Identitätsfindung durch einen 

erweiterten Gerechtigkeitsbegriff

Sozialphilosophische Überlegungen zum Grundsatzprogramm der Grünen*

Axel Honneth

In der Diskussion um das neue Grundsatzprogramm von Bündnis 90/Die Grünen empfiehlt Axel Honneth, geschäftsführender Direktor des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main, der Partei, den Diskurs über eine Politik der Gerechtigkeit auch zur Identitätsfindung zu nutzen. Dabei wirbt er, bei einer zeitgemäßen Erweiterung des Gerechtigkeitsbegriffs, für eine Politik im Namen und zu Gunsten der sozial Schlechtestgestellten in einem komplexen Rahmen. - Seinen nachstehenden Beitrag hielt er auf dem bündinisgrünen Parteitag Anfang März in Stuttgart.

Seit Jürgen Habermas vor rund fünfzehn Jahren die Formel von der "Neuen Unübersichtlichkeit" geprägt hat, ist der Wahrheitsgehalt seiner Diagnose durch die nachträgliche Entwicklung nicht nur auf breiter Front bestätigt worden; seine damaligen Vermutungen scheinen vielmehr durch die soziale Realität heute sogar noch in einem unerwarteten Maß überboten zu werden. (1) Habermas hatte mit seiner prägnanten These ursprünglich die wachsende Unfähigkeit der politischen Öffentlichkeit gemeint, in den gewandelten Verhältnissen noch die Umrisse einer Tendenz zu entdecken, die über den engen Zeithorizont der Gegenwart hinaus den normativen Anhaltspunkt für eine kollektive Utopie der besseren Gesellschaft bieten könnte; mit der Auflösung der "Arbeitsgesellschaft" waren die alten, noch sozialistisch inspirierten Ideen einer Befreiung von der Lohnarbeit an ihr Ende gekommen, mit der Bürokratisierung des Sozialstaates war auch das sozialdemokratische Projekt einer fürsorgenden Einhegung des Lohnarbeitsverhältnisses an seine Grenze gestoßen, sodass es normativ eindeutige Orientierungen für eine Humanisierung der Gesellschaft kaum mehr zu geben schien.

Inzwischen aber sind zu diesen Tendenzen neue, damals kaum vorhersehbare Ungleichzeitigkeiten hinzugetreten, ja, unsere soziale Situation ist durch eine Vielzahl von Gegenläufigkeiten geprägt, die eine widerspruchsfreie Zukunftsgestaltung noch ungleich schwieriger macht. Nicht bloß eine empirische Unübersichtlichkeit, sondern eine normative, moralische Perplexion und Ratlosigkeit scheint es zu sein, die uns als politische Zeitgenossen heute so eigentümlich reserviert sein lässt; mit solchen tief sitzenden Ambivalenzen hängt wohl auch die Tatsache zusammen, dass es in den letzten Jahren zu einem gespenstischen Verschwinden von Großdemonstrationen und sozialen Bewegungen gekommen ist. An dieser Stelle lassen sich nur einige, eher zufällig ausgewählte Tendenzen benennen, die nicht anders denn als Hervorbringungen von normativen Paradoxien und Gegenläufigkeiten zu verstehen sind: Obwohl sich nach dem Ende des Kalten Krieges die Chancen einer internationalen Rechtsordnung wesentlich verbessert und damit die Chancen einer Pazifizierung der Welt drastisch erhöht haben, ist gleichzeitig durch die Entstaatlichung und die Barbarisierung ethnischer Konflikte, also durch das, was wir mit Mary Kaldor als einen epochalen Strukturwandel des Krieges bezeichnen können, (2) die Frage nach der Notwendigkeit internationaler Interventionen auch mit militärischen Mitteln wieder dringlicher geworden; ähnlich verwirrend ist die moralische Lage in Bezug auf die Arbeitswelt, weil einerseits mit Gründen der Standortsicherung und der globalen Wettbewerbsfähigkeit eine entschlossene Deregulierung als Königsweg des Abbaus von Arbeitslosigkeit empfohlen wird, während uns allen gleichzeitig die sozialen Folgekosten einer Auflösung rechtlich eingehegter Lohnarbeitsverhältnisse immer deutlicher vor Augen stehen; und schließlich, um nur ein jüngstes Beispiel anzuführen, <N>war gerade mit dem Kompromiss in der Abtreibungsfrage eine rechtliche Lösung gefunden worden, die den Autonomiebestrebungen der Frauen und damit begründeten Emanzipationshoffnungen entsprach, da scheint sich an den ethischen Diskussionen über therapeutisches Klonen die moralische Notwendigkeit aufzutun, Embryos generell unter den advokatorischen Schutz ihrer zukünftigen Menschenwürde zu stellen. Jeder politisch-normativen Zielsetzung folgt heute, so machen diese Beispiele deutlich, ein nicht leicht von der Hand zu weisender Einwand auf dem Fuß, jedem Pro steht ein Contra gegenüber, das für sich gesehen ebenfalls moralische Überzeugungskraft besitzt; wir haben es nicht mehr nur mit einer gewachsenen Unübersichtlichkeit der sozialen Verhältnisse zu tun, sondern sind durch eine Beschleunigung von Ungleichzeitigkeiten und Gegenläufigkeiten in eine Situation geraten, die primär alle Symptome einer politisch-moralischen Orientierungslosigkeit aufweist.

