Man kann so regieren!

Antworten auf Joachim Raschkes Kritik der Grünen

Herbert Hönigsberger

Das Motto des neuen Buches von Joachim Raschke über die Grünen ("So kann man nicht regieren") wird täglich praktisch widerlegt. Natürlich kann man. Aber: Wie lange geht das gut und wann ist Schluss?

Wenn nur die Hälfte dessen stimmt, was ihnen der Hofpolitologe vorhält (1), haben die Grünen eine harte Nuss zu knacken. Gleichwohl sticht die Differenz ins Auge zwischen der Partei, die in Raschkes Langzeitstudie auf den Abgrund zudonnert, und der Momentaufnahme der frohgemuten Schar, die sich auf der Bundesdelegiertenkonferenz Anfang März präsentierte. Die professionellen "Greenwatchers" haben die Stuttgarter Versammlung ob ihrer bemühten Geschlossenheit und der Delegiertenstreiche zu Asyl und Mandatsrückgabe für Minister zwar mit einiger Ironie überzogen. Aber Sprengsätze für die Koalition konnten sie nicht entdecken.

Raschke schreibt über die "aktuelle Misere" und das "mögliche Ableben" seines Forschungsgegenstands aus einem pessimistischen Blickwinkel. Was bei den Grünen danebengeht, hat er fest im Visier. Das ist nicht wenig und oft wahr. Aber es trübt den Blick für den Sinn grüner Strukturexperimente. Deren Funktionalität erschließt sich durch einen Perspektivwechsel: Man kann die grüne Geschichte auch als Erfolgsstory lesen. Immerhin hat diese Partei in 20 Jahren aus einem disparaten Haufen wilder Ideologen, aus einem konfusen Konglomerat außer- und antiparlamentarischer Betroffener und Bewegter eine handlungsfähige Regierungstruppe im drittgrößten Industriestaat der Welt geformt. Die Grünen haben eine Serie harter Schnitte und Mutationen überstanden, die geschmähte Basis steht seit 1998 dem Regieren nie wirklich im Wege. Die Partei hat das Gesetz des "They never come back" bei Bundestagswahlen durchbrochen, sie präsentiert trotz Personalrotation und Elitenverschleiß immer noch ein erstaunliches Personalangebot. Sie steht trotz des Verlustes von Landesämtern und Landtagsmandaten auf dem Gipfel ihrer Macht- und Prachtentfaltung. Irgendwas muss an dem Laden dran sein.

Aber irgendwann muss vor allem Fischer enttäuscht haben, der "richtige Mann am falschen Platz". Der Europapolitiker wird ebenso unterschätzt wie die Rückwirkung der Ausstrahlung des Repräsentanten eines neuen Deutschland außen auf die weltoffenen Wähler innen. Und der "Fischerismus" ist mit "Alleinherrschaft" und "semi-demokratischer Steuerungsvariante" auch nicht voll entschlüsselt. Wenn schon steht er auch für die breite Abarbeitung linker Irrtümer, die Einführung des Realitätsprinzips, den innerparteilichen "Burgfrieden", die Erschließung der Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik und die Reorganisation der Fraktion als konzeptionelles Zentrum in der Opposition, schließlich für zwei so schlichte wie schlagende Maximen in der Regierung: Nicht gegen den Kanzler, kein Chaos!

