Politische Kultur in Deutschland

Reideologisierung der Gesellschaft oder die Simulierung des Politischen

Dietrich Englert

Der Kanzler, ein Verbrecher, der sich nicht an die eigenen Wahlversprechen hält; der Außenminister, ein gewalttätiger Ex-Sponti, der in seinem Amt untragbar sein soll; der Umweltminister, ein geheimer Sympathisant des Terrorismus; schließlich eine ganze Generation am Pranger, wegen ihrer vermeintlich gewalttätigen Vergangenheit. Wenn man sich dieses von den Oppositionsstrategen erdachte Szenario anschaut, so ergibt sich daraus nur ein zwingender Schluss: Die Opposition hat es nicht leicht, Aufmerksamkeit zu erlangen. Jüngst hat es ihr der Umweltminister allerdings erleichtert.

Ohne Zweifel, die Rolle der Opposition ist undankbar. Die anderen, die Regierungsvertreterinnen und -vertreter stehen im Licht, und die im Dunkel sieht man bekanntlich nicht. Diese Entwicklung aber ist erstaunlich, wenn man sich das Regierungshandeln betrachtet. Die Erfolge in der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sind bescheiden. Die Rentenfrage ist weiterhin offen. Das Gesundheitswesen bleibt ein dauernder Unruheherd. Von der BSE-Krise gar nicht zu reden. Doch alle diese Themen werden von der Opposition nicht ernsthaft öffentlich diskutiert, geschweige denn werden alternative Lösungsvorschläge präsentiert. Stattdessen inszeniert man Skandale, um die eigenen Themen auf die politische Agenda zu bringen. Damit setzt die CDU eine Politik fort, die sie in Regierungsverantwortung unter ihrem großen Vorsitzenden jahrelang erfolgreich gepflegt hat.

Diese Politik ist gekennzeichnet durch eine enorme Ignoranz für gesellschaftliche Sachverhalte und Problemlagen. Statt Themen aus der Gesellschaft aufzunehmen, werden im Rahmen dieser politischen Sichtweise eigene Themen inszeniert und auf die Gesellschaft übertragen. Die momentane Strategie folgt diesem Schema. Statt sich mit Sachthemen zu profilieren, werden politische Gegner auf der persönlichen Ebene diffamiert, um ihnen politisch zu schaden. Diese Kampagnen folgen dem Muster der Ausgrenzung, das der Union in der Vergangenheit beachtliche politische Erfolge beschert hat und die Bundesrepublik in den Neunzigerjahren geprägt hat.

Im Nachkriegsdeutschland beginnt die öffentliche Diffamierung des politischen Gegners mit der Spiegel-Affäre 1962. Die Logik ist ziemlich einfach und hat bis heute Bestand. Der politische Widersacher wird nicht als gleichberechtigter Partner im politischen Wettstreit verstanden, sondern als ein Feind im politischen Kampf. Die eigene Position wird als die einzig legitime Sicht- und Handlungsweise dargestellt, alle anderen sind potenziell staatsfeindlich und dürfen mit allen zur Verfügung stehenden Mittel bekämpft werden. Eine Relativierung der eigenen Position anhand einer sachlichen und problembezogenen Debatte unterbleibt.

In den sechzehn Regierungsjahren von Kohl hat sich ein Politikverständnis verfestig, das nur rhetorisch zwischen den eigenen Interessen und den Interessen des Staates oder der Allgemeinheit unterscheidet. Faktisch wurden die Interessen in eins gesetzt. Die Aktenvernichtung im Kanzleramt ist dafür sichtbarster Ausdruck. Die Kampagnen gegen Bundeskanzler Schröder, Außenminister Fischer und Umweltminister Trittin sind das jüngste Zeichen für ein Fortbestehen dieses fundamentalistischen Politikverständnisses. Es folgt dem beschriebenen Muster inhaltlich, der politische Gegner wird diffamiert, er ist auf eine Stufe zu stellen mit Verbrechern, zudem zeigt sich ein Unverständnis gegenüber der Trennung zwischen Amt und Person. Die Möglichkeit der Schädigung des Amtes wird nicht in Erwägung gezogen.