Von diesem Strudel gegenläufiger Tendenzen sind in der Bundesrepublik sicherlich alle politischen Parteien in den letzten Jahren mitgerissen worden; keine der etablierten Gruppierungen hat nicht mit einer internen Identitätskrise zu kämpfen, die sich allenthalben in derselben Spannung zwischen Wertkonservatismus und beherztem Neoliberalismus, zwischen rückwärts gewandter Prinzipienorientierung und sanfter Bekräftigung der "New Economy" abspielt. Das deutlichste Zeichen dieser internen Zerreißprobe war fraglos die verzweifelte Hoffnung, mit der sich alle Parteien vor wenigen Jahren auf das Ideengut des amerikanischen "Kommunitarismus" gestürzt hatten, um darin den Ausweg aus ihrer jeweiligen Krise zu finden.

Die Grünen sind aus offensichtlichen Gründen von der neuen moralischen Unübersichtlichkeit jedoch am stärksten betroffen; nirgendwo sonst haben sich, so vermute ich, die sozialen und ökonomischen Gegenläufigkeiten des letzten Jahrzehnts direkter, unmittelbarer in einer nachhaltigen Identitätskrise niederschlagen müssen als in den Reihen dieser Partei.

Ich sehe mindestens drei Ursachen, die die Partei besonders anfällig machen für moralische Desorientierungen, wie sie heute mit den beschleunigten Gegenläufigkeiten unserer sozialen und kulturellen Situation einhergehen: Erstens sind die "Grünen", wie Joachim Raschke in seinem neuen Buch noch einmal überzeugend gezeigt hat, (3) selber das Produkt eines historischen Kompromisses zwischen zwei ungleichzeitigen Strömungen, dem Antikapitalismus der verstreuten, eher undogmatischen Linken und den Neuen Sozialen Bewegungen der Siebziger- und Achtzigerjahre, die gegen die internationale Aufrüstung und für eine ökologische Erneuerung kämpften; zweitens sind diese beiden ideenpolitischen Strömungen bei allen Unterschieden doch aus ein und derselben Quelle entstanden, nämlich einem gewachsenen Sensorium für die Desintegrationen und Pathologien einer hoch industrialisierten, kapitalistischen Lebenswelt, sodass sich moralische Irritationen stärker als bei den anderen Parteien direkt in einer Erschütterung der parteipolitischen Identität niederschlagen müssen; und drittens schließlich fehlt den Grünen so gut wie jede weltanschauliche Substanz in Form von traditionsverbürgten Werten, die die anderen etablierten Parteien immer dann zur leerformelhaften Stützung der eigenen Identität mobilisieren können, wenn es zu parteiinternen Zerreißproben kommt – die CDU durch den Appell an christliche Überlieferungen, die SPD durch Berufung auf sozialistische Gerechtigkeitsideen. Kurz, bei der grünen Partei muss die gegenwärtige Situation einer gesteigerten moralischen Orientierungslosigkeit schon deswegen zur Zuspitzung einer Identitätskrise führen, weil sie doch einerseits ihr Zustandekommen nur einer glücklichen Konvergenz moralischer Sensibilitäten verdankt, für die ihr aber andererseits jeder weltanschauliche Traditionskitt fehlt.

