarde im Zentrum der Macht? Wann in der Geschichte war es der oberste Monarch, der die geistesgeschichtliche Entwicklung vorangebracht hat? Die Fragen sind nicht so absurd wie die Wirklichkeit, in der der gegenwärtige Papst als einer der größten Intellektuellen gilt.

Nach einer statistischen Erhebung des Magazins Cicero ist er sogar der einflussreichste Intellektuelle deutscher Sprache. Einfluss mag er an der Spitze der katholischen Weltkirche haben, aber zeichnet einen Intellektuellen nicht auch die Unbestechlichkeit und Freiheit des Denkens aus? Diese Freiheit wurde in Rom noch nie als höchster Wert gefeiert. Trotzdem gilt Benedikt XVI. in den Feuilletons als großartiger und scharfsichtiger Theologe, als herausragender Intellektueller. Seit seiner Diskussion mit Jürgen Habermas scheint der Monarch einer vormodernen Klerikalhierarchie ein hervorragender Gesprächspartner für die großen Fragen der Demokratie. Selbst von Protestanten wird er als einer gefeiert, der »die Bewahrung der rationalen und humanen Gehalte des christlichen Glaubens in der modernen Welt zu einem seiner Lebensthemen gemacht« hat.(1)

Die Verwirrung ist weit fortgeschritten. Um es deutlich zu sagen: Papst Benedikt XVI. ist ein guter Stilist, der seine Gedanken mit Klarheit und mitunter auch mit Eleganz auf den Punkt bringen kann. Aber er vertritt eine konservative Theologie, die darauf aus ist, das Dogma der Kirche als wahr zu erweisen, eine Theologie, die deswegen vielen Selbstverständlichkeiten der Moderne reserviert bis ablehnend gegenübersteht. Benedikts Position repräsentiert keineswegs die Weite der universitären Theologie. Sie ist an das, was im internationalen theologischen Diskurs gedacht wird, kaum anschlussfähig, findet aber aufgrund von Benedikts Macht eine Beachtung, die ihr aufgrund inhaltlicher Evidenz nicht zukäme. Dabei mag er von einem gewissen konservativen Roll-Back, das sich in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen feststellen lässt, zusätzlich profitieren. Innerhalb seiner Kirche treibt er dieses Roll-Back verkniffen lächelnd, aber energisch voran.

Gib mir einen Punkt, auf dem ich stehen kann

Eine der grundlegenden Errungenschaften der modernen Theologie war die Einsicht in die Geschichtlichkeit der Offenbarung, das heißt zu begreifen, dass das, was als Offenbarungsgeschehen geglaubt wird, zu einer bestimmten Zeit geschehen ist und unter den Bedingungen dieser Zeit formuliert und tradiert worden ist. Exemplarisch dafür steht die Erforschung des Lebens Jesu seit dem 18. Jahrhundert. Der Bibeltext galt nicht mehr als zuverlässige und ausreichende Quelle für ein Leben Jesu. Die Evangelien seien von gläubigen Menschen geschrieben wurden, die im Menschen Jesus Gott erkannt und deswegen sein Leben gemäß ihrem religiösen Bekenntnis gestaltet hätten. Man müsse also den historischen Jesus unter einer Schicht von Glaubensaussagen, Überhöhungen und Legenden erst wieder freilegen.

Dabei kam es allerdings immer wieder zu dem Ergebnis, das der »historische Jesus« nach den Idealen der jeweiligen Zeit der Forscher modelliert wurde. Etwas länger hat die Theologie gebraucht, um einzusehen, dass auch der Standpunkt dessen, der Fragen stellt, historisch bedingt ist.

Benedikt XVI. aber sucht einen Punkt, der der historischen Relativierung entzogen ist – sowohl auf der Ebene des Offenbarungsgeschehens wie auf der Ebene seiner Interpretation: Diesen Punkt findet er – überspitzt gesagt – in sich selbst: Die Kirche ist für ihn die Schnittstelle, in der sich das Offenbarungsgeschehen und seine korrekte Auslegung begegnen: »Die zwölf Apostel sind so das offenkundigste Zeichen für den Willen Jesu in Bezug auf die Existenz und die Sendung der Kirche, die Garantie, dass zwischen Christus und der Kirche keinerlei Gegensatz besteht.«(2) Diese These hat er in seinem Jesusbuch historisch zu entfalten versucht, die systematischen Implikationen kann man an der Regensburger Vorlesung studieren. Sie ist auch der Grund für die Polemik gegen den Relativismus unserer Zeit.

