Abschied von der Angst

Eine Reise nach Palermo

Marko Martin

"Sizilien und Wir." Natürlich: Sizilien und Wir, anders scheinen wir Deutsche uns ohnehin nicht in der Welt bewegen zu können. In der Tat könnte der von Hugo von Hofmannsthal gefundene Essay-Titel – und mehr noch sein Inhalt – kaum symptomatischer sein für jene "germanischen Substanzen" und eine "gewisse moralische Strenge", von der schon Lampedusas Fürst Don Fabrizio wusste, dass sie sich "in den Mäanderwindungen des träge dahinschleichenden sizilianischen Regimes" nur allzu bald umformen, wenn nicht sogar ins Gegenteil verkehren würde.

Und so bleibt im Jahre 2001 vor allem ein großes Erstauntsein über das, was Hofmannsthal in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts noch scheinbar mühelos schreiben konnte. Sicher, er meinte den Sizilien-Reisenden Goethe, wenn er von der "höheren Lust des ordnenden Zusammenhangs" schwärmte, von einem Schweben "auf ins Gesetzmäßige, Allgemeine", vom ruhevollen Wandeln "im hesperischen Garten der Ideen". Auch Hofmannsthal wusste, dass Goethes Zeit nicht wiederkommen würde, dass die Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts "unvertrauter, weniger spiegelhaft gerundet, gefährlicher" ist – und kommt doch zu einem versöhnenden Schluss, einer Symbiose, deren akrobatische Kraftanstrengung etwas Rührendes hat: "Abgründe freilich sind dazwischen; aber in uns ist Abgrund genug, dass wir wissen, wie wir das Getrennte zusammenbringen. Dem Auge vertrauen wir uns an, das der geistigste unserer Sinne ist."

Und was nimmt das Auge heute in Sizilien wahr? Da ist zuerst der doppelte Film auf der Netzhaut, ein Gewirr aus Assoziationen, Schnipseln von Zeitungsschlagzeilen, schnellen Nachrichtenbildern, Erinnerungen an Filme und Bücher. Allein gegen die Mafia, Der Pate, Der Leopard, Der Tag der Eule; Lampedusa & Sciascia & Puzo; General Dalla Chiesa ermordet, Richter Falcone ermordet, Richter Borsellino ermordet; Mafiaboss Totó Riina verhaftet, Andreotti angeklagt und freigesprochen ...

Das ist es, was das Auge zuerst wahrnimmt: Aeroporto Borsellino e Falcone, die Schilder auf dem einstigen Flughafen Punta Raisi von Palermo, der nun sichtbar den Namen der 1992 ermordeten Anti-Mafia-Aktivistin trägt. Also doch ein Ende der Omerta, jenes Gesetzes des Tötens, Wegschauens und Schweigens, das die Insel bis in die Neunzigerjahre hinein wie ein Kokon umhüllte? The wind of change, ein spätes, verändertes, aber nicht minder starkes südliches Echo auf das Jahr 1989, als in Europa alles anders zu werden begann? "Sizilien steht als Metapher für die moderne Welt", schrieb der just 1989 gestorbene Romancier Leonardo Sciascia. Eine allzu geschmeidige Einladung, eine Verführung, die Realitäten dieser so nah vor Tunesien gelegenen Insel allein aus mitteleuropäischer Optik zu betrachten?

Also zumindest vorerst kein Schweben ins Gesetzmäßige, sondern hinein in die konkrete Stadt. Das Hotelzimmer an der Piazza Marina beziehen, danach Straßen und Plätze erwandern, Gesichter wahrnehmen, Gerüche und Geräusche. Eine Systematisierung, die auch sinnlich sein kann: Der Duft von Orangen und großen gelben Zitronen auf dem nahe gelegenen Markt der Vucciria, der sich in engen Gassen zwischen leprösen Hauswänden bis hoch zur Via Roma zieht. Der Geruch von Öl und verbranntem Gummi in den Autowerkstätten, die mit ihren abgerundeten Steindecken an Höhlenverstecke erinnern. Die Ernsthaftigkeit, mit der ältere Herren mit Goldbrille und grauem Pullover in Kurzwarenläden Metermaße ausrollen, auf altmodischen Holztischen ihre Goldborten ausbreiten, auf die Leitern vor den wandhohen Regalen steigen und mit Wollknäuel gefüllte Pappkartons unter die rechte Achsel klemmen. Authentisches Handwerk, beruhigende Augenblicks-Folklore.