Dieser Politikstil ist auch innerhalb der SPD und der Grünen ein beliebtes Mittel parteiintern Gegner auszuschalten. Besonders die Auseinandersetzungen um den Kosovo-Krieg haben einer solchen "ideologischen" Sicht Vorschub geleistet. Angesichts aktueller Probleme beginnt man sich im Regierungslager jedoch wieder auf einen pragmatischeren Stil zu besinnen (wenn man von Trittins Steilvorlage für die CDU einmal absieht).

Nicht so in der CDU. Innerhalb der konservativen Strömung gibt es offensichtlich Gruppierungen, die an einer Re-ideologisierung der Gesellschaft arbeiten. Das heißt, die eigene Weltsicht soll den öffentlichen Diskurs über Probleme und Handlungsweisen ersetzen. Unter Kanzler Kohl hat eine solche Strategie in Bezug auf den Umgang mit Ausländern und dem Selbstverständnis der Deutschen bereits verheerende Erfolge gehabt. Der Soziologe Thomas Herz spricht in diesem Zusammenhang von "einer Veränderung der Basiserzählung ..., derjenigen Narration, die Herrschaftsbeziehungen in der Bundesrepublik und in Deutschland legitimiert" (Herz 1995). Nach seiner Analyse stellen die verschiedensten Akteure ihre Handlungen zunehmend in den historischen Kontext des Nationalsozialismus.

Die Verschiebung in der grundlegenden Legitimationsweise wird begleitet von einem veränderten Diskurs über Asyl und über Fremde. Aufgrund der persönlichen Erfahrung vieler Parlamentarier mit der Asyl-Willkür anderer Staaten während des Naziregimes galt das Asylrecht lange als unumstößlich. Das änderte sich vor allem durch eine starke Vermischung der Asyldebatte mit dem Diskurs über Fremde im Allgemeinen. Im Zuge dieser Vermischung ist es zu einer Stigmatisierung einer spezifischen Personengruppe gekommen, die als Projektionsfläche für (alle) gesellschaftlichen Probleme herhalten muss(te) – die Ausländer/-innen.

Die "Erfindung" der Tatverdächtigenstatistik, die zwischen Deutschen und Nicht-Deutschen unterscheidet, ist der institutionalisierte Ausdruck dieser Stigmatisierung, zumal ein differenzierter Umgang fehlt. Die Statistik hält einer Prüfung nicht stand, weil sie erstens nur Verdachtsfälle erfasst, folglich über den tatsächlichen Anteil von Nicht-Deutschen an Straftaten nichts aussagt. Zweitens entstehen um so genannte Ausländer eine Reihe von Straftatbeständen, die nur von ihnen erfüllt werden können. Die gesetzlichen Regelungen verstärken folglich noch den Diskurs über das "gefährliche" Fremde, ohne dass die suggerierte Gefährdung tatsächlich besteht.

So erhielt das Fremde dauerhaft den Status des Bedrohlichen. Schließlich konnten die Ausländer in der öffentlichen Debatte für alle Probleme (Arbeitslosigkeit, Zusammenbruch der sozialen Sicherungssysteme usw.) verantwortlich gemacht werden. Andere Ursachen wurden schlicht ignoriert, was zu einem zunehmenden Problemstau in den Neunzigerjahren geführt hat. Eine unangemessene Problemdefinition – Ausländer sind schuld an der deutschen Misere – führt in der Regel auch zu unangemessenen Handlungsweisen. Dass viele Probleme der Neunzigerjahre mit einer verfehlten Vereinigungspolitik zu tun haben, wird bis heute kaum thematisiert.(1)

Am Beispiel der Landtagswahl in Hessen 1999 wird deutlich, wie sehr sich diese Sicht inzwischen verfestigt hat und als Mittel in der politischen Auseinandersetzung instrumentalisiert werden kann. Nicht zuletzt mit Hilfe einer Kampagne gegen Ausländer gelang es Koch, aus dem Schatten von Eichel herauszutreten und die Wahlen für sich zu entscheiden. Damit zog die CDU nicht nur in den Frankfurter Landtag ein, gleichzeitig ging für die Berliner Regierungskoalition die Bundesratsmehrheit verloren. Wichtige Reformen des Staatsbürgerschaftsrecht konnten so verzögert oder verhindert werden.