Nun bin ich nicht in der Lage, auf einer pragmatischen, problemnahen Ebene Ratschläge für die Einheitsfindung oder gar für das schwierige Geschäft der Regierungsbeteiligung zu erteilen. Meiner Überzeugung nach können die Grünen die identitätsbedrohenden, drängenden Probleme der Gegenwart aber umso eher konsensuell lösen, je offener und diskursiver sie die grundsätzliche Frage erörtern, mit welchen programmatischen Leitideen die moralisch undurchsichtige Situation der Gegenwart gemeistert werden soll – und um diese zweite, grundsätzliche Ebene geht es an dieser Stelle: um die Formulierung von normativen Orientierungsprinzipien. Diese Überlegungen können daher nur eine klärende Hilfestellung bei der anstehenden Grundsatzdebatte bieten. Die Grünen selber müssen natürlich am Ende entscheiden, welchen Weg sie in der Zukunft einschlagen wollen.

Zunächst ist daher zu skizzieren, welche ideenpolitischen Leitbegriffe ich heute nicht für geeignet halte, um der Partei der Grünen als normative Richtschnur zu dienen (I). Erst danach werde ich einen Vorschlag unterbreiten, wie eine tragfähige, hinreichend komplexe Leitidee für die Zukunft verfasst sein könnte; der Grundgedanke wird hier sein, dass nur ein radikal erweiterter und dezidiert pluralistischer Gerechtigkeitsbegriff dazu in der Lage ist, die ursprüngliche grüne Intuition einer Sicherung der Integrität unserer sozialen Lebensverhältnisse zu bewahren (II). Zum Abschluss will ich nur eine knappe, gut gemeinte Warnung aussprechen, die sich auf eine Gefahr bezieht, welche sich aus dem Projekt einer Erweiterung des Begriffs der sozialen Gerechtigkeit ergeben kann (III).

I.

In den letzten Jahren lassen sich für den interessierten Beobachter mindestens drei normative Grundmotive finden, die innerhalb der grünen Partei als Kandidaten für eine Leitidee zu fungieren scheinen, mit deren Hilfe flügelübergreifend die bedrohte politisch-moralische Identität zurückgewonnen werden soll – ich will sie der Einfachheit halber die Idee der "Natur", der "Zivilgesellschaft" und schließlich der "Bürgerrechte" nennen. Die erste dieser Ideen besitzt insofern traditionell das größte Gewicht, als sie als das Ergebnis einer weltanschaulichen Radikalisierung derjenigen moralischen Intuitionen verstanden werden kann, mit denen ein Teil der Grünen ursprünglich angetreten ist: Aus der Erfahrung, in welchem Maße die natürlichen Existenzvoraussetzungen der Gattung durch technologischen Raubbau und industrielles Wachstum inzwischen bedroht werden, ist hier schnell die Konsequenz eines Eigenrechts der Natur gezogen worden, das die Partei gewissermaßen advokatorisch zu vertreten habe. Insofern fungiert "die Natur", verstanden als Inbegriff aller schützens- und erhaltenswerten Naturvorgänge, bis heute als ein Leitbegriff, aus dem die Partei ihre politisch-moralische Identität beziehen soll. Dieser Moralisierung des menschlichen Naturverhältnisses, sicherlich eine der stärksten Antriebskräfte sozialer Bewegungen in den letzten Jahrzehnten, steht recht unvermittelt eine zweite Leitidee gegenüber, die ihre Herkunft nicht minder ursprünglich in einer sozialen Bewegung hat: Unter Wiederbelebung älterer Traditionsbestände programmatisch verwendet von den osteuropäischen Oppositionsbewegungen, besitzt der Begriff der "Zivilgesellschaft" für Teile der Grünen heute eine leitmotivische Bedeutung, weil er als Schlüssel zur Bewältigung all der politischen Probleme gilt, die sich jenseits des prekären Naturverhältnisses der Gattung stellen. Der Grundgedanke ist hier sehr einfach und verdankt sich im Wesentlichen einer ethischen Aufladung der alten Kategorie der "demokratischen Öffentlichkeit": Unter Zurückdrängung administrativer Staatsleistungen soll sich eine Sphäre des zivilen Engagements von Bürgern und Bürgerinnen entfalten, die mit ihren Aktivitäten unterstützt durch Marktprozesse staatliche Aufgaben eigenverantwortlich zu übernehmen haben.