Aber es hilft alles nichts. Obwohl ich diese Bücher gelesen habe – weder Seumes Spaziergang nach Syrakus noch Goethes Italienische Reise sind die wahren Begleiter unserer Entdeckungsfahrt geworden. Stattdessen ist es das Buch eines australischen Journalisten, der als Englischdozent jahrelang in Sizilien gelebt hat, das uns nicht loslässt. Sizilianische Schatten (Dumont Buchverlag, Köln), Reportage und Essay, politische Untersuchung und Mentalitäts-Analyse. Und Sätze aus allerjüngster Vergangenheit, die beim Gang durch die Altstadt von Palermo nicht mehr aus dem Gedächtnis weichen.

"Palermo ist ein übel riechender Krankheitsherd. Seit Jahresbeginn sind bereits über siebzig Menschen ermordet worden, an Händen und Füßen zusammengeschnürt wie Zicklein, die Kehlen durchschnitten, die Köpfe vom Rumpf getrennt, die Eingeweide herausgerissen, die Leichen in schwarze Plastiktüten gesteckt und in Kofferräume gestopft ..." Oder in Säurebädern aufgelöst, irgendwo hinter diesen Tuffsteinmauern, hinter den grünen Fensterläden, auf denen Licht und Schatten tänzeln und plötzlich erstarren. Was verbirgt sich hinter der Stirn dessen, der gerade vorübergeht?

Erste Regel: Nicht paranoid werden, sondern Zeitungen lesen. Wissen, dass die Mafia zurzeit kaum noch mordet – "Aus Stärke, nicht aus Schwäche", wird uns später der Schriftsteller Santo Piazzese sagen –, dass Palermo inzwischen zu einer der sichersten Städte Europas geworden ist, nicht zuletzt dank des couragierten Bürgermeisters Leoluca Orlando, der durch die Quasi-Revolution der Neunzigerjahre, das ruhmlose Versinken der korrupten Christdemokraten und Sozialisten, die Chance bekam, in seiner Stadt Grundlegendes zu verändern. Wer also ist der, der gerade vorübergeht? Mit großer Wahrscheinlichkeit einer der Wähler dieses Antimafia-Kämpfers, für den beim letzten Votum 75 Prozent der Palermoer Bürger stimmten.

Am Abend eines der nächsten Tage dann ein Besuch im Museo dei Pupi, eine jener legendären Institutionen, die –ein typischer Ostblock-Ausdruck – "in der Zeit der Stagnation" in den Siebziger- und Achtzigerjahren geschlossen hatten, nun aber ihre Portale und massiven Eichentüren wieder für Besucher öffnen. Anderthalb Meter große, kiloschwere Puppen poltern in Adelskostüm und Ritterrüstung über eine erleuchtete Minibühne, während sich davor im dunklen Vorstellungsraum die verschreckten Bambini an ihre Eltern und Großeltern kuscheln. Eine schwitzende dickleibige Frau zaubert aus einem Leierkasten Moritatenklänge. Gerade kämpft der Recke Rinaldo gegen einen Tiger, und die Marionettenspieler hinter der Bühnenwand trampeln mit den Füßen, johlen und röcheln aus tiefster Kehle, um den Kampf auf Leben und Tod darzustellen.

Dasitzen, im wärmenden Dunkel geschützt und mit weit aufgerissenen Augen dem Spektakel folgen. Überkluge Interpretationen vermeiden, küchenphilosophische Erklärungsversuche – Manichäisch-Martialisches als Sinnbild sizilianischen Wesens? – gleich im Anfang ersticken und auch die Gegenthese nicht überstrapazieren: Im von Griechen, Römern, Mauren, Normannen, Franzosen und Spaniern geprägten Sizilien existiert keine homogene Leitkultur, selbst traditionelle Puppengestalten wie der Tatarenkönig oder die Prinzessin Aladina von Mainz sind sozusagen Immigranten. Aber während hier drinnen die postmodern gelangweilten Kids plötzlich anfangen, mit ihren Tamagotchis zu spielen und die grün leuchtende Fläche ihrer Handys nach messages abzugrasen, leuchtet draußen im Stadtviertel Kalsa der Vollmond noch immer über grausigen Häuserruinen aus dem Zweiten Weltkrieg, als wärs ein Gemälde von Böcklin oder Schwind.

