Die Fallstricke der Fortschrittlichkeit

Eine bibliografische Notiz

Ernst Köhler

Statt differenziert aufzuzeigen, ,weshalb Bomben auf Belgrad fielen‘, schwelgen die Autoren in ihrer Verschwörungstheorie, wonach die von Washington angefeuerte NATO Jugoslawien ohne triftigen Grund, dazu völkerrechtswidrig und offenbar aus reiner Kriegslust, bombardiert habe. Die ganze Breite der Diskussion über NATO, UN und das Völkerrecht, über die Vorgänge im Kosovo überhaupt und in Rogovo im Besonderen wird grob verkürzt. Informationen und Zeugenaussagen werden ,verbogen‘ und verfälscht – im Resultat kommt eine verheerend falsche Story heraus." Matthias Rüb, ein Kenner der Kosovo-Problematik, hat bereits das Notwendige über den WDR-Film Es begann mit einer Lüge gesagt ("Ein Fall von Bulldozer-Journalismus", FAZ, 1.3.01); zum Hintergrund vgl. auch: ders., Kosovo. Ursachen und Folgen eines Krieges in Europa, dtv 1999). Dem ist kaum etwas hinzufügen – oder höchstens der selbstkritische Stoßseufzer: Wie bringt man nur die Geduld, die Nerven, die Disziplin auf für die detaillierte Kritik eines ganz offensichtlich demagogischen Machwerks.

Aber man fühlt sich an eine Polemik ähnlichen Typs im Jahre 1993, auf dem Höhepunkt des Bosnienkrieges, erinnert. Die Desinformation lag damals und liegt jetzt charakteristischerweise in der Unterstellung gezielter Desinformation, die es endlich zu entlarven gelte. Man denke nur an die bodenlose Behauptung des amerikanischen Journalisten Peter Brock in der US-Zeitschrift Foreign Policy im Dezember 1993, der zum Skelett abgemagerte Mann auf dem Titelbild der Time-Ausgabe vom 17. August 1992 sei gar kein muslimischer Gefangener aus einem serbischen Lager, sondern in Wirklichkeit ein tuberkulosekranker Serbe, den seine in Wien lebende Schwester eindeutig identifiziert habe. Brock hatte seine "Informationen" letztlich aus dem Belgrader Staatsfernsehen bezogen; er war nicht mehr als ein Erfüllungsgehilfe der serbischen Lobby in den Vereinigten Staaten. Interessant ist in diesem Zusammenhang die wahrhaft erstaunliche und beklemmende Resonanz, die dieser Manipulationsversuch im Namen der Aufklärung fast überall gefunden hat. Der inzwischen verstorbene Schweizer Journalist Johannes Vollmer hat darüber eine denkwürdige Studie vorgelegt: "Die pauschale Anklage Brocks lautete: Internationale und besonders amerikanische Medien hätten parteiisch und einseitig antiserbisch berichtet... Brock warf ihnen ,Meutejournalismus‘ und ,vermeidbare Mediennachlässigkeit‘ vor... Dahinter habe die ,klare Absicht‘ gesteckt, ,Regierungen zu militärischem Eingreifen zu zwingen‘ ... Der Beitrag setzte eine große Debatte in der deutschsprachigen Presse in Gang, in der – abgesehen von einigen Brock direkt widersprechenden Beiträgen – Brocks Kritik entweder für bare Münze genommen wurde oder man sich doch, soweit man seinen Beitrag als überzogen qualifizierte, höchst dankbar zeigte für den Anstoß zu Reflexionen der allgemeinen Art über die Rolle der Medien im Krieg. Im besten Fall wurde Brock noch vorgehalten, auch er sei ,nicht frei‘ von ,Fehlern‘; jenen, die sich gegen Brocks Ausfälle wehrten, wurde dagegen eine ,hysterische und niveaulose Schlammschlacht‘ vorgeworfen, in der die Wahrheit wieder einmal das Opfer sei" (Medienlüge Bosnien? Eine Desinformationskampagne im Namen unparteiischer Information; in: Johannes Vollmer, Hrsg.: "Dass wir in Bosnien zur Welt gehören", Solothurn und Düsseldorf 1995, S. 229 ff.).

Es gibt da freilich einen gravierenden Unterschied. Der Vorwurf einer politisch gesteuerten, kriegstreiberischen Verfälschung der Tatsachen hat im Fall Bosnien noch entschieden mehr Verwirrung stiften können als heute bei der rückblickenden Auseinandersetzung mit dem Kosovo-Krieg. Inzwischen gehört die entscheidende Rolle Belgrads in allen drei Jugoslawienkriegen zum allgemeinen zeitgeschichtlichen Konsens. Und die besondere Unsicherheit, der massive Selbstzweifel von 1993 verdankte sich speziellen Irritationen, die heute ihre Kraft eingebüßt haben. Einmal war die traumatische Erfahrung des Golfkrieges war noch ganz frisch. Im deutschen Fernsehen war zu Beginn dieses Krieges tagelang nur ein einziger Standpunkt und eine einzige Sicht präsent. Es war in der Tat zum Ersticken, und Klaus Bresser, Chefredakteur des ZDF, hat sich später denn auch für die Kriegsberichterstattung seiner Anstalt öffentlich entschuldigt. Aber das war nach dem Krieg, und nach dem Krieg begannen auch in den USA selbst die Journalisten und ihre Chefs die Hände zu ringen über ihre kampflose, protestlose Hinnahme der tief greifenden Zensurmaßnahmen seitens der Bush-Administration (immerhin war es die erste offizielle Zensur in Kriegszeiten seit dem Koreakrieg). John R. Macarthur hat über die Selbstgleichschaltung der amerikanischen Medien im Golfkrieg ein glänzendes, packendes Buch geschrieben – ein erzamerikanisches Buch übrigens, das nicht anonyme "Strukturen" anklagt, sondern konkrete Personen benennt und für ihre Entscheidungen verantwortlich macht (Second Front. Censorship and Propaganda in the Gulf War, London 1993).

