Wozu sind die Grünen noch da?

Nicht nur über das Abseits grüner Sozialpolitik

Michael Opielka

Seit mehr als zwei Jahren haben die Grünen das Ziel erreicht: Sie regieren den Bund, stellen den Vizekanzler, Bundesminister, gestalten Politik mit. Aber: Was haben sie sonst erreicht – und was werden sie aller Voraussicht nach noch erreichen?

Ein Ziel der Grünen als Partei von konkreten Menschen mit weiten wie engen Interessen ist geschafft: Sie können lukrative Posten verteilen, Staatssekretäre, Abteilungsleiter, Regierungspräsidenten, Fraktionsvorsitzende. Sozialpolitisch betrachtet: Die Grünen entscheiden für immer mehr Personen über den sozialen Status, der einen Zugang zum obersten Zehntel der Einkommenspyramide erlaubt. Die Grünen können noch mehr: Sie vergeben Gutachten an Wissenschaftler oder veranlassen die Vergabe, sie bringen Einzelne auf Hochschulpräsidentenstühle und dienen – soweit es die Wissenschaft erlaubt – als Katalysator für Karrieren. Als Politiknetzwerk auch für niedere Instinkte sind die Grünen in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Das kann man begrüßen. Die Frage bleibt natürlich, ob sie auch als Netzwerk für die höheren Triebe dort angekommen sind.

Das lässt sich solide nur aus politisch-soziologischer Sicht beurteilen. Die entscheidende Frage, nach vielen Jahren Koalitionen in Landesregierungen und den ersten Jahren Bundesregierung, lautet natürlich: Was macht den Unterschied aus? Was haben die Grünen bisher erreicht – und was werden sie aller Voraussicht nach erreichen? Das gäbe Stoff für eine sorgfältige empirische Analyse: programmatische Ankündigungen, interne Diskurse, Erwartungen des Umfeldes einerseits – eine Evaluation des grünen Regierungshandelns andererseits. Einen ersten Versuch für die grüne Bundesmitregierung hat nun Joachim Raschke vorgelegt (Die Zukunft der Grünen, Campus 2001, siehe auch Seite 44). Seine Analyse fällt erschreckend realistisch aus: "So kann man nicht regieren", schreibt er. Das Buch ist für die Grünen sehr nützlich. Raschke hat vermutlich fast durchweg Recht, gerade auch dort, wo er grüne Funktionsträger hart kritisiert (vor allem Trittin, aber auch die beiden Fischers). Er wirft den Grünen vor allem vor, dass ihnen sowohl ein organisatorisches wie ein ideelles Zentrum fehlt. Das organisatorische Zentrum scheint dank Fritz Kuhn (und vielleicht künftig Claudia Roth, nicht zuletzt auch Reinhard Bütikofer) etwas Gestalt anzunehmen. Das ideelle Zentrum freilich ist noch ein Strömungsgrab. Auf dem Stuttgarter Bundesparteitag im März 2001 hat es der Frankfurter Sozialphilosoph Axel Honneth so formuliert: Den Grünen fehle "so gut wie jede weltanschauliche Substanz in Form von traditionsverbürgten Werten" (siehe S. 6). Was immer "traditionsverbürgt" heißen mag: Ohne Werteprofil kommt keine Partei aus. Parteien sind immer auch Wertegemeinschaften, wenn sie nicht zu Geld- und Machtgemeinschaften verkommen sollen. Parteiwerte sind politische Werte. Sie müssen sich auf politische Sachverhalte beziehen und an der politischen Praxis messen lassen. Ich möchte zwei Themen herausgreifen, ein bekanntes und ein unbekanntes.