Ein halbes Jahrhundert ließ eine Allianz aus christdemokratisch dominierter Lokalpolitik und Mafia dieses einstige Prachtviertel am Meer verfallen und siedelte die Bewohner zwangsweise um. Und es ist mit dem Australier Peter Robb ein Intellektueller von der anderen Peripherie, der die Zusammenhänge erkennt, sich bei den gesichtslosen neuen Betonquadern, die in den Vororten Palermos wie Krebszellen wucherten, an die Plattenbauarchitektur des Realsozialismus erinnert: "All das bot tiefe Einblicke in die Geisteswelt der Mafia. Hier enthüllte sich ihr totalitärer Charakter, der einem selbst an Sommertagen Schauer über den Rücken jagte. Jahrzehntelang lag Italiens Verbrauch an Zement pro Kopf höher als in jedem anderen Land der Welt." Das Bauwesen diente zur Geldwäsche der Einkünfte aus dem Drogenhandel, und zwischen den Ruinen der verfallenden Kalsa lieferten sich die Heroinverkäufer konkurrierender Mafia-Clans ihre mörderischen Kämpfe.

Heute spannt sich über den schmalen Gassen wieder ein Gewirr aus Wäscheleinen, wie mit schweren Wimpeln mit Kleidungsstücken behangen. Hier hausen nun die Nachfahren der im Jahre 1101 besiegten Araber; Einwanderer – legal oder illegal im Land, wer will es wissen –, die aus den stuckverzierten Fenstern ohne Glasscheiben ihre Rai-Musik klingen lassen, sich auf der Straße treffen, ihre Arbeitskraft feilbieten. Algerier, Marokkaner, Schwarzafrikaner. Ein Fortschritt für Sizilien, dessen Armut vorher ein ganzes Jahrhundert lang große Teile der Bevölkerung zur Auswanderung gezwungen hatte, sie zu Immigranten in New York oder Gastarbeitern bei Mercedes Benz in Sindelfingen werden ließ? Die Zeiten, in denen der Mafia-Terror jegliche normale Geschäftsaktivität unmöglich machte, scheinen vorbei – nun tritt, weniger totalitär, die Trennung zwischen Arm und Reich wieder offener zutage; die gute alte soziale Ungerechtigkeit in ihrer traditionellen Form. Gern möchte man glauben, dass es Auswege, Aufstiege gibt. So etwa für jene Tamilen, die schon beim kleinsten Regenschauer auf die leuchtenden Geschäftsmeilen der Via Roma und Via Della Liberta strömen und aus ihren Bauchläden Mini-Regenschirme herzaubern. Beruhigende, Wohlstand schaffende Balance zwischen Angebot und Nachfrage – doch wer kassiert noch immer im Hintergrund die Prozente für die Konzessionen?

Aber vielleicht beginnt die Hofmannsthalsche Lust des ordnenden Zusammenhangs auch schon die Sizilianer zu erreichen. Ob nach dem Panelle-Essen in der 1834 gegründeten Focacceria San Francesco oder nach dem Kauf von Postkarten und Zeitungen – falls wir vergessen hatten, den Kassenbon mitzunehmen, rennt uns ein Verkäufer bis auf die Straße hinterher, um uns den Zettel zuzustecken. Parallel zu den Antimafia-Jägern hat seit Mitte der Neunzigerjahre auch die Finanzpolizei ihre Aktivitäten erhöht – gegen korrupte Politiker, dubiose Großunternehmer ebenso wie gegen kleine Geschäftsinhaber oder saumselige Beamte, deren Büros nicht selten sogar umstellt werden, um die Anwesenheit im Dienst zu überprüfen. War es also doch mehr als eine germanische Ordnungs-Obsession, die Goethe beim Anblick des Palermoer Mülls darüber sinnieren ließ, eine "Einrichtung" zu schaffen, eine "Anstalt zu treffen", um die Situation zu verbessern und diese Verbesserung danach auch institutionell abzusichern?