Einfache Weltbilder und politische Entscheidungen hinter verschlossenen Türen sind wesentliche Merkmale dieser Form der Politik. Die undurchsichtige Entscheidungsfindung geht dabei einher mit einer Zunahme von PR-Aktivitäten. Die Entscheidungen müssen schließlich an ein Publikum vermittelt werden, das, wie in einem großen Theater, zwar nicht den Gang der Handlung beeinflussen kann, aber zumindest gut unterhalten werden will. Öffentliche Auseinandersetzung um politische Inhalte ist in dieser Form des politischen Theaters nicht vorgesehen.

Eine solche Strategie ist folglich sehr kostspielig und verschlingt eine Unmenge personeller Ressourcen. Eine Vernetzung mit anderen Bereichen der Gesellschaft, vor allem mit Akteuren der Medien und der Wirtschaft, aber auch mit der Wissenschaft und Kultur, ist für den Erfolg unerlässlich. Da die CDU auf der Bundesebene nicht mehr die Regierung stellt, hat sie an Anziehungskraft eingebüßt. Darüber hinaus kann sie ihre Vorstellungen nicht in offizielles Regierungshandeln umsetzen und verfügt nicht mehr über nahezu unbegrenzte materielle Ressourcen. Dazu kommt, dass die Parteielite zu sehr mit internen Kämpfen beschäftigt ist, um an einer<D> Strategie festzuhalten. Bei ersten Anzeichen von öffentlichem Widerstand beginnen schon Absetzbewegungen, wie im Falle der "Rentenlügen" deutlich geworden ist.

Die Strategie lässt sich als "Reideologisierung" der Gesellschaft bezeichnen. Mit Hilfe einfacher Unterscheidungen auf der Grundlage von Wahr (gut) und Falsch (böse) werden Erklärungsmuster bereitgestellt, die einen pragmatischen Umgang mit aktuellen Problemen, der auf dem Austausch verschiedener Meinungen und Sichtweisen beruht, verhindern. Wahrhaftigkeit von Politikerinnen und Politikern ist wünschenswert. Das Kriterium der Wahrheit ist politischen Angelegenheiten jedoch nicht angemessen. Wenn es nämlich nur eine Wahrheit gibt, also nur eine richtige Sicht der Dinge und folglich auch nur eine richtige Handlungsstrategie, verkommt Politik zur Durchsetzung eben dieser Weltsicht auf Kosten aller anderer. Meinungsstreit und inhaltliche Auseinandersetzungen unterbleiben, die Form der Präsentation wird zum entscheidenden politischen Kriterium.

Oft wird die Mediendemokratie bemüht, um die Inhaltslosigkeit der Politik zu erklären. In dieser Sichtweise scheint die Struktur der Medien den politischen Akteuren die Inhalte vorzugeben. Die verschiedenen Formate lassen, so wird behauptet, inhaltliche Auseinandersetzungen nicht mehr zu. Im Zuge dieser Entwicklung verliert die Opposition zunehmend an Einfluss, weil sie sich über inhaltliche Differenzen nicht mehr profilieren kann.