Das bekannte Thema ist der grüne Star: Außenminister Joschka Fischer. Legen wir an ihn und damit an die grüne Außenpolitik den analytischen Maßstab: Was wurde anders durch die grüne Mitregierung? Anders ist ganz praktisch gemeint, als Differenzbegriff zu anderen Parteien. Sicherlich, ein Joschka Fischer wäre in keiner der drei etablierten Parteien zum Außenminister nominiert worden – dass der ehemalige grüne Fraktionssprecher Otto Schily ein sozialdemokratischer Innenminister wurde, entkräftet nicht die kulturelle Sperre der Sozialdemokratie gegen Fischers Kampfattitüde, die er noch immer pflegt ("Es muss ätzen, dann fühle ich mich wohl"). Gewiss, heute und nach dieser Karriere, fände vielleicht auch ein Joschka Fischer einen Ort in der Sozialdemokratie, er ist ja angekommen dort, wo die Genossen dank ihrem Parteitag in Bad Godesberg vor vierzig Jahren ebenfalls ankamen. Das ist viel wert. Die Grünen gelten auch dank ihm als staatstragend. Doch was ist das spezifisch Grüne an Fischers Außenpolitik? Offen gesprochen, mir fällt es nicht ein. Manche argumentieren dann vielleicht, das sei gar nicht so wichtig. Hauptsache, es werde "gute", vor allem "deutsche" Außenpolitik gemacht. Balkankrieg hin, Irakbeschuss her. Hauptsache der Weltfrieden sei gesichert, präziser: Für uns Europäer ist Ruhe. Hauptsache, Europa wird weiter einig, mit einem starken Deutschland mittendrin. Das und vieles weitaus Komplexere mögen ehrenwerte Ziele für eine deutsche Außenpolitik sein und Joschka Fischer mag zu ihrer Verwirklichung gekonnt beitragen. Nur was ist daran grün? Kannten wir solche Ziele nicht schon von Helmut Kohl? Fischer lernte die machiavellsche und schmittsche Technik der Politik: Politik als Kampf und Krieg. Er beherrscht nun die Beherrschung. Jetzt muss wieder gefragt werden: What for?

Das zweite Thema ist weniger bekannt und mit dem freiwilligen Ausscheiden von Andrea Fischer aus der Bundesregierung völlig im öffentlichen Abseits gelandet: die grüne Sozialpolitik. Fragen wir uns jeder selbst: Was hat die grüne Gesundheitsministerin gewollt, das einen Unterschied machte – gegenüber dem christsozialen Minister Seehofer zuvor und der sozialdemokratischen Ministerin Schmidt nach ihr? Sicher gab es da und dort einen grünen Akzent, zum Beispiel in einer etwas liberaleren Drogenpolitik. Doch Ähnliches bieten Sozialdemokraten auch und in anderen Ländern Europas Christdemokraten und Liberale. Das Konzept der Budgetierung zwecks Kostensenkung als grüne Sozialpolitikidentität zu verkaufen, ist Andrea Fischer nicht gelungen und es konnte auch nicht gelingen, Nachhaltigkeitsrede hin oder her. Ihr Versuch, in zarten Andeutungen ganzheitliche Heilverfahren sozialpolitisch zu sichern, ist eher ein klassisch-grüner Topos. Doch er blieb zart und öffentlich kaum wahrgenommen. Schließlich hat sie eine große Systemreform vorgeschlagen, die der bürgerrechtlichen Begründung der Grünen entsprach, nämlich eine Krankenversicherungsreform nach österreichischem Vorbild: die Richtung einer Volksversicherung, die alle Einkommensarten berücksichtigt und das Solidarsystem nicht mehr auf die Arbeitnehmergesellschaft beschränkt. Doch kaum äußerte sie in einem Interview diese längst überfällige Idee, wurde sie öffentlich angegriffen, dementierte alsbald – und tat nichts, um im Hintergrund, per Expertenkommission, öffentlichen Diskurs oder sonst wie ihre Systemreform zu befördern. Nun hat sie das Handtuch geworfen, Platz gemacht für Renate Künast als Verbraucherministerin. Sie scheint es zu schaffen, grüne Identität auszudrücken, das, was dem Umweltminister Trittin gründlich misslang, mit der Kombination von Keckheit, Sozialarbeit und Rechtskenntnisse.