"Wenn alle die, die an Antimafia-Fackelzügen teilnehmen, einen Fahrausweis hätten, wären die städtischen Verkehrsbetriebe nicht mit siebzig Milliarden Lire im Defizit. Genau an dem Punkt beginnt die Antimafia, das ist das wahre Merkmal sozialer Normalität." Der Amateur-Detektiv als intellektueller Fahrschein-Kontrolleur, der um die Regeln einer Zivilgesellschaft weiß – unmöglich, so etwas in einem der früheren Sizilien-Romane zu lesen. Lorenzo La Marca, hauptberuflich Biologieprofessor und Frauenheld, scheint das Symbol für einen Paradigmenwechsel zu sein; ironischer, gelassener, sich eher mit Jazz-Labels als mit Waffen-Kalibern beschäftigend. Santo Piazzese, 1948 in Palermo geboren und ebenfalls als Biologe an der Universität tätig, ist der Erfinder dieser Romanfigur, deren Abenteuer jetzt nicht nur zu einer italienischen Fernsehserie aufbereitet werden, sondern in diversen Übersetzungen inzwischen überall in Europa zu lesen sind. Die Verbrechen in der Via Medina-Sidonia und Das Doppelleben von M. Laurent (ebenfalls erschienen bei Dumont, Köln) sind keine Mafia-Krimis in der Tradition Leonardo Sciascias, sondern Palermoer Stadterzählungen mit viel ironischem Lokalkolorit und wenig Blut.

"So lange es Verbrechenstaten im Affekt, pure Delikte ohne Mafia gibt, wird unser Land auf Erlösung hoffen können; das reine Verbrechen ist ein Merkmal sozialer Normalität." Das sagt zwar die Romanfigur, aber sein Autor sieht es ähnlich.

Wir sind nun seit mehreren Tagen auf der Insel, und in Palermo ist es plötzlich unerwartet kühl geworden. Wir sitzen im Wohnzimmer Piazzeses unweit des Giardino Inglese, kurze Wind- und Regenschauer streifen die Fensterscheiben, der Terrassenblick auf den Monte San Pellegrino ist verhangen.

"Bis in die Achtzigerjahre war hier das Wort Mafia tabu; christdemokratische Politiker und ihnen nahe stehende Journalisten verneinten sogar wortreich die Existenz einer solchen Organisation – sie hatten allen Grund dazu. Erst als endlich ein Gesetz verabschiedet wurde, das als der berühmte ,Artikel 416’ Mafia-Zugehörigkeit als verbrecherischen Akt definierte, hatte man eine Handhabe. Sie dürfen aber nicht vergessen, dass der geistige Vater dieses Gesetzes, der sizilianische Kommunistenchef Pio La Torre, sein Engagement noch mit dem Leben büßte."

Ist es angesichts dieser Vergangenheit – der deutsche Gast kann nicht anders, als Vergleiche zur wattierten Lügenwelt des Realsozialismus zu ziehen – nicht etwas eskapistisch, ausgerechnet einen Bonvivant und Weinkenner zum Romanhelden zu machen? Santo Piazzese lächelt entschuldigend. "Was ist hier schon nicht eskapistisch? Auch jene Schriftsteller und Journalisten, die heutzutage bei jedem Antimafia-Marsch mit einer Kerze in der ersten Reihe dabei sind, lügen sich in die Tasche. Glauben, dass pures Wiederholen der Vokabel Mafia das Problem schon bannt. Dabei ist die Organisation längst zu einem Bestandteil der Globalisierung geworden. Wickelt ihre Geschäfte im Internet ab, streift das bäuerlich Archaische ab, begreift die Regeln des Kapitalismus, bringt in Palermo auch keine Ladenbesitzer mehr wegen Nichtzahlung gigantischer Schutzgelder um, sondern begnügt sich auf einmal mit weit geringeren Forderungen. Aber ich wiederhole: Das ist ein Zeichen ihrer Stärke, nicht ihrer Schwäche."

