Ernst Köhler
Noch immer ist Mostar eine gespaltene Stadt, und noch immer fühlt sich der bosniakische Bevölkerungsteil diskriminiert. Aus guten Gründen. Es gibt die Rückkehr von Flüchtlingen in die kroatisch kontrollierten Gebiete, aber hinter der vielleicht gelösten Sicherheitsfrage tut sich die Frage der Arbeitslosigkeit auf. Und die HDZ radikalisiert in den kroatisch dominierten Kantonen der Herzegowina ihren nationalistischen Kurs. Der Verantwortung für Krieg und Verbrechen stellt man sich nicht. Der bosnische Gesamtstaat bleibt bislang, auch das die Frucht von Dayton, eine Fiktion.
Suche nach Perspektiven
Ende Oktober 2000 fand im "Ero", dem besten Hotel in Mostar, eine Konferenz mit dem bombastisch klingenden Thema "Mostar velika ideja za buducnost" (Mostar die große Idee für die Zukunft) statt. Es war viel bosnische Prominenz anwesend: der High Representative der internationalen Gemeinschaft, der Chefvertreter der EU, der britische Botschafter, der Ministerpräsident des Landes. Nach den ermutigenden, appellativen, auch mahnenden Reden, die alle die besondere, geradezu paradigmatische Bedeutung der immer noch geteilten Stadt für die Lage des Gesamtlandes unterstrichen, begann das unvermeidliche Spiel mit den Zahlen. Nur ein eher bescheiden auftretender Ökonom der "Dzemal Bijedic"-Universität im bosniakischen Ostteil der Stadt brachte die Courage auf, direkt und unverhüllt von Strategie zu sprechen: Von den Richtungsentscheidungen, die der Stadt und der Region eine Chance eröffnen könnten. Im Gegensatz zu seinem Kontrahenten von der kroatischen Universität in West-Mostar, der im Nebel seiner Wirtschaftsdaten zu suggerieren scheint, Mostar müsse unbedingt Karlsruhe kopieren, besteht Safet Krkic auf den spezifischen Ressourcen und Entwicklungsmöglichkeiten der Stadt an der Neretva: Boden, Wasser, eine Altstadt von unvergleichlicher Schönheit, eine traditionell qualifizierte Einwohnerschaft. Die Zukunft Mostars liege weder im Aufbau einer Textilindustrie, die unter den Bedingungen der Globalisierung schon wegen der in Bosnien zu zahlenden Löhne nicht konkurrenzfähig wäre, noch auch in der Aluminiumerzeugung und in der Flugzeugindustrie, wie sie der Sozialismus Mostar oktroyiert hat besessen von seiner eindimensionalen Entwicklungsdoktrin, blind für die zerstörerischen Folgen dieser Schwerindustrie in dieser Landschaft. Die Zukunft liege hier vielmehr in einer hoch spezialisierten Agrarwirtschaft (Weinbau), in der Energieerzeugung, im Tourismus, im institutionellen Angebot von höherer Bildung auf Weltniveau, in kleinen und mittleren Hightech-Unternehmen, in der Bereitstellung von Banken- und Agentur-Service aller Art. Der Beifall in der eleganten Hotelhalle fiel sehr mäßig aus. Ein Großteil des Publikums schien in eisiger Ablehnung zu verharren. Es war nicht schwer zu begreifen, dass die Vertreter der Weststadt sich den Überlegungen des bosniakischen Wirtschaftsprofessors verschlossen die Aluminiumwerke, die man sich im Zuge einer raubhaften Privatisierung angeeignet hat, sind schließlich das ökonomische Prunkstück des kroatischen Machtkomplexes in der Herzegowina. Aber auch die Leute von der anderen Seite reagierten eigenartig verdrossen auf den Vorschlag, mit dem Modell der sozialistischen Industrialisierung gedanklich zu brechen.