»Jesus he knows me, and he knows I’m right«

Der Papst will in seinem Buch Jesus von Nazareth(3) den »wirklichen« Jesus, den »›historischen Jesus‹ im eigentlichen Sinn« darstellen. Und die Pointe dabei ist: Papst Benedikt sagt: Der Jesus, wie ihn die vier Evangelien zeichnen, ist der wirkliche Jesus. In der Bibelwissenschaft gilt – wie erwähnt – seit 200 Jahren der Konsens, dass man das Leben Jesu quasi »hinter« den Texten des Neuen Testamentes rekonstruieren müsse. Diese historisch-kritische Bibelwissenschaft hält Benedikt zwar für notwendig, aber ihre Versuche, das Jesu Leben zu rekonstruieren, überzieht er mit milder Polemik.

Den deutschen Bischöfen, die ihn im November 2006 besuchten, sagte er, dass sie darauf achten sollten, dass die katholischen Theologen immer das depositum fidei beachteten, also die Glaubenslehre, die das Lehramt der Katholischen Kirche festgelegt hat. Seriöse wissenschaftliche Theologie könne es nur »in Treue« zum katholischen Dogma geben.(4) Immerhin hält Benedikt sich selbst an seine Weisung: Denn er will unter der Voraussetzung, dass Jesus der Sohn Gottes war, wie es die ersten Konzilien der Kirche festgeschrieben haben, die Evangelien lesen. Und so findet er – wen wundert es – das, was er voraussetzt: Nämlich den Menschen Jesus, der wusste, dass er der Fleisch gewordene Sohn Gottes ist.

Besonders das Johannesevangelium mit seiner weit ausgearbeiteten Christologie wird ihm dafür zu einem wichtigen Verbindungsstück zwischen historischem Jesus und altkirchlichem Dogma. Freilich halten selbst konservative Exegeten das Johannesevangelium für die Frage nach dem Selbstverständnis Jesu für unbrauchbar. Die Lehre vom Gottessohn aus dem Evangelium biete einen Reflexionsstand deutlich nach Jesu Leben. Unter souveräner Missachtung bibelwissenschaftlicher Forschung harmonisiert Benedikt die Entwicklung des christologischen Dogmas: Das Bekenntnis von Nizäa (325 nach Chr.) hat Gott und Jesus als »gleichen Wesens« (homoousios) bezeichnet. »Dieses Wort hat nicht den Glauben hellenisiert, ihn mit einer fremden Philosophie befrachtet, sondern gerade das unvergleichlich Neue und Andere festgehalten, das in Jesu Reden mit dem Vater erschienen war.«(5)

Benedikt braucht für seine Rekonstruktion des »wirklichen« Jesus den Bibeltext, aber wenig historische Fakten: Die ganze Szenerie Palästinas, die Frage nach Vorstellungen und Lebenswirklichkeit der Menschen damals, all das kommt bei Benedikt fast überhaupt nicht vor. Dafür schlägt Benedikt immer wieder den weiten Bogen bis in die Gegenwart. Sein Jesus antwortet nicht auf Herausforderungen des 1. Jahrhunderts im römisch besetzten Palästina, sondern auf die Sorgen des Papstes vor einer säkularisierten und individualistischen Moderne. Damit entgeht Benedikt ganz augenfällig nicht dem Schicksal der meisten Autoren, die das Leben Jesu rekonstruieren wollen.

Mit dem Inhalt des Papst-Buches würde sich kein Bibelwissenschaftler lange beschäftigen – wenn es nicht vom Papst wäre. Zwar gibt Benedikt vor, dass er das Buch als Privatmann geschrieben habe, den man gerne kritisieren dürfe, aber die katholische Seite der Zunft wird die Warnung verstanden haben: Kurz vor Erscheinen des Buches im April 2007 hat die Glaubenskongregation des Vatikan zwei Jesus-Bücher des Jesuitenpaters Jon Sobrino öffentlich verurteilt. Sobrino wurde vorgeworfen, dass er behaupte, im Neuen Testament werde die Göttlichkeit Jesu nicht klar behauptet. Die Mehrheit der Bibelausleger hält es so, dass die volle kirchlich ausformulierte Lehre von der Gottessohnschaft Jesu eben noch nicht im Neuen Testament enthalten sei. Der katholische Theologe Peter Hünermann resümierte, »dass mit Jon Sobrino die angesehensten Exegeten und systematischen Theologen – katholische wie evangelische – auf der Anklagebank sitzen. Die Notifikation (das Schreiben, das Sobrinos Bücher verurteilt, Anm. d. Verf.) setzt gegen seinen Entwurf eine Christologie, in der die Aussagen der Konzilstheologie in Identität bereits in den neutestamentlichen Texten gefunden werden sollen.«(6)