Und Leoluca Orlando, der einst in Heidelberg promovierte Bürgermeister, den Ende der Achtzigerjahre Andreotti & Co. aus der Democrazia Cristiana wegmobbten, weil er ihnen gefährlich wurde und der es trotzdem schaffte, am Leben zu bleiben, ein hohes Amt zu bekommen, der – als Metapher für den Wandel – in Palermo zuerst einmal die Müllabfuhr und die Strom- und Wasserversorgung reaktivierte, ehe er den Augiasstall der mafiosen Stadtverwaltung ausmistete?

"Orlando ist in den letzten Tagen des Jahres 2000 als Bürgermeister zurückgetreten, um bei den Regionalwahlen im Herbst Gouverneur von ganz Sizilien zu werden. Ich glaube und hoffe, er kann mit 60 Prozent der Wählerstimmen rechnen, obwohl – Sie sehen es überall auf den Plakaten an den Hauswänden – Berlusconis dubiose Forza Italia beträchtlich zulegt. Orlando ist ein guter Mann; eigenbrötlerisch, mutig. Bis November haben wir jedoch nun einen kommissarischen Bürgermeister, der von der jetzigen Regionalregierung, den Berlusconi-Leuten, eingesetzt worden ist. Wissen Sie, was seine erste Ankündigung war? Alle Entscheidungen, die Bürgermeister Orlando getroffen hat, nochmals zu überprüfen. Überprüfen! Da spitzt man die Ohren, da ahnt man, woher der Wind wieder weht. Sie kennen doch den berühmten Satz aus dem Leoparden, den der junge Tancredi zum Fürsten sagt, als er sich 1860 gegen die Bourbonen entscheidet und zu den Garibaldi-Truppen überläuft?" Santo Piazzese zieht die Mundwinkel sarkastisch herab.

Es muss sich alles ändern, damit es so bleibt, wie es ist. Das ewige Gesetz, an das sich auch die Mafia hielt: Zuallererst diente sie sich den Großgrundbesitzern an, um die rechtlosen Kleinbauern mit Terror ruhig zu halten, schaffte es aber bald, auch ihre Arbeitgeber einzuschüchtern und sich an deren Stelle zu setzen. Unter Mussolinis "Eisernem Präfekten" Mori aus Konkurrenzgründen konsequent verfolgt, ermöglichten die Ehrenwerten Männer samt ihren einst in die USA ausgewanderten Neffen und Cousins den Amerikanern 1944 die mühelose Landung auf Sizilien, gerierten sich als Opfer des Faschismus und boten sich als unentbehrliche Landeskenner und Bollwerke gegen die Kommunisten an. Mischten schon bei der Gründung der vatikantreuen Democrazia Cristiana (DC) mit, hatten ihre Vertrauensleute in Palermo ebenso wie in Rom, gaben Mordbefehle oder führten solche aus.

Bis sie den Bogen überspannten und nicht nur die untadeligen Ermittlungsrichter Falcone und Borsellino in die Luft sprengten, sondern auch ihre zu ineffektiv gewordenen Komplizen, den ehemaligen DC-Bürgermeister Salvo Lima und den regionalen Sozialistenchef Gaglio per Kopfschuss erledigten. Panik der Politikerkaste, öffentliche Erregung, Verhaftung des Palermoer Polizei- und Geheimdienstchefs wegen Mitgliedschaft in der Mafia. Ein Wechsel der Eliten, der durch die von Mailänder Staatsanwälten aufgedeckten Korruptionsfälle eine zusätzliche landesweite Dynamik erfuhr, Christdemokraten und Sozialisten untergehen ließ und das Ende der Ersten Republik einläutete. Eine Chance für Linksdemokraten und Liberale – vor allem aber eine Möglichkeit für die alten Eliten, sich im Windschatten des populistischen Medienmoguls Berlusconi neu zu formieren und frisch zu schminken.

The wind of change also ein Hurrikan, der nun als laues Lüftchen verröchelt? Die mitteleuropäische Optik kann mitunter auch verzerren. Unsere schier unbegrenzte Energie, über die zwei blutigen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts zu debattieren, hat blind gemacht für die Wahrnehmung anderer Formen der Diktatur.