Zu dieser zweiten Leitidee der "Zivilgesellschaft" steht das dritte Grundmotiv, das ich heute bei wiederum anderen Teilen der Grünen wirksam sehe, schon deswegen in einem Spannungsverhältnis, weil es primär auf die staatliche Gewährung und Garantierung von egalitären Grundrechten zielt, also den Staat als zentralen Adressaten von politischen Forderungen begreift. Auch diese Idee der "Bürgerrechte", verstanden als Inbegriff all der staatlich garantierten Rechte, die die Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen benötigen, um von ihrer individuellen Autonomie Gebrauch machen zu können, hat ihre Wurzeln wiederum in den Anfangszeiten der Grünen als sozialer Bewegung; denn bis heute gehören zu dem traditionellen Kern der Bewegung auch jene sozialen Minderheiten, die um die rechtliche Anerkennung ihrer kulturellen oder sexuellen Differenz kämpfen. Auftrieb hat die Idee der "Bürgerrechte" später dann noch einmal durch die Einbeziehung ethnischer Minderheiten erhalten, deren rechtliche Stellung in der Bundesrepublik auf Grund des fortwirkenden ius sanguinisstets prekär oder unvollständig war. Insgesamt kann somit in der Politisierung der "Bürgerrechte" im Namen von kultureller Pluralität eine dritte Leitformel gesehen werden, von der zumindest ein Teil der Partei heute glaubt, dass sie für die moralisch-politische Identitätsbildung geeignet sei.