Der Vernichtungskrieg gegen Bosnien hat den großen Bruch hier verzögert und verschleppt. Mehr als andere postkommunistische Gesellschaften klebt das Land an dem halben Jahrhundert Sozialismus. Wenn man sich mit den Dozenten und sogar auch den Studenten der Maschinenbau-Fakultät an der "Dzemal Bijedic"-Universität unterhält, gewinnt man oft den Eindruck, dass sie sich eigentlich nichts anderes vorstellen können, denn als Ingenieure wieder in der großen Industrie von Mostar zu arbeiten. Sie wissen, dass es auf unabsehbare Zeit ausgeschlossen ist; dass die fortdauernde Politik der "ethnischen Säuberung" vor Ort es verbietet; dass die bedenkenlose Zusammenarbeit westlicher Investoren mit den kroatischen Usurpatoren von Mostar es noch unwahrscheinlicher macht sie wissen es, und dieser Widerspruch erbittert und lähmt sie. In diesem Klima mag ein nonkonformistischer Experte wie Safet Krkic als jemand erscheinen, der einfach aus der Not der Ausgrenzung eine Tugend des grundsätzlichen Umdenkens macht. Aber Unterprivilegierung muss nicht unbedingt steril bleiben, und auch auf der dunklen Seite der Mostarer Apartheid denkt man über die Perspektiven des Landes nach gerade dort vielleicht.
Und in den Ruinen von Mostar lernt man, die Aufbauleistung früherer Epochen zu respektieren. Safet Krkic blickt zurück, wenn er nach vorn schaut vor allem auf die zivilisatorischen Errungenschaften des osmanischen 16. Jahrhunderts, dem sich beispielsweise alle bedeutenden bosnischen Städte verdanken. Der sanfte Tourismus der Zukunft wird vom Erbe der vormodernen Vergangenheit zehren. In seinem jüngsten Buch über die "Ökonomie Bosniens in der türkischen Periode" (Mostar 2000) plädiert Krkic für eine vorurteilslose Rekonstruktion und Würdigung des osmanischen Wirtschaftssystems auf dem Gipfel seiner Effizienz und Machtentfaltung. Was dabei für die Gegenwart herauskommt, ist eine selbstbewusste, akzentuiert regionale Konzeption von Entwicklung also so ungefähr das Gegenteil des neoliberalen Allerweltrezepts.
Prekäre Rückkehr
Das gepflegte kleine Appartement befindet sich in einem der hässlichen Blocks Westmostars. Aber die Besitzerin, eine etwa fünfzigjährige Dame, Bosniakin, ist überglücklich, dass sie ihre Wohnung ohne größere Probleme nach ihrer Rückkehr aus Deutschland zurückbekommen hat. Die kroatische Nachbarsfamilie, die sich dort jahrelang einquartiert hatte, hat ihr Eigentum anstandslos zurückgegeben. Das ist jetzt gut drei Monate her. Die neuen Eigentums- und Mietgesetze des "Office of the High Representative" beginnen offensichtlich sogar in Westmostar zu greifen. Allerdings kommt dann im Gespräch ein dunkler Punkt zum Vorschein: drei wertvolle Gemälde aus dem Besitz der Rückkehrerin hängen immer noch an der Wand des Nachbarn. Sie hat sie selbst dort hängen sehen, und man habe ihr auch versprochen, die Kunstwerke zurückzugeben. Bislang habe sie vergeblich darauf gewartet. Sie wage aber nicht, die Leute darauf anzusprechen. Sie denke dauernd über diese Menschen nach. Wie solle sie denn wissen, wer sie heute seien und was sie inzwischen dächten? Weihnachten habe der Prälat in seiner Festpredigt in der nahe gelegenen Kathedrale volle zwanzig Minuten lang gegen die "Delogierung" (die besagten Eigentumsgesetze) geeifert. Da habe sie sich wieder ganz "schutzlos" gefühlt. Das Wort benutzt sie mehrfach im Laufe unserer Unterhaltung. Vielleicht komme irgendwann wieder einfach jemand in ihre Wohnung und fordere sie auf zu verschwinden. Fast entschuldigend fügt sie hinzu, sie sei eben allein stehend und seit ihrer Rückkehr aus der Bundesrepublik auch noch immer ohne Arbeit.