Was Vernunft ist, weiß am besten der Vernunftvertreter

Bei der Ausformulierung des christlichen Dogmas in den ersten Jahrhunderten unserer Zeit haben die ersten Theologen der Kirchengeschichte die Botschaft des neuen Testamentes mit der Philosophie ihrer Zeit – namentlich mit dem Mittel- und Neuplatonismus – verbunden. Für den Papst ist das aber nicht eine mögliche Inkulturation der christlichen Botschaft, der zu anderen Zeiten und an anderen Orten andere Inkulturationen folgen könnten. Für ihn ist mit der Hochzeit zwischen Jerusalem und Athen etwas geschehen, das ein für alle Mal Gültigkeit beansprucht: »So geht der biblische Glaube … dem Besten des griechischen Denkens von innen her entgegen zu einer gegenseitigen Berührung«, dozierte Benedikt in Regensburg. »Dieses hier angedeutete innere Zugehen aufeinander, das sich zwischen biblischem Glauben und griechischem philosophischem Fragen vollzogen hat, ist ein nicht nur religionsgeschichtlich, sondern weltgeschichtlich entscheidender Vorgang, der uns auch heute in die Pflicht nimmt.«(7)

In der spätantiken Philosophie gibt es ein Weltgesetz oder eine Weltvernunft, die die Welt mit sinnhaften Strukturen durchzieht und ordnet. Diese Weltvernunft nannten die Philosophen Logos, und die Kirchenväter setzten ihn mit Gott gleich: Eine Vorstellung, die die Theologie über Jahrhunderte prägte: Gott ist danach das oberste Prinzip einer durch ihn strukturierten Welt. Das heißt von den Strukturen der Welt kann auf Gott rückgeschlossen werden.

In der politischen Theologie der Sechziger- und Siebzigerjahre wurde darauf hingewiesen, dass so ein Gottesbild tendenziell die Normativität des Faktischen sanktioniert. Demgegenüber haben sich Vorstellungen entwickelt, wonach Gottes Sein nicht statisch, sondern im Werden ist. Solche Versuche, Gott geschichtlich zu denken, gehen letztlich schon auf Hegel zurück, haben aber in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von verschiedenen theologischen Positionen her Fahrt aufgenommen.

Das ficht den Papst freilich nicht an, er macht sich vielmehr Sorgen über die Evolutionstheorie, die den Glauben erschüttert hat, dass es sinnvolle Strukturen in der Welt gebe, die auf Gott rückschließen lassen. Ein Begriff der Natur, so Ratzinger damals im Gespräch mit Jürgen Habermas, in dem Natur und Vernunft ineinander griffen, »die Natur selbst vernünftig« sei, sei mit dem Sieg der Evolutionstheorie zu Bruch gegangen: »Die Natur als solche sei nicht vernünftig, auch wenn es in ihr vernünftiges Verhalten gibt: Das ist die Diagnose, die uns von dort gestellt wird und die heute weithin unwidersprechlich scheint.«(8) Freilich deutete Ratzinger auch an, dass er sich damit nicht recht zufrieden geben will. Das erklärt das Interesse des Papstes an der Evolutionstheorie. Im Spätsommer 2006 hat er dazu eine Expertenrunde nach Castel Gandolfo eingeladen. Durch einen der Beteiligten, den Wiener Kardinal Christoph Schönborn, wurde die Diskussion um die Evolutionslehre dann auch in unseren Breiten gepusht.

