Bücherfenster (I):

Blutbäder und Liebesgeschichten

Joscha Schmierer

An Leichen herrscht in Kismet, dem neuen Kayankaya-Roman von Jakob Arjouni, kein Mangel. Für Frankfurt am Main sind es ein bisschen viel. Am Anfang stecken Kayankaya, der Privatdetektiv türkischer Abkunft, und sein Freund Slibulsky in einem Schrank und warten auf Schutzgelderpresser. Kayankaya glaubt Romario, dem Wirt des "Saudade" einen Gefallen zu schulden, weil der ihm in klammen Zeiten schon öfters ein Essen spendiert hat. Den Erpressern, Teil einer neu aufgetauchten und besonders grausamen Bande, soll ein Schreck eingejagt werden. Doch die Schutzgelderpresser schießen sofort und wenn Kayankaya und Slibulsky nicht verabredet hätten, im Falle eines Falles sofort auf die Köpfe zu schießen, hätte es gleich zu Anfang schlecht ausgehen können. Wie die beiden Helden aus dem Schrank trugen auch die Erpresser schusssichere Westen, die ihnen so allerdings nichts nützen.

Der Roman hat wie ein brutaler Comic-strip begonnen und so geht er weiter. Es wird geprügelt und geschossen, Kneipen werden in die Luft gejagt und zum guten Schluss gibt es einen Showdown zwischen Kroaten und Albanern mit großem Blutbad. Romario aber bekommt ein neues Lokal, einen Irish Pub diesmal. Bei der Einweihung trifft Kayankaya "Fräulein Kaugummi" wieder, die aber auf dem billigen Teppichboden nicht in die Knie gehen will, weil der Stichwunden verursachen könnte.

All das ist dürres Gerüst für die gelegentlich umwerfende Situationskomik und Arjounis Milieu angepasste Sprachartistik. Indem Arjouni realistischen Mustern zu folgen vorgibt, spielt er mit Vorurteilen. Da wendet sich der kroatisch stämmige Hessenwirt an seine Kumpane und klärt sie über den als Moslem geltenden Kayankaya auf: "Na, Bier dürfense ja nich. Messastechn, Weiba vakloppn und dit scheiß Drogenzeuch, dit dürfense. Aber ’n jeflechtet Bier, dit is nich drin bei Allah." Das Rechtschreibprogramm hat Arjouni durchgängig deaktiviert.

Sprachwitz und stilistische Eleganz, Charme und satirische Begabung ist Birgit Vanderbeke oft bestätigt worden, auch in der Kommune. Aber jedes dritte Buch ungefähr gerät ihr zur Pflichtübung, in der das Schicksal der geplagten Schriftstellerin mehr oder weniger direkt zum Thema wird und Verleger und Literaturagenten ihr Fett wegbekommen. Nach Ich will meinen Mord ist es jetzt mit abgehängt wieder so weit. Die Erzählerin plagt sich mit der Erinnerung an Eddy, den Partner ihres Lebensgefährten Serge. Sie haben zusammen Musik gemacht, sehr gute natürlich. Eddy ist tot und Serge ist unterwegs, die Schriftstellerin mit der Tochter zu Hause geblieben, wird von einem anonymen Anrufer belästigt.

Zwischen dem schwerfälligen Hin und Her bleibt etwas Platz für satirische Einsprengsel und kann sprachkritische Sensibilität an den Tag gelegt werden: "Hau doch ab und fick deine Katze, sagte einer von denen, die es (das Nazihabit) in der U-Bahn zum Flughafen trugen, und der, der abhauen und seine Katze ficken sollte, rempelte den, der den Vorschlag gemacht hatte, an und sagte, äi. Sie waren ein paar Jahre älter als Simmy. Simmy sagt auch äi. Äi wie in Didschäi, und es ist fast das einzige Wort, gegen das Serge allergisch ist, also sagt sie es nicht in Serges Gegenwart, während es ihr nicht so viel ausmacht, dass ich auch allergisch dagegen bin und regelmäßig sage, was heißt hier äi, wenn sie äi sagt. Ist ja schon gut, sagt sie dann. Der junge Mann in der U-Bahn hatte äi nicht so gesagt wie Simmy, bei der es manchmal heißt: ich bin da. Manchmal heißt es: Sei doch nicht so. Manchmal auch gute Idee, was Du eben hattest, oder in Ordnung, machen wir es so. Eben hieß es: Willst du Krach." Simmy ist die Tochter. Abgehängt wirkt in dem Bestreben überladen, eine Ahnung von vorübergehender Trennung und dauerndem Verlust, von laufender Gefährdung der Unangepassten zu vermitteln.