Was fällt uns sonst noch ein, wenn wir an grüne Sozialpolitik denken und gleichzeitig auf Bundesregierung und grüne Partei blicken? In der Tagespolitik mischt man mit. Doch daran erinnert man sich meist nur kurz. Neu scheint: Die Grünen haben das Sparen entdeckt. Sozialpolitik als Beitrag zur Haushaltskonsolidierung. Das hätte man bei Gründung der Grünen vor 20 Jahren noch nicht erwartet. Heute nennt sich so etwas "Nachhaltigkeit". Keine Schulden machen auf Kosten der Künftigen. Wir haben die Erde nur von unseren Kindern geborgt. Doch was hat das damit zu tun, ob man die Erbschaftssteuer reduziert, die Vermögenssteuer nicht wieder einführt, ob man eine privatisierende Rentenreform fördert, die vor allem die Kapital- und Lebensversicherungsgesellschaften subventioniert? Was ist daran nachhaltig, was ist daran grün? Der grünen Bundestagsfraktion mögen solche Fragen zu intellektuell erscheinen. Aber was spricht gegen Intelligenz? Gibt es denn nichts Positives, irgendeine Gestaltungsidee in der Sozialpolitik – weit gefasst: mit Gesundheits- und Arbeitsmarktpolitik –, für die die Grünen vielleicht nicht allein, aber doch vor allem stehen? Mir fällt sie nicht ein. Was einmal als grüne Idee reüssierte, haben andere Parteien teils gekonnter integriert – zum Beispiel die Forderung nach Förderung des freiwilligen Engagements, der Bürgergesellschaft "von unten" – oder die Grünen haben die Diskussionen vergessen – zum Beispiel die Forderung nach einer Grundrente, die Diskussion um eine Erweiterung des Arbeitsbegriffs, um Grundeinkommen, um neue Balancen zwischen Rechten und Pflichten, um eine Bürgergesellschaft, die auch den Schwachen den Bürgerstatus sichert und so weiter.

Wozu sind die Grünen noch da? Das war die Eingangsfrage. Der Unterschied zu mit und ohne Grün reduziert sich, nüchtern betrachtet, auf ein Versorgungssystem für grüne Karrieren und Kader. Die Leitideen sind abgewetzt. Das Personal ist ängstlich. Und dabei sind die sozialen und ökologischen Probleme weder hierzulande, noch weniger weltweit gelöst. Gibt es denn gar keinen Sinn für die Grünen in der Zukunft? Vielleicht sind sie dazu da, dass noch öffentliche Diskussionen geführt werden über die Gestaltbarkeit von Gesellschaft, über die Demokratie, über den Anfang der Gesellschaft im Einzelnen und ihre Gemeinschaften. Die Grünen als der politische Ausdruck einer individualisierten, riskanten Gesellschaft, die sich nicht aufgibt, die sich selbst gestalten will, und die dazu kommunizieren muss, offen, streitbar. Das war die Hoffnung.

Und hier liegt vielleicht das größte Problem der Grünen. Sie sind eine gespaltene Partei. Der Strömungsfluch dauert bis heute. Es fehlt ein Zentrum, eine Mitte, die sich nicht nur über Machtfragen und innerparteiliches Duckmäusertum definiert, sondern über praktische Werte. Dabei stehen die Chancen dafür heute besser denn je. Dass beinahe alle Führungspositionen in den Händen von Schwaben liegen (Kuhn, Roth, Schlauch, Bütikofer), könnte helfen. Der Schwabe neigt zum Pragmatischen und weiß doch seit Hegel, Hölderlin und Co., wie hilfreich der weite Blick ist. Von Tübingen nach Berlin, das gelang schon Hegel. "Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig", heißt es in der Vorrede zu seiner Philosophie des Rechts. Die Kunst liegt darin, das Vernünftige zu entdecken, damit es wirklich wird – und damit die Wirklichkeit zur Vernunft kommt. Für die Grünen steht wohl ihr Godesberg an – doch kaum in einer Imitation des sozialdemokratischen Weges. Sie werden ihren eigenen Weg erkennen müssen, eine gesellschaftspolitische Vision, die Ökologie und soziale Gerechtigkeit vermittelt.