Wenn es also fraglich ist, dass die Natur als solche vernünftig ist, so bleibt noch der vernunftbegabte Mensch. Die menschliche Vernunft könne die Ur-Vernunft der Welt, den Logos, erkennen, glaubten die griechischen Philosophen. Eine Analogie, die auch für Benedikt wesentlich ist: »Demgegenüber hat der kirchliche Glaube immer daran festgehalten, dass es zwischen Gott und uns, zwischen seinem ewigen Schöpfergeist und unserer geschaffenen Vernunft eine wirkliche Analogie gibt, in der zwar … die Unähnlichkeiten unendlich größer sind als die Ähnlichkeiten, aber eben doch die Analogie und ihre Sprache nicht aufgehoben werden. Gott wird nicht göttlicher dadurch, dass wir ihn in einen reinen und undurchschaubaren Voluntarismus entrücken, sondern der wahrhaft göttliche Gott ist der Gott, der sich als Logos gezeigt und als Logos liebend für uns gehandelt hat.«(9) Die Betonung der Unähnlichkeit bei aller Ähnlichkeit wirkt hier nur noch wie ein schwacher und vor allem für den Gang der Argumentation folgenloser Vorbehalt. Entscheidend ist die Analogie zwischen unserem Verstand und der Weltvernunft, die Gott ist.

Die Korrespondenz zwischen Gott und Vernunft ist es vermutlich, die manche Beobachter jubeln lassen über die »rationalen und humanen Gehalte des christlichen Glaubens«, die Ratzinger angeblich bewahre. Sicher hat es auch positive Aspekte, wenn Gott als vernünftig gedacht wird: Ein vernünftiger Gott erscheint verlässlicher als ein Gott, dessen freie Souveränität oder gar Willkür betont wird. Vielleicht gründet ein guter Teil der theologischen Arbeit an einem konsistenten Gottesbegriff darin, dass die Menschen sich nach einem verlässlichen Gott sehnen. Das kann man als Fortentwicklung begreifen, aber auch als Verkürzung. Der auf den vernünftigen Begriff gebrachte Gott wird in der Hand und Argumentation seiner Anhänger gesichert.

Zum zweiten bedeutet die Analogie zwischen menschlicher Vernunft und Gott, dass der Mensch mit seiner Vernunft Gott erkennen könne. Freilich waren die Gottesbeweise, die Gott mit Mitteln der Vernunft beweisen wollen, lange Zeit schwer aus der Mode gekommen. Aber alle Moden kommen irgendwann wieder: Der Philosoph Robert Spaemann, auch er ein Vertrauter des Papstes, der in Castel Gandolfo dabei war, geht so weit, dass er sagt: Um die Verstehbarkeit der Welt und die Wahrheitsfähigkeit des Menschen denken zu können, müsse an der Vorstellung eines vernünftigen Gottes festgehalten werden. Gott sichert danach sozusagen die prinzipiell mögliche Kongruenz von Vernunft und Wirklichkeit in der Welt. Andernfalls drohe der Nihilismus, weil nichts mehr als wahr erkannt werden könne.(10)

Spaemann geht hier wohl weitgehend d’accord mit Benedikt – sowohl in der Position wie in der Negation: Auch bei Benedikt ist die Alternative zu seinem selbstbewussten Wahrheitsbegriff, der Relativismus, der in Dekadenzerscheinungen aller Art münde. Gibt es also nur Wahrheit oder Chaos? Gibt es kein Drittes? Was wäre – und diese Position legt sich nahe, wenn man die geisteswissenschaftlichen Entwicklungen der letzten 40 bis 50 Jahre nachvollzieht – wenn es Vernunft nur im Plural gibt – abhängig von Zeit und Ort des Vernunftbegabten? Wenn deswegen die Wahrheitsfähigkeit des Menschen immer eine relative ist, dann heißt das beileibe nicht, dass alles egal ist und der Nihilismus droht. Es heißt aber, dass keiner autoritär festlegen kann, was wahr ist. Die Vernunft im Plural fordert den herrschaftsfreien Dialog über die Wahrheit.