Man könnte die betont kritische Haltung der deutschen Medien während des Kosovo-Kriegs als späte Wiedergutmachung für den Konformismus von 1991 begreifen. Wo in dieser schönen Dialektik der Bosnienkrieg unterzubringen wäre, ist eine Frage wert. Eine anregende Lektüre dazu bietet eine hier zu Lande kaum registrierte Veröffentlichung des "British Film Institute": Bosnia by Television, Ed. by James Gow, Richard Paterson, Alison Preston, London 1996. Schon der Hinweis darauf, dass der Westen im Golfkrieg eine entschlossene, starke – im Bosnienkrieg hingegen eine unentschlossene, schwache – Politik verfolgt hat, gibt zu denken. Man fragt sich, wieso nicht schon dieses doch unbezweifelbare Faktum ausgereicht hat, der Brock`schen Attacke den Wind aus den Segeln zu nehmen. Welche Chancen hätten die Medien im Bosnienkrieg denn gehabt, die westlichen Mächte in eine kriegsentscheidende militärische Intervention zu puschen? In dem auf hundert Interviews mit politischen Spitzenleuten basierenden Beitrag des britischen Fernsehjournalisten Nik Gowing kann man sich im Detail darüber informieren, mit welcher Härte und zynischen Cleverness die politischen Klassen des Westens auf die Bosnienberichte der Medien zu reagieren pflegten: "As one British official put it to me echoing the words of many others: ,(In Bosnia) TV almost derailed policy on several occasions, but the spine held. It had to. The secret was to respond to limit the damage, and be seen to react without undermining the specific (policy) focus.‘" Wenn es nicht zu lächerlich wäre, könnte man fast meinen, die peinliche, auch moralisch quälende Erinnerung an ihre (zeitweise) Unterwerfung unter die starke Politik im Golfkrieg habe nicht wenige Journalisten dazu verführt, ihren möglichen Einfluss auf die schwache Politik im Bosnienkrieg gewaltig zu überschätzen.

Aber auch sonst kann der Medien-Laie einiges aus dem zitierten Band lernen. Vor Ort in Bosnien waren unzählige Reporter (darunter viele freiberufliche) mit kleinen, tragbaren Video-Kameras unterwegs. Und es waren vor allem diese Video-Filme, die von diesem Krieg ein unvergleichlich sinnliches, anschauliches, intimes Bild produziert und übermittelt haben. Die eigentliche Front war zu gefährlich, und so konzentrierten sich die Bildreportagen in aller Regel auf die Spur der Verwüstung im Land und auf das unsägliche Elend der Vertriebenen. Das ganze Land war zerstört. Die ganze Zivilbevölkerung, egal welcher Nationalität, war betroffen. Eine besondere Schuldzuweisung konnte da leicht einseitig und voreingenommen wirken. Die suggestive Gewalt der Bilder von Zerstörung und Leid hat die politische Analyse oder Historiographie des Krieges beiseite gefegt. Man könnte von einem Sensualismus oder Naturalismus der vernichtenden Schicksalsschläge, der Martyrien und der Todeserfahrung sprechen, der die kardinale Frage nach den Hintergründen des Krieges, nach seinen Vordenkern und Initiatoren zum Schweigen gebracht hat. Der italienische Journalist Paolo Rumiz hat die Problematik sehr persönlich und aufrichtig auf den Punkt gebracht: "Ich kam in Konflikt mit der Macht der Medien – von der ich selbst ein Teil bin – , die einfache, oberflächliche und schlagzeilentaugliche Wahrheiten wollte: Massaker, Gewaltakte, Vergewaltigung, gerettete Kinder und heldenhafte Taten... Je öfter man Blut sieht, desto weniger wichtig wird es als Nachricht, und nicht mehr der Verstand, sondern höchstens der Magen revoltiert noch. Es stellt Täter und Opfer auf die gleiche Stufe, verhindert den Blick auf das Umfeld und wirkt sogar irgendwie beruhigend: Die biblischen Ausmaße der Verbrechen übersteigen unsere Kräfte und befreien uns von der Verpflichtung einzugreifen. Vor allem aber werden wir vom Anblick blutiger Gewalt auf einer moralischen und humanitären Ebene angesprochen und daran gehindert, zu den Wurzeln des Geschehens vorzudringen, die in der Politik zu suchen sind" (Masken für ein Massaker, München 2000).

Im Fall der – zumindest in Deutschland – immer noch schwelenden Kritik am Kosovo-Krieg ist es gerade umgekehrt: Wer diesem Krieg Sinn und Legitimation absprechen will, muss die Bilder einer ungeheuerlichen Massenvertreibung irgendwie entwerten, relativieren oder – unmögliches Kunststück – verschwinden lassen.

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Zeitschrift Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur.

Kühl-Verlag (Frankfurt/Main)

Ausgabe April 2001 (19. Jg., Heft 4/2001)