Das ist auch Joachim Raschkes These: Der "sozial-ökologische Gesellschaftsvertrag" (im ersten Ansatz noch im Bundestagswahlprogramm von 1994 formuliert, seitdem verschollen) "ist das einzige ausgearbeitete Konzept mit übergreifender Idee, Werteverknüpfung, Projektzuordnung und abgrenzbaren Zielgruppen, das die Grünen hervorgebracht haben. Darin zusammengebunden sind die beiden grünen Zentralwerte der Ökologie und der sozialen Gerechtigkeit, ebenso die Interessen der eigenen, sozial privilegierten Anhängerschaft mit denen des unteren Drittels der Gesellschaft" (Die Zukunft der Grünen, S. 80). Dafür bürgen alte und neue Traditionen. Die alten Traditionen finden sich zum Beispiel in den konkreten Sozialvisionen, für die der Soziologe Claus Offe den Begriff "Garantismus" geprägt hat: Statt wie die Liberalen den Markt, wie die Sozialdemokraten den Staat oder wie die Konservativen die hergebrachten Gemeinschaften (Familie und Nation) zu fetischisieren, stehen die Grünen für  Individualität-in-Gemeinschaft, für eine Gesellschaft, die jedem Individuum die Chancen für die Entwicklung seiner Individualität garantiert. Das erfordert große Sozialreformen und eine mentale Abwendung vom schwarz-rot-blauen Nachkriegskonsens, zumindest seine signifikante Erweiterung. Gerechtigkeit in grüner Perspektive ist Einzelfallgerechtigkeit. Darin sind die Grünen libertär.

Das passt mit dem zweiten Leitmotiv der Ökologie gut zusammen. Denn Ökologie beginnt beim Einzelnen. In Frankreich oder in Österreich waren es keine grünen Minister, die dafür sorgten, dass der Ökolandbau das Drei- bis Vierfache der deutschen Flächen- und Produktionsanteile erobert hat. Das erreichten initiative Menschen und kluge Verbände. Trotz Renate Künast und Bärbel Höhn: Eine Ökologisierung Deutschlands wird es eher neben als mit den Grünen geben, solange sich die parteigrüne Ökologie auf Alarmismus und Krisenmanagement beschränkt. Solange die Grünen sich weigern, die Frage einer nachhaltigen Gesellschaft auf dem Intelligenzniveau zu bearbeiten, das Sozial- und andere Demokraten für ihr jeweiliges Werteprofil seit langem erreicht haben, bleibt das Ökologiethema ein Stoffstrom-, Technik- und schließlich Bürokratenthema. Trittin hat dies (was in Raschkes Buch gut herausgearbeitet wird) mit seinem zentralistischen Management des Atomkonsenses vorgeführt. Jetzt haben die Grünen dank BSE und Künast eine zweite Chance, die Menschen, ihre Initiativen und Organisationen, die Medien und die Wissenschaft "von unten" einzubinden.

Denn der Zusammenklang von Ökologie und sozialer Gerechtigkeit ist anspruchsvoll. Er erfordert Bildung. Und er fordert viel Kommunikation. In einer Mediengesellschaft ist Kommunikation ein professionelles Geschäft. Die weltweite ökologische Bewegung lebt von ihrer professionellen Kommunikation. Von ihr können die Grünen lernen. Auch dafür sind die Grünen noch da.

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Zeitschrift Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur.

Kühl-Verlag (Frankfurt/Main)

Ausgabe April 2001 (19. Jg., Heft 4/2001)