Fehlt den Grünen ein strategisches Zentrum? Eher fehlt es an Strategen, vor allem an Strategie, gewiss an subjektiver wie objektiver Strategiefähigkeit. Aber dieses Defizit teilen die Grünen mit anderen Akteuren. Die komplexe Welt entzieht sich dem harten "strategischen" Zugriff, sie überfordert zunehmend die Steuerungspotenziale der Politik. Erst recht überlastet sie politische Kleinformationen. Die Empfehlung, drei bis fünf Grüne sollten ein strategisches Zentrum bilden, um ein "Führungsvakuum" zu füllen, ist zudem für eine Partei berstender Egos mit antiautoritären Reflexen etwas befremdlich. Wo sich jeder Amtsträger für den geborenen Strategen und seine Clique für ein strategisches Zentrum hält, erscheint der Versuch einer Balance sich selbst steuernder operativer Einheiten aussichtsreicher als zentrale Steuerung. Immerhin sind die etwa 60 agierenden grünen Koalitionäre mittlerweile so weit koordiniert, dass viele Regierungsgeschäfte unauffällig laufen. Einige verfügen über erfahrungsbasierte strategische Intuition und bedienen sich mehr oder weniger dauerhafter Agenturen für Ad-hoc-Arrangements, die die entscheidenden formellen Strukturen (Bundesvorstand, Fraktion, Koalitionsausschuss, Parteirat, Länderrat) durchdringen. Konstruiert man den aktiven, interventionistischen, auf Effekte zielenden Strategiebegriff ein wenig um in einen weicheren, passiven, der auf schmiegsames Einfädeln in Trends und auf situative Potenziale setzt (2), erscheint das Anarchiemanagement der Grünen in einem anderen Licht. Die Kritik der "Strömungen" unterschätzt deren Funktionalität ebenso. Die grünen "Clan-Strukturen" sind eine Form, in der sich Ideologen und Pragmatiker bewegen können. (3) Die hochfragmentierten Grünen hätten ihre Frühgeschichte ohne ihre Fundis und Realos nicht überstanden. Sie haben die Auseinandersetzungen in der Partei übersichtlicher gestaltet und viele Klärungsprozesse in Vorfelddebatten arrangiert. Die Strömungskonkurrenz hat Lernprozesse stimuliert, in denen das Verhältnis von Bewegung und Partei, von außerparlamentarischer Opposition und Regierungsbeteiligung, von analytischer Systemskepsis und pragmatischen Politikkonzepten abgearbeitet wurde. Als "Orientierungsgemeinschaften, Machtagenturen und Personalrekrutierungspoole" erfüllen die Strömungen immerhin wesentliche allgemeine Parteifunktionen. Dass sie keine "Ideenagenturen, Diskursgemeinschaften, Think-tanks für Problemlösungen" (4) sind, teilen sie mit den Parteien insgesamt. Immer schon haben die Strömungen – wenngleich nur in nuce und nie wirklich ausgeprägt – auch sichtbar gemacht, dass neue innerparteiliche Funktionsdifferenzierungen erforderlich werden könnten. Wenn Regieren immer mehr von Ad-hoc-Entscheidungen, kurzfristigem Interventionismus und Klientelismus geprägt wird, wächst der Bedarf an grundlegenden Wertorientierungen und weiterreichenden Konzepten, die politischem Handeln Horizonte öffnen. Man muss Vorschläge zur Renaissance der Grünen als "wachstumskritische und reflektiert kulturrevolutionäre Partei", die "transformatorischen Willen" (5) bündelt, nicht teilen. Aber Diskurse zu organisieren, die das politische Alltagshandeln überschreiten, könnte auch heute Funktion eines Flügels dieser Partei sein. Regierungshandeln und wertorientierte, perspektivische programmatische Orientierung in Doppelspitzen, Strömungen, getrennten Ämtern und Mandaten organisatorisch und personell zu differenzieren, ist vielleicht sogar zukunftsweisend – wenn diese Struktur flexibel und undogmatisch gehandhabt und verhindert wird, dass beide "Projekte" auseinander driften. Mit Kuhn und Roth unternehmen die Grünen einen neuen Anlauf, die Doppelfunktion und Integrationsaufgabe von Parteien zu personifizieren.

Problem der Grünen ist, dass der funktionale Sinn der selbsterzeugten Struktur oft unbegriffen bleibt und kaum handlungsleitend wirkt. Ursache dafür ist auch der Mangel an sozialwissenschaftlicher Aufklärung. Deshalb ist den Grünen nahe gelegt worden, Partei von "Experten für politische Rationalitätsgewinne" zu werden und endlich die Ergebnisse moderner Politik-Forschung zu rezipieren. (6) Das hat ihnen das Kanzleramt voraus.