Und hier kommt nun ein Drittes dazu, das den Jubel über die »rationalen und humanen Gehalte des christlichen Glaubens« bei Papst Benedikt vollends stocken lässt: Wenn Gott die Vernunft ist, also per definitionem nicht gegen die Vernunft sein kann, wer entscheidet dann, wenn die menschliche Vernunft in ihrer Gotteserkenntnis gegen die Offenbarungserkenntnis des Glaubens steht? Oder – um es mit einer von Benedikt oft gebrauchten Metapher zu sagen – wer »reinigt« wen? Der Glaube die Vernunft oder die Vernunft den Glauben? Benedikt betont, dass beide, Vernunft und Glaube, einander brauchen. Der Tübinger Theologe Hermann Häring sieht aber sicher nicht ganz zu Unrecht eine »prästabilierte Harmonie« zwischen Glaube und Vernunft bei Papst Benedikt, wonach es einen Konflikt zwischen beiden eigentlich nicht geben kann. In der Regensburger Vorlesung betreibe der Papst ein »Verwirrspiel« durch die Doppeldeutigkeit von Logos als Vernunft und Logos als Jesus Christus.(11) Mit dem Wort Logos bezieht sich der Papst nicht nur auf die antike Philosophie, sondern auch auf den Beginn des Johannesevangeliums, in dem Logos eine Prädikation für Christus ist: »Den ersten Vers der Genesis … abwandelnd, hat Johannes den Prolog seines Evangeliums mit dem Wort eröffnet: Im Anfang war der Logos. ... Logos ist Vernunft und Wort zugleich – eine Vernunft, die schöpferisch ist und sich mitteilen kann, aber eben als Vernunft. Johannes hat uns damit das abschließende Wort des biblischen Gottesbegriffs geschenkt … Im Anfang war der Logos, und der Logos ist Gott, so sagt uns der Evangelist.«(12) Wenn aber der Logos synonym mit dem biblischen Gottesbegriff ist, also der christlich verstandene Gott die Vernunft ist, dann weiß der Stellvertreter Gottes am besten, was Vernunft ist. Deswegen kann Benedikt am Ende seiner Regensburger Vorlesung in der Geste des Hausherrn einladen – und lädt dabei nicht zum Glauben ein, sondern viel schlimmer: Er sieht sich als Stellvertreter der Vernunft: »In diesen großen Logos, in diese Weite der Vernunft laden wir beim Dialog der Kulturen unsere Gesprächspartner ein.«(13) Wer glaubt, hier würde der vernunftfreudige Papst zu einseitig und zu negativ interpretiert, der sei noch einmal daran erinnert, wie Benedikt den Vernunftgebrauch in den eigenen Reihen regelt. Im Ernstfall entscheidet die Glaubensbehörde, was vernünftig ist: »Da nun kann nicht genug betont werden, dass die Treue zum Depositum fidei wie es vom Lehramt der Kirche vorgelegt wird, die Voraussetzung für seriöse theologische Forschung und Lehre schlechthin darstellt.«(14)

Der Papst und die Moderne – relativ totalitär

»Wie viele Glaubensmeinungen haben wir in diesen letzten Jahrzehnten kennen gelernt, wie viele ideologische Strömungen, wie viele Denkweisen?«, so predigte sich Kardinal Ratzinger vor dem Wahlkonklave in die Herzen der Kardinäle, die offenbar seine Furcht vor der Moderne mit ihm teilen. »Das kleine Boot des Denkens vieler Christen ist nicht selten von diesen Wogen zum Schwanken gebracht, von einem Extrem ins andere geworfen worden: vom Marxismus zum Liberalismus bis hin zum Libertinismus; vom Kollektivismus zum radikalen Individualismus; vom Atheismus zu einem vagen religiösen Mystizismus; vom Agnostizismus zum Synkretismus und so weiter. Jeden Tag entstehen neue Sekten, und dabei tritt ein, was der hl. Paulus über den Betrug unter den Menschen und über die irreführende Verschlagenheit gesagt hat. Einen klaren Glauben nach dem Credo der Kirche zu haben, wird oft als Fundamentalismus abgestempelt, wohingegen der Relativismus, das sich ›vom Windstoß irgendeiner Lehrmeinung Hin-und-hertreiben-Lassen‹, als die heutzutage einzige zeitgemäße Haltung erscheint. Es entsteht eine Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten lässt.«(15) Es ist einerseits faszinierend, wie der Glaubenshüter einer hierarchischen Organisation, der Ratzinger über Jahre war, die Positionen, die er in den eigenen Reihen massiv unterdrückt, mit dem Begriff »Diktatur« in die Ecke des Totalitarismus stellt. Andererseits erstaunt es, dass solche und ähnlich ressentimentschwangere Lamenti seinen Ruf als glänzender Intellektueller nicht beeinträchtigen.