Die Lösungen, die sich im Rückgriff auf diese drei konkurrierenden Leitideen auf die heute drängenden Probleme ergeben, sind nicht nur jeweils ganz andere; die eigentliche Schwierigkeit liegt vielmehr darin, dass mit den verschiedenen Schlüsselbegriffen moralische Aufmerksamkeiten und soziale Problemwahrnehmungen einhergehen, die sich so wenig miteinander berühren, dass eine Entstehung von innerparteilichen Diskursbarrieren unvermeidlich scheint. Ob die Natur als ein schützenswertes Grundgut verstanden, das zivile Engagement der Bürgerinnen und Bürger als förderungswürdiges Ziel ins Auge gefasst oder schließlich eine Erweiterung der Bürgerrechte als Aufgabe staatlicher Politik begriffen wird, stets schließen sich die unterschiedlichen Zweckbestimmungen wechselseitig so stark aus, dass eine programmatische Vermittlung oder gar Integration gar nicht möglich scheint. Meine These ist: Keine der drei Leitformeln ist geeignet, zu einer normativen Integration der beiden jeweils anderen Ideenkomplexe und Themenhorizonte beizutragen; für sich genommen, stehen die drei Grundmotive vielmehr jeweils für historische Erfahrungsgeschichten der grünen Bewegung, die heute unvermittelt aufeinander prallen müssen, wenn sie nicht auf einer höheren Reflexionsstufe noch einmal integriert werden können. Die größte Gefahr geht in dieser Hinsicht von der Tendenz aus, "die Natur" als solche grundsätzlich zu einem Rechtssubjekt, zu einem Träger von moralischen Ansprüchen zu überhöhen, demgegenüber wir die Pflicht der Erhaltung und des Schutzes zu erfüllen haben; nicht dass angesichts von marktbereinigenden Massenschlachtungen, von Klimakatastrophe und Regenwaldzerstörung die moralischen Intuitionen nicht gut verständlich wären, die sich hinter einer solchen Substanzialisierung der Natur verbergen; aber ganz abgesehen von den philosophisch-begrifflichen Problemen, die mit einer derartigen Tendenz einhergehen, schließt die Überhöhung der Natur zum Rechtssubjekt jede Bezugnahme auf gesellschaftliche Interessen und Ansprüche aus, sodass der demokratische Wille der Bürgerinnen und Bürger zu einer vernachlässigbaren Größe zu werden droht. Die Natur kann, plakativ gesprochen, nur dann zu einer Materie politischen Handelns werden, wenn sie nüchtern als eine, allerdings wesentliche, Voraussetzung unserer sozialen Lebenswelt begriffen wird; die Frage, wie wir mit dieser naturalen Bedingung umgehen, stellt sich daher stets nur im Lichte der höchst wandelbaren Vorstellungen, die wir in Bezug auf die Lebensqualität unserer Gesellschaft und möglicherweise auch auf die der nächsten Generationen besitzen. Auf jeden Fall führt von der Idee der "Natur" als Rechtssubjekt keine konzeptuelle Brücke hinüber zu jenen anderen Themen und Belangen, die die Grünen sich seit ihren Anfängen zum Ziel gesetzt haben; wenn, dann muss die Natur daher auf eine andere Weise, nämlich entsubstanzialisiert und als schützenswerte Grundlage unserer Lebenswelt gedacht, zu einem Kernelement der politischen Programmatik der Grünen werden.

Vergleichbare Gefahren, wie sie mit dem Programm einer substanziellen Naturethik einhergehen, sehe ich auch in der neuerlich beinah parteienübergreifend verfochtenen Idee der "Zivilgesellschaft" angelegt. Gewiss, auch in diesem Leitbegriff sind politisch-moralische Intuitionen gebündelt, die jedem überzeugten Demokraten unmittelbar plausibel erscheinen dürften und die daher eine beherzte Verteidigung verdienen: Dass es in einer liberalen Demokratie wünschenswert ist, wenn die Bürgerinnen und Bürger in der Öffentlichkeit nicht nur politische Belange aktiv diskutieren und wirksam vorentscheiden, sondern auch durch ihr praktisches Engagement soziale Aufgaben selbstverantwortlich mit übernehmen, scheint mir in jedem Fall eine heute ganz selbstverständliche und umsetzungsbedürftige Vorstellung zu sein. Aber schon bei Hannah Arendt, die ja mit Recht inzwischen als geistige Mutter der normativen Idee der "Zivilgesellschaft" gilt, zeichnet sich eine Gefahr ab, die von den Verteidigern und Protagonisten jenes Gedankens häufig unterschätzt, wenn nicht vollständig übersehen wird: Mit der ausschließlichen Konzentration auf die zivile Sphäre des bürgerlichen Engagements gerät nämlich aus dem Blick, dass es für den Einzelnen einer Reihe von sozialen und ökonomischen Voraussetzungen bedarf, bevor er oder sie sich in Freiheit und ohne Scham in der Öffentlichkeit aktiv zu engagieren vermag. Die Idee der "Zivilgesellschaft" tendiert dazu, diese vorpolitischen Bedingungen ziviler Aktivitäten deswegen außer Acht zu lassen, weil sie wiederum nur in Form von sozialen und politischen Rechten durch den Staat zu Gewähr leisten sind, dessen bürokratische Macht doch gerade eingeschränkt werden soll. Ich möchte auch an dieser Stelle nicht auf die philosophisch-begrifflichen Hintergründe eingehen, die erklären könnten, warum es zu einem solchen dunklen Fleck in der Konzeption der "Zivilgesellschaft" hat kommen können; entscheidend ist für mich hier allein, dass dieser Leitbegriff unter Vernachlässigung sozioökonomischer Belange völlig einseitig auf die zivile Sphäre bürgerschaftlichen Engagements setzt und daher auch von hier aus keine Brücke zu den beiden anderen Schlüsselthemen zu schlagen ist.