Sozialwissenschaftliche Aufklärung könnte auch bei der Bearbeitung der programmatischen Dilemmata helfen. Eine eindeutige Profilierung auf der "öko-libertären" Dimension des politischen Koordinatensystems kann zu Lasten von Mainstream-Wählern gehen, während eine stärkere Annäherung an Mainstream-Positionen grüne Traditionswähler abstößt. "Weder eine forcierte Links- noch eine dezidierte Mittestrategie" hilft beim Wähler wirklich weiter, vielleicht aber eine breit gefächerte und mehrdimensionale Programmatik, die spezifische Teilaspekte des politischen Koordinatensystems zwischen Markt und Gerechtigkeit abdeckt. (7) Ein operativer Vorschlag hierzu ist, "den schon einmal gewonnenen Wählern nahe zu bleiben" (8) Die Absicht des Bundesvorstandes, in der Programmdebatte nicht von einem gemeinsamen Weltbild, sondern von einem "Kreis von Grundwerten" (9) auszugehen (Freiheit, Gerechtigkeit, Demokratie, Gleichberechtigung, Solidarität, Frieden), diesen grün einzufärben und zu mischen, erscheint also plausibel.

Diesem Werteeklektizismus hat Axel Honneth (siehe S. 6) den Vorschlag entgegengesetzt, die Grünen sollten ihren ökologischen, den zivilgesellschaftlichen und den bürgerrechtlichen Ansatz durch einen zeitgemäßen, radikalisierten und erweiterten Gerechtigkeitsbegriff überwölben. Dieser soll die Komplexe einschließen, um die die Grünen die politische Agenda bereichert haben: das gesellschaftliche Naturverhältnis, den kulturellen Pluralismus sowie Ansprüche künftiger Generationen. Kern des neuen Gerechtigkeitskonzeptes ist die Integrität von sozialen Lebensformen. Gerecht ist, was jedem "einzelnen Mitglied unserer Gesellschaft in Kooperation mit anderen erlaubt, seine Lebensziele in größtmöglicher Autonomie zu verwirklichen". Als Maßstab für Gerechtigkeit gilt nicht vorrangig "die Chancengleichheit im engen Sinn, sondern die Integrität der gesellschaftlichen Lebensform im Ganzen". Mit einem anderen Vorspann könnte der Vorschlag auch einem SPD-Parteitag unterbreitet werden. Er liefert weniger eine programmatische Orientierung für die Grünen als den Überbau und das geistige Scharnier für die Koalition. Die Identitäts-, Integrations- und Profilierungsprobleme der Grünen löst die "neue Gerechtigkeit" nicht. Auch und gerade auf der allerallgemeinsten Werteebene, die die unauflösbaren Gemeinsamkeiten stiften soll, muss eine Partei in der Parteienkonkurrenz unterscheidbar bleiben. Der Vorschlag macht vielmehr deutlich, wie die Grünen der modernisierten sozialdemokratischen Familie zugeschlagen werden und auf mittlere Sicht auch einer aufgemöbelten sozialistischen Internationale beitreten könnten.

Am härtesten trifft die Grünen Raschkes Vorwurf, es fehle ihnen an einer "realitätsnahen Erwartungssteuerung", an Kommunikation über "versprochen und gehalten". "Nicht für die Ergebnisse der Regierungspolitik, aber für die Steuerung der Erwartungen sind die Grünen uneingeschränkt selbst verantwortlich." Ihre Glaubwürdigkeitsprobleme "resultieren aus der Kluft zwischen überzogenen Forderungen oder Erwartungen und den tatsächlichen bescheidenen Erfolgen der Regierungsarbeit. Sie produzieren die Enttäuschungen selbst" (10). Über diese Kluft wird durch unmotiviertes Erfolgsgetöse hinweggedröhnt. Stattdessen wäre eine differenzierte Metakommunikation über die Bedingungen politischen Handelns angebracht. Da helfen Einsichten über Charakter- und Professionalitätsdefizite handelnder Personen (11) oder die Schwächen von Struktur und Organisation nur bedingt. Voran käme man mit dem Verweis auf das Wahlergebnis, fehlende Pressionsmöglichkeiten mangels Koalitionsalternative, die Stärke des Koalitionspartners und den Imperativ Chaosvermeidung, weiter noch mit Rezeption und Popularisierung der Governance-Forschung der letzten zehn Jahre. (12)