Ignazio Matteini vom UNHCR Mostar (Flüchtlingsorganisation der UNO) spricht von einem "Durchbruch" in der Frage der Minderheitenrückkehr. Die Rückkehr bosniakischer und serbischer Flüchtlinge und Vertriebener in die kroatisch kontrollierten Gebiete dieser Region sei heute jedenfalls keine "Sicherheitsfrage" mehr. Das gilt freilich keineswegs für das angrenzende Territorium der Republika Srpska im Dezember fahren zwei Leute bosniakischer Herkunft bei Gacko auf eine eindeutig gezielt platzierte Panzermine und werden dabei schwer verstümmelt. Es gab in diesem Jahr mehrere Anschläge dieser Art, kein einziger davon ist bislang aufgeklärt worden. Aber was die kroatisch beherrschten Gebiete angeht, so sind in diesem Jahr tatsächlich erstmals echte Fortschritte zu verzeichnen. Nach Stolac (früher mehrheitlich von Muslimen bewohnte Stadt südöstlich von Mostar) konnten inzwischen mehrere hundert bosniakische Familien zurückkehren. Sie müssen nicht mehr damit rechnen, dass ihnen das gerade mit internationaler Hilfe wieder hergestellte Dach von einem kroatischen Mob aufs Neue in Brand gesteckt wird. Das ist schon sehr viel. Allerdings tun sich die einheimischen Kenner der Materie doch etwas schwerer mit solchen Erfolgsmeldungen als der jugendliche Enthusiast im UNHCR-Büro. Es gibt andere Methoden als Terroranschläge. Man kann den Rückkehrern beispielsweise den Strom abdrehen oder sie mit anderen Schikanen traktieren. Die Kommune von Capljina (Stadt an der Straße von Mostar zur Küste) scheint in dieser Hinsicht besonders erfindungsreich zu sein. Und wovon sollen die Rückkehrer leben? Hinter der vielleicht endlich gelösten Sicherheitsfrage tut sich die ganz ungelöste Frage der Arbeitslosigkeit auf. Auf einer Kontrollfahrt mit den Mitarbeitern des Malteser-Hilfsdienstes in die Umgebung von Stolac und Capljina konkretisiert sich die Problematik: Der UNHCR versucht offenbar, die Vertriebenen aus den Städten, wo sie für mehr als ein halbes Jahrzehnt Zuflucht gefunden hatten, wieder in ihre alten Dörfer zurückzubringen. Nur dass das Land inzwischen fast menschenleer ist. Die ehrenwerte Absicht, das Dayton-Abkommen-Annex 7 zu "implementieren", kommt viel zu spät und gerät zudem in einen hoffnungslosen Gegensatz zum epochalen Trend der Landflucht, wie ihn der Krieg nur dramatisiert hat.
Wir fahren mit unserem Geländewagen einen unasphaltierten Weg ins Land hinein. Auf dem Programm steht die Überprüfung ("monitoring") einer Hilfslieferung an eine kleine Gruppe von Bauern. Es handelt sich um einen leichten motorisierten Handpflug, der den Leuten im Rahmen eines "Income Generation Program" aus UNHCR-Mitteln angeliefert worden ist. Aber sie sollen das Gerät natürlich benutzen, nicht etwa verkaufen. Nach endloser Fahrt treffen wir inmitten der Einöde auf zwei Höfe. Der Pflug ist da, es ist alles in Ordnung. Die Bauersleute, alles Menschen über 60, berichten über die Lage und bringen ihre praktischen Anliegen vor. Sie klagen nicht, sie lassen sich nichts anmerken, sie bewirten uns mit großer Freundlichkeit.