Es bleibt die Idee der "Bürgerrechte", eine politisch ehrwürdige, unverzichtbare Programmatik, für die in der Bundesrepublik in besseren Tagen einmal die FDP einstand, bevor sie zur Partei allein des "Wirtschaftsliberalismus" geworden ist. Ganz ohne Zweifel übernehmen die Grünen, wenn sie sich heute im Namen eines kulturellen und ethnischen Pluralismus zum Anwalt weiter auszubauender Bürgerrechte machen, eine für unser Land unverzichtbare Rolle; keine andere Partei hat sich in den letzten Jahren so zielstrebig und ambivalenzfrei zu einer sachlichen und sozialen Erweiterung von Individualrechten bekannt, mit deren Hilfe Frauen, Homosexuelle oder ausländische Mitbürger in die Lage versetzt werden sollen, über ihr Leben autonomer als bislang zu entscheiden. Aber erneut stellt sich die Frage, ob diese Zielsetzung allein und für sich genommen geeignet ist, um die weit verzweigten, moralischen Intuitionen, die bei den Grünen mit gutem Grund anzutreffen sind, auf einen einzigen Nenner zu bringen sind; wie soll die Idee der "Bürgerrechte", vor allem dann, wenn ihr eine klare Antwort auf die Frage des Worumwillens dieser Rechte fehlt, dazu in der Lage sein, die beiden anderen Themen des menschlichen Naturverhältnisses und der "Zivilgesellschaft" sinnvoll zu integrieren? Meines Erachtens stellt diese normative Leitvorstellung die größte Annäherung an die übergreifende Zielperspektive dar, die die Grünen heute nötig haben, um zu einer politisch-normativen Identität zu finden; aber auch die "Bürgerrechte" bedürfen erst einer Uminterpretation, gewissermaßen einer normativen Auffrischung, um vielleicht als Schlüssel zu einer Verknüpfung aller drei moralischen Intuitionen fungieren zu können. Damit komme ich zum II. Teil, in dem ich eine solche einheitsstiftende Programmatik in groben Zügen und nur annäherungsweise zu umreißen versuche.

II.