Im Kontext allgemeiner Parteientheorien wird die Analyse der prämortalen Phase der Grünen allerdings relativiert, wenngleich nicht entdramatisiert. "Entkernt, ermattet, ziellos, kraftlos", so ein Generalverriss der Parteien. Sie alle gelten als "labil, leichgewichtig, mehr als Getriebene denn als politische Antreiber, ohne Ethos, ohne Programmatiker". Und sie führen "keine scharfen Kontroversen in profilierten Flügeln mehr, in denen nachwachsende Eliten politische Härte und argumentative Schärfe gründlich lernen könnten" (Hört, hört!). Es gibt auch nicht mehr den "politischen Anführer, für den sich jugendliche Prätorianergarden begeistert schlagen". (13) Da stehen die Grünen mit ihren Flügeln, alten Leitfiguren und neuen Ikonen eher besser da als andere. Nur an jungen Prätorianern herrscht Mangel, in der Tat.

Das Ende wollte Raschke nicht festschreiben. Schwäche der Opposition, Leistungsbilanz der Bundesregierung und das Profil von Fischer und Künast könnten den Grünen 2002 nochmals in den Bundestag helfen. Die Programmpartei von ehedem, die sich ihrer "Besenstilkandidaturen" rühmte, zehrt nun vom Charisma einzelner Personen. Die große Krise kommt 2006. Dann dürfte die konzeptionelle Kraft und pragmatische Energie der tragenden Figuren durch die Regierungsarbeit endgültig erschöpft sein. Spätestens dann wird sich ein großer Teil derer, die die Grünen regierungsfähig gemacht haben, altershalber zurückziehen. Und der gehätschelte Parteinachwuchs, der von der Erfolgsstory profitiert, sie aber nicht produziert hat, ist 2006 noch jung genug, um die Politik zu verlassen. Auf die Verarbeitung der Niederlage und den Neuanfang aus der Opposition heraus erscheint er weder psychisch noch kognitiv vorbereitet. Dann wird sich zeigen, ob die Grünen mehr sind als ein Generationenprojekt.

Anmerkungen:

1 Joachim Raschke, Die Zukunft der Grünen, Frankfurt/Main 2001 (Raschke 1); ders., Sind die Grünen regierungsfähig? Die Selbstblockade einer Regierungspartei; in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 10/2001 (Raschke 2)

2 François Jullien, Über die Wirksamkeit, Berlin 1999.

3 Helmut Wiesenthal, Bündnisgrüne in der Lernkurve, in: Kommune 5/99.

4 Raschke 2, 24.

5 Hendrik Auhagen, Wozu eigentlich noch Grüne?, in: Kommune 1/01.

6 Wiesenthal, a. a. O.

7 Raschke 2, 27 f.

8 Wiesenthal a. a. O.

9 Grüne Grundwerte und Grünes Selbstverständnis – fünf Thesen. Antrag des Bundesvorstandes zur 16. Ordentlichen Bundesdelegiertenkonferenz.

10 Raschke 1, 141, vgl. auch 109 und 143 ff.

11 Raschke 1, 143 ff., 386 ff.

12 Wiesenthal a. a. O.

13 Franz Walter, Die deutschen Parteien: Entkernt, ermattet, ziellos, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 10/2001.

 

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Zeitschrift Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur.

Kühl-Verlag (Frankfurt/Main)

Ausgabe April 2001 (19. Jg., Heft 4/2001)