Ich stelle mir vor, wie es auf dieser Insel bis Mitte der Neunzigerjahre gewesen sein musste, wenn man Gewerkschaftler war und den Filz aus postfeudaler Herrschaft, Ungerechtigkeit, asozialem Klerikersystem, Christdemokratischer Partei und Mafia nicht nur nicht durchdringen und auflösen konnte, sondern auch permanent sein Leben riskierte. Wie es war, in einem dieser gottverlassenen Dörfer im Landesinneren hausen zu müssen, wo schwere Wolken über eng zusammengeduckten Häusern hängen, eine Atmosphäre von Angst und Schweigen, eine unauflöslich scheinende Allianz zwischen Dorfpriester, Bürgermeister und lokalem Cosa-Nostra-Vertreter. War es da für die wenigen Unangepassten nicht nahe liegend, in die Kommunistische Partei einzutreten? Was hatte man schon von den anderen Parteien, geschweige denn von den amerikanischen Truppen, die massiv auf Sizilien stationiert waren, erwarten können? Weder Rosinenbomber noch einen Marshallplan. Statt antitotalitärem roll back einen dürftigen Antikommunismus, der den besten Vorwand lieferte, das Herrschaftssystem auf der Insel nicht anzutasten. Ich bin erstaunt über mich, dass ich diesen so simplen Gedanken im Jahre 2001 noch als unerhört empfinde: Ja, vielleicht war es so, dass die authentische Empörung über Unrecht und Heuchelei, die in Mitteleuropa – von  Frankreich bis nach Polen – die besten Köpfe ihrer Generation mit der KP brechen ließ, in Italien und ganz besonders hier in Sizilien die Mutigsten dazu brachte, in eben diese Partei einzutreten. Und dabei war die PCI spätestens seit 1968 und ihrem Protest gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings nicht mehr moskautreu; ich erinnere mich genau, wie häufig vor 1989 Prawda und Neues Deutschland die italienischen Kommunisten tadelten.

Als 1980 deren Parteivorsitzender Enrico Berlinguer starb, war es die polnische Gewerkschaft Solidarnosc, die als erste ein Trauergebinde schickte. Die italienischen Kommunisten waren ob dieser Geste so berührt, dass sie am nächsten Tag auf der ersten Seite ihres Parteiorgans Unitá ein Foto dieses Kranzes druckten, auf welchem der Namenszug Solidarnosc überdeutlich zu erkennen war. KPdSU-Chef Breschnew reagierte empört, sagte seine Teilnahme an den Trauerfeierlichkeiten ab und blieb in Moskau. Stattdessen schickte er einen unbedeutenden Provinzfunktionär nach Italien. Sein Name: Michail Gorbatschow ...

Nichts bleibt wie es ist. Zugegeben, der Besucher verharrt zwangsläufig an der Oberfläche, kann in zwei Wochen nicht in die Strukturen hineinkriechen, aus denen heraus noch immer die Macht agiert; ahnt viel, aber weiß wenig über die fortwirkenden Aktivitäten von Mafia und Politikerkaste, aber er hat ja seine Augen. Augen, die pausenlos junge Leute mit ihren Handys sehen; junge, aber auch ältere Frauen, allesamt schick angezogen und selbstbewusst und so gar nicht dem Klischeebild der amorphen Übermutter entsprechend, die an ihrem Busen den Mördersohn genauso hätschelt, wie sie im richtigen Moment zu schweigen weiß; Blut ist dicker als Wasser. Nur vereinzelt sieht man sie noch – schwarz gekleidet und mit überquellendem Gesäß auf einem Stuhl vor schattigen Hauseingängen thronend – aber die Straße, die Bars, Cafés, Kinos und Theater gehören ganz eindeutig den Anderen.