Das Votum der Kroaten
Zu den bösen Überraschungen der allgemeinen bosnischen Wahlen im November letzten Jahres gehörte bekanntlich der Triumph der nationalistischen kroatischen Partei (HDZ) in den kroatisch dominierten Kantonen der Herzegowina. Damit hatte nach der politischen Wende in Zagreb vom Januar 2000 und nach den bosnischen Kommunalwahlen vom April 2000 (Schrumpfung der Wahlbeteiligung in den kroatischen Kantonen auf 40 %) niemand mehr ernstlich gerechnet. Es war ein Schock, und in Mostarer OSZE-Kreisen konnte man damals harsche Urteile hören über die "primitiven" Kroaten dieses Landstrichs, die "nur eines zu wissen scheinen, nämlich dass sie Kroaten sind". Aber auch die aufgeklärtere Version von der tief sitzenden Angst der bosnischen Kroaten (des schließlich kleinsten der drei "konstituierenden Völker" von Bosnien-Herzegowina) vor Identitätsverlust und politisch-kultureller Überwältigung durch das bosniakische Mehrheitsvolk will nicht recht befriedigen. Schon allein deshalb nicht, weil die bosniakischen Wähler sich inzwischen auf drei politische Parteien aufteilen: auf die national ausgerichtete SDA (die Partei Alija Izetbegovics), auf die Sozialdemokraten Zlatko Lagumdzijas (SDP) und auf die entschieden zivilgesellschaftlich orientierte "Partei für Bosnien-Herzegowina" (SBiH) von Haris Silajdzic. Es verhält sich eher umgekehrt: Die demagogischen Aktivitäten der HDZ im Vorfeld der Wahlen (Vorbereitung eines "Referendums" der bosnischen Kroaten zur Durchsetzung einer "dritten Entität" neben den beiden in Dayton festgeschriebenen) haben die SDA bei den Wahlen dann besser abschneiden lassen, als es vermutlich sonst der Fall gewesen wäre. Wenn man in diesem Zusammenhang schon von Angst oder von einem angstbestimmten Sicherheitsstreben reden will, dann sollte man es sich doch nicht allzu irrational oder hysterisch vorstellen. Man muss sich nur die Personal- und Lohnpolitik der Mostarer Aluminiumwerke anzusehen, dann stößt man schon auf die handfesten materiellen Interessen hinter dem Wahlerfolg der HDZ. Und hinter der Fortdauer des kroatischen "Herceg Bosna", dessen Verwaltung von diesem und ähnlichen Unternehmen finanziert wird. Oder man mache eine Spritztour nach Siroki Brijeg (Kleinstadt im Westen von Mostar): Man stößt hier überall auf die Zeichen eines richtiggehenden Baubooms; ein Geschäft, ein Handelshaus entsteht neben dem anderen, und Ihr (bosniakischer) Taxifahrer wird Ihnen mühelos die geschäftlichen Vorteile der zollfreien Einfuhr und der so möglichen Niedrigpreise erläutern. Kurz: Man hat etwas zu verlieren. "Herceg Bosna" ist ein Privilegiensystem. Das ist freilich nur die halbe Wahrheit. Dass ein nationalistischer Politiker wie Ante Jelavic immer noch die kroatischen Massen hinter sich zu bringen vermag, liegt auch an der verbreiteten Weigerung, sich der Verantwortung für den Krieg und seine Verbrechen zu stellen. Unter den Teilnehmern der nationalistischen Großdemonstration in Split neulich dürften nicht wenige Kroaten aus der Herzegowina gewesen sein. Es ist eben sehr bequem, sich als "Opfer" wahrzunehmen und aufzuspielen. Auch als Gast der kroatischen Universität in Westmostar bekommt man etwas von dieser offenbar allpräsenten Tabuisierung des Krieges ab: Man kann sich auf den Kopf stellen, das kroatische Gegenüber bleibt nicht selten abweisend, kalt, misstrauisch.
Es mag sein, dass dies alles noch zu eng gedacht ist, oder sagen wir: zu denunziatorisch. Der bedeutende slowenische Staatsrechtler Ciril Ribicic <D>hat neulich eine ungewöhnlich sachliche Studie über "Herceg Bosna" vorgelegt, die in Bosnien große Beachtung gefunden hat (Geneza jedne zablude, Sarajevo 2000; dt. Entstehungsgeschichte eines Irrtums). Die Kernthese lautet, dass es sich dabei um einen konsequenten Staatsaufbau handelt. Es gibt alles von einer eigenen Polizei und Justiz bis zu einer eigenen Nachrichtenagentur. Es gibt für alles Gesetze, und sie werden ganz regulär im Gesetzesblatt veröffentlicht. Könnte es nicht sein, dass sich die separatistische Loyalität der kroatischen Bevölkerung in der Herzegowina zuallererst einmal dem puren Faktum eines "richtigen" Staates verdankt eines Staates, welchen Charakters auch immer, inmitten eines Szenariums von Staatszerfall und fiktiver Staatlichkeit? Freilich ist man ja selbst wesentlich dafür verantwortlich, dass der bosnische Gesamtstaat bislang eine Fiktion geblieben ist. Das ist der böse Zirkel Bosniens, einer von ihnen.