Es scheint so, als würden die Extreme wieder salonfähig: Auf der einen Seite ein flacher Atheismus, wie er – von den theologischen Fragen der Jahrhunderte unberührt – von Richard Dawkins vertreten wird, auf der anderen Seite eben ein Papst, der – wie Jürgen Habermas nach der Regensburger Vorlesung erkannt hat – die Synthese zwischen biblischem Glauben und griechischer Metaphysik über die Zeit retten will: Obwohl Benedikt »die Auffassung kritisiert, ›man müsse nun wieder hinter die Aufklärung zurückgehen und die Einsichten der Moderne verabschieden‹, stemmt er sich gegen die Kraft der Argumente, an denen jene weltanschauliche Synthese zerbrochen ist«. So schlussfolgert Habermas zu Recht, dass Benedikt die Frage verneine, »ob sich die christliche Theologie an den Herausforderungen der modernen, der nachmetaphysischen Vernunft abarbeiten muss«.(16) Doch sollte man dieses »Nein« nicht für die gesamte Theologenschaft gelten lassen. Sonst blieben all die unter ihnen ungehört, die sich um ein Verstehen des Glaubens unter den Bedingungen der Moderne bemühen.

1

Martin Schuck: »Der denkende Papst und die empörten Muslime«, u.<|>a. in: Korrespondenzblatt des Pfarrer- und Pfarrerinnenvereins der ev.-luth. Kirche in Bayern, Jg. 121/2006, S. 157. www.pfarrverein-bayern.de/archiv/kblatt-0611.pdf

2

Benedikt XVI. Katechese in der Generalaudienz vom 15. März 2006; www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/audiences/2006/documents/hf_ben-xvi_aud_20060315_ge.html

3

Joseph Ratzinger/Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth. Erster Teil: Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung, Freiburg 2007.

4

Ansprachen von Papst Benedikt XVI. und Grußworte aus Anlass der Ad-limina-Besuche der deutschen Bischöfe im November 2006, hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 176), Bonn 2006, S. 18. www.dbk.de/imperia/md/content/schriften/dbk2.vas/ve_176.pdf

5

Joseph Ratzinger/Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth, S. 407.

6

Peter Hünermann: »Moderne Qualitätssicherung? Der Fall Sobrino ist eine Anfrage an die Arbeit der Glaubenskongregation«, in: Herder Korrespondenz 61/2007, S. 184–188, hier S. 187.

7

Benedikt XVI.: Glaube und Vernunft. Die Regensburger Vorlesung. Vollständige Ausgabe mit Kommentaren, Freiburg 2006, S. 19 u. 22. www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/speeches/2006/september/documents/hf_ben-xvi_spe_20060912_university-regensburg_ge.html

8

Joseph Ratzinger: »Was die Welt zusammenhält. Vorpolitische Grundlagen eines freiheitlichen Staates«, in: ders.: Werte in Zeiten des Umbruchs. Die Herausforderung der Zukunft bestehen, Freiburg 2005, S. 35.

9

Benedikt XVI.: Glaube und Vernunft, S. 21 f.

10

Robert Spaemann: Das unsterbliche Gerücht. Die Frage nach Gott und die Täuschung der Moderne, Stuttgart 2007, hier bes. S. 11–53; ebenso ders.: Der letzte Gottesbeweis, München 2007.

11

Hermann Häring im Gespräch mit dem Verf.

12

Benedikt XVI.: Glaube und Vernunft, S. 18.

13

Ebd., S. 32.

14

Siehe Anmerkung 4.

15

Papst Benedikt XVI./Joseph Ratzinger: »Der Anfang. Predigten und Ansprachen April/Mai 2005«, hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 168), Bonn 2005, S. 14. www.dbk.de/imperia/md/content/schriften/dbk2.vas/ve_168.pdf

16

Jürgen Habermas: »Ein Bewusstsein von dem, was fehlt. Über Glauben und Wissen und den Defätismus der modernen Vernunft«, in: Knut Wenzel (Hrsg.): Die Religionen und die Vernunft. Die Debatte um die Regensburger Vorlesung des Papstes, Freiburg 2007, S. 47–56; hier S. 56.

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 3/2008