Auf jeden Fall scheint die absurde Kultur des Todes – noch zu besichtigen in den von Kapuzinermönchen geführten Katakomben mit ihren achttausend konservierten und vollständig angekleideten Leichen aus dem 17. und 18. Jahrhundert – ihre Wirkungsmächtigkeit zu verlieren. Giovanni Falcone hatte einst darauf hingewiesen, dass es einen Zusammenhang, eine praktische und mentale Verbindung gibt zwischen jener zur Gruppen-Ethik geadelten Mordlust der Mafia und den Tausenden von morbiden Leid-Jesu-Bildern in den Kirchen, den geradezu wollüstig begangenen Allerheiligen-Riten und der Stummheit des einzelnen Bürgers. Doch nun: Das jahrzehntelang im Mafia-Auftrag von Gerüsten umstellte (und so gigantische Summen von römischen Subventionsgeldern verschlingende) Teatro Massimo, einst nach Wien und Paris größtes Opernhaus Europas, ist endlich wieder offen. Eine blumengesäumte Freitreppe und auf dem Programm nicht nur Regional-Folkloristisches. Im letzten Jahr hatte man Pina Bausch eingeladen, nun werden Vladimir Ashkenazy und José Carreras erwartet; Verdi wird genauso gespielt wie der avantgardistische Luigi Nono. Im Ruinenviertel der Kalsa zeigt man ein arabisches Filmfestival, aus dem gerade renovierten Palazzo daneben klingen abwechselnd Geigen- und Jazzklänge.

Es war keine Überraschung, dass im mondänen Taormina – zweite Station dieser Reise – nahezu jeden Abend Konzerte stattfinden und die kleinen Gassen mit dem atemberaubenden Ausblick auf das blaue Mittelmeer und den weiß umgürteten Ätna noch immer an jenen längst verflogenen Hautevolee-Mix aus Wagner, Brahms, Gide, Truman Capote und Liz Taylor erinnern. Aber die Tatsache, dass das noch vor Jahren mit dem bürgerkriegszerstörten Beirut verglichene Palermo diese unglaubliche Renaissance erlebt, macht es schwer, nicht in Optimismus zu verfallen. Von der Hauptstadt führte diese Reise über Cefalú und Messina hinunter nach Taormina, von dort nach Catania, Noto und Syrakus, aber es war das bis vor kurzem völlig verrottete Hafengelände Palermos, wo der Geist einer schwierigen Wiedergeburt quasi mit Händen zu greifen war.

Tausende von Menschen stehen hier kurz vor Mitternacht unterhalb einer erleuchteten Bühne, auf der Lucio Dalla, ergrauter Altmeister des italienischen Chansons, singt, lacht, tanzt, Klavier spielt, den Oberkörper in Richtung der Saxophonspieler und Backgroundsängerinnen seiner Band neigt. Und irgendwann haben sie alle Tränen in den Augen, die jungen Carabinieri, die das weitläufige Gelände gegen mögliche Attentate sichern, die jungen und alten Palermoer, die sich in den Armen liegen, einander auf den Schultern sitzen, sich an den Händen halten, per Handy ihre Freunde von der Stimmung auf dem Platz informieren oder andächtig ihre Feuerzeuge anknipsen: Futura, La sera dei miracoli. Es ist überwältigend. Auf den großen Leinwänden rechts und links der Bühne verdoppeln sich ihre Gesichter, eine ungeheure Schönheit jenseits aller Event-Hektik. Denn natürlich wissen sie, dass eine solche Nacht, ein solches Konzert etwas ganz anderes ist, als es der Spaßgesellschaft Westeuropas nahezu jede Woche geboten wird. Dies ist – und hier erinnert sich der deutsche Besucher an Prag nach der Samtenen Revolution, an die Songs von Plastic People auf dem Wenzelsplatz und das scheue, sympathische Lächeln von Dubcek und Havel –, dies hier ist nichts weniger als die Zurückeroberung des öffentlichen Raums, ein Wegsingen und Wegklatschen einer uralten, von Generation zu Generation vererbten Angst – und dies über elf Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges!

Vorbei scheinen die Zeiten, in denen Leonardo Sciascia wie ein Schriftsteller im Ostblock aus Vorsicht seinen Roman Der Tag der Eule bis auf das Skelett der Handlung kürzen musste. "Es steht fest, dass ich die Geschichte nicht in jener unbegrenzten Freiheit geschrieben habe, die ein Schriftsteller genießen sollte."