Die Titel von Sibylle Mulots Büchern verweisen ins Unterhaltungsfach. Das ganze Glück. Eine Liebesgeschichte. Mit einem Hafis-Orakelheißt das jüngste. Die unschuldigen Jahre, Das Horoskop, Nachbarn und Liebeserklärungen hießen frühere Bücher. Nachbarn verbindet eine Studie der "France profonde" mit der Auseinandersetzung um Kollaboration und Résistance unter Familien, die bis heute nebeneinander herleben. Provinzintrige und das, was bei uns Vergangenheitsbewältigung heißt, sind miteinander verknüpft. An diesem schwierigen Stoff bewährte sich die unaffektierte Erzählweise Sibylle Mulots. Das ganze Glück ist die Geschichte einer deutschen Studentin und eines iranischen Studenten, die sich in Wien verlieben und über Eifersüchteleien, Alltagsschwierigkeiten und Berufsgründe sich auseinander gelebt haben. Den Rahmen steckt jenes Hafis-Orakel ab, das zu Beginn einige Misstöne in eine Silvesterparty bringt. Sanda hatte es beim Aufräumen wieder gefunden und es ihren Besuchern angeboten, um in die Zukunft zu schauen. Einige Wahrheiten kommen ans Licht. Als die Gäste gegangen sind, kramt Sanda in ihren Sachen und stößt auf eine silberne Dose und ein paar Fotos. "Obenauf lag eine Ansichtskarte aus Dubai. Der Stich zwischen den Rippen überraschte sie. Es schmerzt ja noch! dachte sie verwundert. Sie schloss die Augen und überließ sich der Erinnerung." Da fällt es nicht leicht, zwischen der Naivität von Sanda und der Autorin zu unterscheiden.

Sanda erinnert sich an ein anderes Silvester mit dem Hafis-Orakel und ihrem iranischen Geliebten: "Zum ersten Mal benutzten sie die deutsche Fassung. Sanda war aufgeregt wie bei einer Premiere. Es kann ja nur Gutes herauskommen, dachte sie, ich hab es schließlich selbst gemacht. Sie hoffte auf etwas Eindeutiges, woran sie sich bei der bevorstehenden Abreise halten konnte. Aber das Orakel war ein ironisches altes Biest. ,Die Tür der Wahl steht mir und dir nicht offen´, hieß der Spruch. Sanda und Ferraghini sahen sich an. Die Tür der Wahl steht mir und dir nicht offen? Was sollte das wieder heißen?" Es heißt nicht Gutes ...

Im Anhang sind als Handreichung die 41 Bögen abgedruckt, auf denen Sanda das Hafis-Orakel übertragen hat. Jeder kann es "nach einer alten persischen Tradition" zu Rate ziehen. Bei Sanda freilich wird nächstes Silvester wieder Blei gegossen.

Mit Lena Kuglers Wie viele Züge könnte die Collection S. Fischer nach Judith Hermanns Sommerhaus, späte einen neuen Erfolg landen. Der Titel bedeutet zunächst einfach: "Wie viele Züge fahren jeden Tag nach Odessa? Und wie viele kommen an?" Jula ist für ein paar Wochen als Studentin in der Ukraine. Zusammen mit den anderen war sie von S. aus für einige Tage nach Odessa gefahren, hatte es dann aber nicht ausgehalten. Sie hat ihre eigene Mission und sucht die Spuren des Vaters und von dessen Familie. Sofort hat der Titel noch eine Bedeutung. Jula ist Halbjüdin. Hat der Vater nun, wie er in seinen Briefen an die zionistische Weltorganisation schreibt, wo er 1989 um Einwanderung nach Israel nachsucht, im Tschechischen Korps der UdSSR gekämpft?

1968 ist er nach dem Einmarsch der Russen in die Schweiz emigriert. Von seiner deutschen Frau lebte er getrennt. Die Tochter pendelte zwischen Süddeutschland und der Schweiz. Die Erzählung springt zwischen den Dokumenten des Vaters, den Kindheitserinnerungen Julas und ihren Recherchen in der Ukraine und in der Slowakei. Behilflich ist Wenja, dem Jula zurück in S. einen Teil des väterlichen Erbes verspricht, wenn es mit seinen vermuteten mafiosen Beziehungen gelingen sollte, die Villa und den Weinberg aus Vaters Erzählungen aufzufinden und als Erbe geltend zu machen. Die Suche ist erfolgreich, ihr Ergebnis aber um so enttäuschender: Die Villa stellt sich als Kate heraus und von einem Weinberg kann keine Rede sein. War dann auch alles andere nicht wahr, was ihr der Vater erzählt hatte? Jula telefoniert aus der Slowakei mit der Mutter.

Eine wichtige Rolle spielt der "Schwan". Der Paradefurz des Vaters wird zum Indiz. Wenn nicht alles wahr gewesen sein sollte, was der Vater erzählt hatte, kann ihn schließlich nichts mehr herabwürdigen. Wieder bringt er Jula zum Lachen.

Jakob Arjouni, Kismet. Ein Kayankaya-Roman, Zürich (Diogenes Verlag) 2001 (265 S., 36,90 DM)
Birgit Vanderbeke, abgehängt, Frankfurt am Main (S. Fischer Verlag) 2001 (128 S., 32,00 DM)
Sibylle Mulot, Das ganze Glück. Eine Liebesgeschichte. Mit einem Hafis-Orakel, Zürich (Diogenes Verlag) 2001 (175 S., 34,90 DM)
Lena Kugler, Wie viele Züge, Frankfurt am Main (Collection S. Fischer) 2001 (122 S., 24,00 DM)

 

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Zeitschrift Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur.
Kühl-Verlag (Frankfurt/Main)
Ausgabe April 2001 (19. Jg., Heft 4/2001)