Einfach Volksmassen
Anfang Dezember 2000 stirbt in Mostar ein Mann namens Josip Jole Musa. Selbst der Fremde spürt, dass die Stadt trauert. Die ganze Stadt. Zum Begräbnis auf dem großen, multiethnischen Friedhof am Nordrand von Mostar kommen zehntausend Menschen die Straßen sind verstopft, nichts geht mehr. Und es kommen alle: Kroaten, Bosniaken, Serben. Die Teilung der Stadt ist für einen Moment aufgehoben. Wer war dieser Mann? Die Kerngeschichte lautet: "Jole", in Mostar geboren und aufgewachsen, Kroate, vor dem Krieg Chef der Aluminiumwerke, ferner Präsident des Mostarer Fußballklubs "Velez", erhält im Krieg das Angebot, Bürgermeister von Mostar zu werden. Das Angebot kommt von Mate Boban, damals der starke Mann des kroatischen Nationalismus in Bosnien. Musa lehnt ab mit der Frage: "Für welches Mostar denn?" Der junge Mann, der die Geschichte erzählt Bosniake, Hochschulabsolvent, zurzeit viel beschäftigter Mitarbeiter einer amerikanischen Hilfsorganisation nimmt sich diesmal genüsslich Zeit. Aber es ist diesmal auch kein Gespräch über Politik, sondern über einen Mythos, einen Mythos von unten sozusagen, einen, den die Leute sich selber herstellen und ausschmücken, und das scheint entschieden reizvoller als jeder Diskurs über Politiker, Parteien und internationale Kontrollorgane. Der "große" Josip Jole Musa ist eine erquickend volksnahe, herzerwärmende Figur integer, großmütig, loyal. Kein kleiner, lokaler "Tito" etwa; denn der gelegentlich nostalgisch beschworene Tito ist nur noch verschimmelte Geschichte.
Aber auch die noble Gestalt des Mostarers hat etwas Autoritäres, Vordemokratisches. Es gibt in Bosnien, zumindest im bosniakischen Bosnien, kaum einen Sensus für demokratische Politik, für das politische Engagement des Bürgers. "Wie sollen Menschen, die nie Demokratie kennen gelernt haben, denen es untersagt war, Dinge zu hinterfragen, die einfach Volksmassen waren, plötzlich wissen, was das Wesen von Demokratie ist, und von einem Tag auf den anderen eine blühende Zivilgesellschaft aufbauen?" (Wolfgang Petritsch, Bosnien und Herzegowina. Fünf Jahre nach Dayton, Klagenfurt 2001, S. 325)
Aber auch und gerade ganz junge Leute, die man darauf anspricht, bringen regelmäßig ihr abgrundtiefes politisches Desinteresse zum Ausdruck. Man hat jedes Mal das Gefühl, sie suchen in ihrem Sprachfundus nach einem möglichst scharfen Ausdruck der Verachtung oder des Ekels. Bezeichnend etwa die folgende kleine Szene: Wir befinden uns in einem Seminarraum der "Pädagogischen Fakultät" an der kroatischen Universität in Mostar. Thema sind, im Rahmen einer Einführung in die deutsche Zeitgeschichte, die Transparente der Massendemonstration auf dem Alexanderplatz vom 4. November 1989 darunter Sprüche wie: "Dass ich das noch erleben darf", "Wir brauchen Architekten statt Tapezierer", "Kein Artenschutz für Wendehälse" und so fort. Die kroatischen Studenten gehen mit. Anders die beiden jungen bosnjakischen Arbeitslosen von der anderen Seite, die sich in die Höhle des Löwen getraut haben. Für den einen wirken diese Parolen "von heute her gesehen: einfach nur lächerlich"; für den anderen ist es schlicht "Reklame".