Parallelen über Parallelen. Wir sehen die Strahlen der Bühnenscheinwerfer am stahlblauen Nachthimmel, sind eingekeilt in einen Pulk aus Euphorie und Feierlust, und wieder kann ich nicht umhin, mir jene Jahre vorzustellen, als es hier noch ganz anders war. Als weggedrehte Köpfe, kleine hämische Zeitungsnotizen, breit lächelnde Notabeln und im römischen Justizministerium "verloren gegangene" Mafia-Dokumente wieder einmal einem integren Untersuchungsrichter und Polizeibeamten in Sizilien signalisierten, dass der erste Akt der Eliminierung begonnen hatte. Isolieren, den Betreffenden mit einem Kordon der Distanz umzingeln und irgendwann eine Lücke lassen, durch die dann ein angeheuerter Killer dringt, mit einer abgesägten Schrotflinte, einer Schalldämpferwaffe oder einem Paket Plastiksprengstoff.

Diese Verlorenheit der Männer einer damals noch nicht existenten Bürgergesellschaft, ihr heroischer Versuch, den demokratischen Staat vor jenen zu schützen, die ihn repräsentierten. Ihre verzweifelte Hoffnung, dass wenigstens die Amerikaner, die man doch in Westeuropa zu Recht als Garanten der Freiheit feierte, helfen und ihren Einfluss auf die Regierungsbeamten in Rom geltend machen müssten. General Alberto Dalla Chiesa, erfolgreicher Kämpfer gegen die Roten Brigaden, dann aber 1982 in seinem neuen Kampf gegen die Mafia zunehmend isoliert, der den letzten Ausweg in einem heimlichen Besuch beim US-Konsul in Palermo sieht. Ich denke an die Einsamkeit der osteuropäischen Dissidenten, an ihre Hoffnung auf westliche Journalisten und Botschafter und stelle mir vor, wie eindringlich Dalla Chiesa gebeten haben muss, Druck auf die italienische Regierung auszuüben, ihn nicht fallen zu lassen. Es half nichts. Wenig später war der Polizeipräfekt, den Peter Robb als einen "der loyalsten, intelligentesten und gewissenhaftesten Diener dieses Staates" beschreibt, tot, durchsiebt von Kugeln aus einer Kalaschnikow. Wahrscheinlich brachte es Leoluca Orlando, auch er einer jener todesmutigen Beamten, genau auf den Punkt, wenn er in einem Interview sagte: "Wenn Gulio Andreotti von einer internationalen Verschwörung gegen seine Person spricht, hat er in gewisser Weise Recht. Er genießt nicht mehr die internationale Protektion, derer er sich während all der Jahre des Kalten Krieges gewiss sein konnte. Die Amerikaner brauchen Andreotti nun nicht mehr, da der Kommunismus seinen Schrecken verloren hat."

Auch die PCI heißt nun Partei der Demokratischen Linken, PDS; für den Besucher etwas gewöhnungsbedürftig, aber keineswegs ein Schreckbild. Lucio Dalla röhrt mit rauchiger, schmeichelnder Stimme ins Mikrophon, und als in einem seiner Lieder die Vokabel sinistra/links zu hören ist, heben viele der Anwesenden ihre Hände, um Beifall zu klatschen. Aber da ist nichts Verbissenes, weit und breit keine Parteitags-Homogenität. Im Gegenteil: Mit Blick auf die Plakate des falsch lächelnden und alles Mögliche versprechenden Silvio Berlusconi, die auch diesen Platz hier unten am Hafen förmlich umzingeln, scheint es ganz so, als könnte sich Mitte-Links in Sizilien eine demokratische Gesellschaft etablieren. Aber vielleicht ist auch dies schon wieder zu tagesaktuell parteipolitisch gedacht und der Besucher am Ende doch noch in die Falle jener "höheren Lust des höheren Zusammenhangs" gelaufen. Wie auch immer: Ich sah im Jahr 2001 an der so genannten Peripherie Europas unzählige Menschen, die ihre jahrhundertealte Angst abzuschütteln begannen, und das war einfach schön, verdammt schön.

 

 

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Zeitschrift Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur.
Kühl-Verlag (Frankfurt/Main)
Ausgabe April 2001 (19. Jg., Heft 4/2001)