Diese Argumentation ist wenig überzeugend: Ohne Zweifel ist die Politik heute viel stärker als noch vor einigen Jahren auf die öffentlich erfolgreiche Präsentation ihrer Vorhaben und Ergebnisse angewiesen. Welche Themen – darin sieht etwa Müller (1998) eine wesentliche Machtverschiebung von den Parteien zu den Medien – diskutiert werden und Entscheidungen beeinflussen, wird von Medien bestimmt. Dass der Zwang zur medialen Codierung von Themen aber die Inhalte derart zurückdrängen konnte, ist eher dem Kalkül der politischen Akteure geschuldet, Auseinandersetzungen zu vermeiden und ein stromlinienförmiges Erscheinungsbild zu bedienen. Der vermeintlich strukturelle oder natürliche Zwang der Mediendemokratie beruht auf der Vorstellung, dass nur der politischen Erfolg hat, dessen Profil in alle Richtungen gedreht und gewendet werden kann.

Dieses Kalkül ist Ausdruck einer politischen Kultur, die vor allem auf die Durchsetzung der eigenen partikularen Interessen gerichtet ist, die als solche verschleiert werden müssen. Politik wird als Folge dieser Entwicklung zunehmend virtuell. Auf der einen Seite gibt es öffentliche Auftritte, Anhörungen, Diskussionen ohne realen Bezug. Auf der anderen Seite werden nur noch Probleme bearbeitet, die man selbst inszeniert hat. Treten Probleme außerhalb des Systems auf, kommt die Politik in erhebliche Schwierigkeiten – wie Klimaveränderung, Vereinigung, Arbeitslosigkeit, Gesundheitssystem und BSE zeigen. Im Zuge dieser Kultur werden diskursive Auseinandersetzungen in der Sache als politische Schwäche angesehen und öffentliche Angelegenheiten zunehmend simuliert.

Das System Kohl verkörperte dieses Politikverständnis nahezu in Reinkultur. Innerhalb der Opposition hat die Gruppe aus diesem Lager weiterhin erheblichen Einfluss. Bisher gibt es wenige Anzeichen dafür, dass sich an der Kampagnen-Kultur grundlegend etwas ändert. Der Kosovo-Krieg hat gezeigt, dass auch die aktuelle Regierung manipulative Mittel einsetzt, um die Öffentlichkeit für die eigenen Interessen zu vereinnahmen. Es mag vielleicht paradox klingen, aber vielleicht tragen BSE-Krise und andere aktuelle Probleme, die aus der Gesellschaft kommen, doch zu einer Umorientierung der Politik bei. Die Veränderung der politischen Kultur weg von Interessendurchsetzung hin zu einem problembezogenen Pragmatismus braucht aber vor allem eins, was das politische Tagesgeschäft nicht bereithält, sie braucht Zeit.

Anmerkungen:

1 Wie weit die Umdeutung tatsächlicher Verantwortlichkeit gehen kann, zeigt folgender Abschnitt aus der FAZ (25.8.92). Nicht die angreifenden Rechtsradikalen werden für ihre Tat, den Überfall auf ein Asylbewerberheim in Rostock, verantwortlich gemacht, sondern eine unzureichende Abschottungspolitik: "Wird ein Anteil von fremdartigen, sich an die Sitten des Landes nicht einmal ansatzweise anpassenden Zuwanderern erreicht, die zudem in ihrer großen Mehrheit den Namen Asylbewerber nicht verdienen, und schafft es der Staat nicht, solche Leute nach kurzer Zeit abzuschieben oder besser gar nicht erst ins Land zu lassen, gibt es Eruptionen bei einer Bevölkerung, die selbst innerlich Asyl suchen möchte auf einer sozialistischen Insel der seligen Sicherheit" ("Zwischen den Fronten" von fr. [Friedrich Karl Fromme], zitiert nach Herz 1995.)

Literatur:

Herz, Thomas (1995): Die "Basiserzählung" und die NS-Vergangenheit. Zur Veränderung der politischen Kultur in Deutschland; in: Lars Clausen (Hg.), Gesellschaft im Umbruch, Verhandlungen des 27. Soziologentages

Müller, Albrecht (1998): Von der Parteiendemokratie zur Mediendemokratie, Opladen

 

 

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Zeitschrift Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur.

Kühl-Verlag (Frankfurt/Main)

Ausgabe April 2001 (19. Jg., Heft 4/2001)