Aber auch ein gestandener Demokrat kann in diesem Land leicht Mut und Orientierung verlieren. Tritt er für "Demokratie jetzt" ein, sieht er sich genötigt, die nun seit fünf Jahren immer wieder aufs Neue demokratisch legitimierten pseudodemokratischen Machthaber Bosniens anzuerkennen oder doch hinzunehmen. Votiert er im Interesse einer realen künftigen Demokratisierung des Landes für ein befristetes internationales Protektorat, sieht er sich der irritierenden Frage konfrontiert, wie denn aus Fremdherrschaft Demokratie erwachsen soll. Hält man es mit Wolfgang Petritsch, dem gegenwärtigen Hohen Repräsentanten der internationalen Gemeinschaft in Bosnien, und seinem leitenden Konzept von "ownership" so viel wie die selbstverantwortliche Aneignung Bosniens durch die Bosnier , so wird man ihm wohl oder übel auch in seine schwer nachvollziehbare Toleranz den dreisten Feinden Daytons gegenüber folgen müssen. Man hat den Eindruck, die Politik des OHR in Bosnien wird immer appellativer. So ist der öffentliche Verzweiflungsausbruch von vier hoch angesehenen bosnischen Publizisten nur allzu begreiflich: "... angesichts des katastrophalen Gefühls vollkommener Hilflosigkeit und Perspektivlosigkeit, die die tägliche Abwanderung einer riesigen Anzahl Angehöriger der jüngeren Generationen aus allen Gegenden des Landes zur Folge hat...". schlagen Senad Pecanin, Ivan Lovrenovic, Nerzuk Curak und Mile Stojic vom viel gelesenen Wochenmagazin Dani die auf ein Jahr befristete Suspendierung ausnahmslos aller bosnischen Parlamente und staatlichen Exekutivorgane vor (Zehn Thesen für Bosnien und Herzegowina, in: Dani, Sarajevo, 28.1.00; zitiert nach: Wolfgang Petritsch, Bosnien und Herzegowina<D>, S. 233 ff.). Vergeblich, Petritsch lehnt natürlich ab in einem Ton freilich, der seinen Respekt und seine Betroffenheit bekundet.
Verlangen nach Gerechtigkeit
Der hochrangige Polizeioffizier arbeitet schon seit Koschniks Zeiten in der "International Police Task Force (IPTF)", Mostar. Jetzt kehrt er nach Deutschland zurück, um von dort aus den Polizeieinsatz in Bosnien zu planen. Aber ungeachtet seiner besonderen Vertrautheit mit den örtlichen Verhältnissen, weigert er sich den ganzen Abend strikt, über die Verantwortung Belgrads für die Entfesselung des Bosnienkriegs zu sprechen. Die Verantwortung liegt für ihn bei den Völkern Bosniens und ihrer "Mentalität". Das ist umso befremdlicher, als der Beamte unter allen Politikern Bosniens am höchsten Haris Silajdzic schätzt; denn Silajdzic steht ja bekanntlich in der bosnischen Politik für die unbeugsame Erinnerung an den Krieg und an die katastrophalen Fehler des Westens. Vielleicht war diese Geschichtsklitterung zunächst nur so etwas wie Diplomatie. Man erschwert sich ja den Umgang mit den kroatischen Partnern vor Ort erheblich, wenn man angemessen über den Krieg spricht. Auch Hans Koschnik hatte es nie über sich gebracht und in seinen öffentlichen Stellungnahmen fast zwanghaft ein Kuddelmuddel der allseitigen Kriegsverantwortung produziert. Und Wolfgang Petritsch? In einem großen, ins Grundsätzliche gehendem Interview Anfang 2000 stellt ihm das bosnische Wochenmagazin Ljiljan die Frage: "Die allgemeine Einschätzung der bosnischen Intellektuellen ist es, dass im unlängst vergangenen Krieg an den Bosniaken ein Genozid verübt wurde. Stimmen Sie dem zu? Oder verbietet die Funktion des Hohen Repräsentanten auch in diesem Fall ein definitives Urteil?" Die Antwort lautet: "Wieder ist das eine der wichtigen, aber genauso empfindlichen Fragen. Die internationale Gemeinschaft kann Unterstützung leisten bei der Erforschung dieser Frage, aber am Schluss sind es die hiesigen Menschen, die sie bis zum Ende untersuchen müssen" (Wolfgang Petritsch, a. a. O., S. 321 f.).
Sie sind es natürlich nicht. Es geht auch keineswegs nur um die bosnischen Intellektuellen. Diese Sorte von politischem Opportunismus lastet vielmehr auf dem ganzen Land. Die nationalistischen Machthaber von gestern und heute kann er nicht beeindrucken; denn er stellt ja ein Signal des Zurückweichens und der Kompromissbereitschaft dar. Und den bosniakischen Massen muss er sich unvermeidlich entfremden. Der Besucher spürt etwas von dieser unterirdischen, weitgehend stumm bleibenden Distanzierung, wenn einmal, was nur ganz selten vorkommt, ein hoher Vertreter des Westens die allgemeine Sprachregelung in der Frage von Schuld und Verantwortung durchbricht. Das ist dann jedes Mal ein Ereignis in Bosnien. Es war wohl nicht zufällig ein Amerikaner, der US-amerikanische Botschafter Tom Miller, der für den Massenmord von Srebrenica das Wort "Holocaust" gefunden hat. Kein Zweifel, es ist eine "schreckliche Vereinfachung". In Bosnien hat man es als Anerkennung der Dimensionen des Verbrechens aufgenommen. Das ist unvergessen. Das wird man Tom Miller in Bosnien nicht vergessen.
ALS KASTEN IM HEFT
Rückschritte und Fortschritte
Aus den allgemeinen Wahlen in Bosnien-Herzegowina gingen die Nationalisten nicht wesentlich geschwächt hervor. Um das zu verhindern, hat der Hohe Repräsentant in Sarajevo, Wolfgang Petritsch, noch drei Wochen vor dem Wahlgang die Wahlregeln geändert, "und zwar gezielt zu Ungunsten der kroatischen Nationalisten" (NZZ,<D> 9.3.01); aber dieses "electoral engineering" hat die Überzeugung dortiger und nicht nur nationalistischer Kroaten bestärkt, als Volksgruppe von der internationalen Verwaltung diskriminiert zu werden. Seit dem Regierungswechsel in Kroatien und der Fragmentierung der dortigen HDZ setzt der Führer der bosnischen HDZ, Ante Jelavic, auf die Politik der "eigenen Stärke". Diese versucht er durch Radikalisierung der Forderungen zu demonstrieren und durch einseitige politische Akte zu verwirklichen: Referendum für die "dritte Entität", Gründung eines Kroatischen Nationalrates, Proklamation der kroatischen Selbstverwaltung. Weil es in der Föderation wie auf der Gesamtebene dennoch gelang, Koalitionsregierungen der nichtnationalistischen Parteien ("Allianz für den Wandel") zu bilden, geht es in der Hauptsache wohl darum, der Entmachtung der HDZ an Schaltstellen in der Armee, Wirtschaft und Verwaltung zuvorzukommen.
Die serbischen Nationalisten in ihrem ethnisch gesäuberten und durch Dayton anerkannten Teil Bosnien-Herzegowinas genießen unbehelligt die Resultate ihres Wahlsiegs. Die Aufnahme von institutionellen Sonderbeziehungen zwischen der Republika Srpska und der Belgrader Regierung (Anfang Februar) wurde von Petritsch begrüßt.
Aus Zagreb weht ein anderer Wind. Die Bosnienpolitik des kroatischen Regierungschefs ist glasklar: Ihr Ziel ist ein einheitliches Bosnien-Herzegowina; angestrebt werden "Sonderbeziehungen" zu ihm als Gesamtstaat und nicht zu einem Teil davon. Racan will in enger Absprache mit der EU zur Lösung der Krise im Nachbarstaat beitragen. Die einseitigen Schritte in Mostar wurden im Zagreber Parlament einhellig verurteilt. Die ersten Gespräche mit der neuen Regierung in Sarajevo fanden auch schon statt. Die Zagreber Linie ist als Orientierungshilfe dem Westen dringend zu empfehlen.
d.m.
Siehe zum Thema in der Kommune auch:
Stefan Troebst: IMRO + 100 = FYROM? Politik und Geschichte in Makedonien (3/99)
Stephan Müller: Kommt ein "Vereinigtes Albanien"? Ein Groß-Albanien würde die Region destabiliseren (6/99)
Stefan Troebst: Krieg auf dem Balkan - Die "Wiederkehr der Orientalischen Frage"? (8/99)
Stefan Troebst: Kommunizierende Röhren. Makedonien, die albanische Frage und der Kosovo-Konflikt (12/99)
Ernst Köhler: Versuch über Bosnien. Reise nach Mostar - Teil 1, 2, 3 und 4 (12/99, 4/00, 6/00, 8/00)
Stefan Troebst: "Großalbanien" - eine Chimäre. Die interne und externe "Albanische Frage" (8/00)
Stefan Troebst: Ist multiethnische Gesellschaft rekonstruierbar? Von den Kriegen in Jugoslawien zum Stabilitätspakt in Südosteuropa (9/00)
Stefan Troebst: Gewalt und Gewaltfreiheit. Makedonien im 20. Jahrhundert - Vom ethnopolitischen Schlachtfeld zum interethnischen Stabilitätspol (1/01)
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Ausgabe April 2001 (19. Jg., Heft 4/2001)