Die drei Leitformeln, deren Grenzen ich bislang aufgezeigt habe, lassen sich auch so verstehen, dass sich darin jeweils Oppositionshaltungen gegen Entwicklungstendenzen artikulieren, die für die hoch entwickelten, kapitalistischen Gesellschaften des Westens seit Jahrzehnten typisch sind: Im moralisch hochgezogenen Naturbegriff kommt, wie leicht zu sehen ist, der Widerstand gegen das unkontrollierte Wachstum der Industriegesellschaften zum Ausdruck; im Begriff der "Zivilgesellschaft" artikuliert sich der Widerstand gegen die entdemokratisierenden Effekte der Sozialstaatsentwicklung; und in der Idee der "Bürgerrechte" schließlich wird Einspruch erhoben gegen einen kulturell homogenisierten Rechtsstaat, in dem Minderheiten unterschiedlichster Art bislang keine volle rechtliche Anerkennung haben finden können. Zwischen diesen drei Gruppen von Dissidenten ist, so habe ich zeigen wollen, keine programmatische, zielorientierte Vermittlung möglich, solange sie ihre Einsprüche und Erfahrungen nicht in einem anderen politisch-moralischem Vokabular formulieren; denn die jeweils verwendeten Leitbegriffe verhalten sich schon auf Grund ihrer unterschiedlichen Assoziationsfelder viel zu exklusiv gegeneinander, als dass sie sich in einem einzigen Programm bruchlos verschmelzen ließen. Etwas anderes wäre es freilich, wenn die Aufgabe einer konzeptuellen Vermittlung auf einer höheren Reflexionsstufe angegangen würde, als es mir bislang der Fall zu sein scheint; was bisher in einer bestimmten Sprache an Widerstandserfahrungen artikuliert worden ist, müsste dann gewissermaßen bis zu dem normativen Punkt verallgemeinert werden, an der sich Gemeinsamkeiten mit den beiden anderen Positionen und Zielperspektiven zeigen. Reflexionssteigerung würde für die Grünen dann heute bedeuten, auf einer höheren Stufe der Verallgemeinerung nach der politisch-moralischen Schnittstelle zu suchen, an der die drei Strömungen sich hinreichend berühren und zu einer einheitlichen Programmatik verschmolzen werden können. Ein solches Verfahren mag auf den ersten Blick wie ein rein akademisches Unternehmen wirken, geeignet vielleicht, um theoretisch die Idee eines sich überlappenden Konsenses in weltanschaulich pluralisierten Gesellschaften festzuhalten; mit diesem Vorschlag ist aber doch nichts anderes als der notwendige Versuch gemeint, gedanklich den übergreifenden Gesichtspunkt zu erkunden, in dem die konstitutiven Politikbezüge der Grünen gemeinsam Ausdruck finden können. Ich für meinen Teil sehe keine Alternative für die Partei, als sich durch Steigerung von Reflexivität derjenigen moralischen Gemeinsamkeiten zu versichern, die auf abstrakterer Ebene als Ausdruck all der in ihr vertretenen Interessen gelten können.

Ein geeigneter Weg, um zu einer derartigen Reflexionssteigerung zu gelangen, scheint mir heute in dem Versuch zu liegen, die untergründigen Gemeinsamkeiten freizulegen, die der Bewegung der Grünen ursprünglich einmal den Anstoß gegeben haben. Die zwanzig Jahre, die die Gegenwart von den Anfängen der Bewegung trennen, erlauben uns nämlich, bei allen Unterschieden und Divergenzen mehr moralische Übereinstimmungen wahrzunehmen, als lange Zeit sichtbar waren; mit dem Abstand an Jahren, so ließe sich vielleicht sagen, wächst die Chance, gegen alle Verlautbarungen doch einen gemeinsamen Punkt der Reaktion auf gesellschaftliche Entwicklungsprozesse ausfindig zu machen.

Aus einer solchen zeitlichen Distanz betrachtet, zeigt sich nämlich, dass der übergreifende Bezugsrahmen der Grünen von Anfang an in einem moralisch gesteigerten Sensorium für die Integrität unserer sozialen Lebensformen bestanden hat: Das, worauf die unterschiedlichen Flügel der Bewegung gemeinsam mit Protest reagiert haben, das, was gemeinsam an gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen kritisiert wurde, waren Beschädigungen oder Verletzungen dessen, was wir für den Inbegriff einer intakten, vielleicht einer humanen Form des sozialen Zusammenlebens halten müssen – ob gegen den Raubbau an natürlichen Energiequellen vorgegangen wurde, ob die rechtliche Unterprivilegierung von Homosexuellen der Gegenstand der Kritik war oder ob die Bürokratisierungstendenzen des Sozialstaates zum Angriffsziel wurden, stets sollte damit eine derjenigen Bedingungen eingeklagt werden, die für das individuelle Wohlergehen in der Gesellschaft als unverzichtbar gelten können. Allerdings sind mit einer solchen vagen Charakterisierung nur erst die moralischen Intuitionen benannt, die den Beteiligten damals selber als Gemeinsamkeiten vor Augen hätten stehen können; das aber reicht noch nicht aus, um den normativen Kern der Neuerungen zu verstehen, die in den breit gestreuten Protesten der grünen Bewegung damals zum ersten Mal sichtbar werden konnten. Diese untergründige, sozusagen unbewusste Innovationsleistung tritt erst in den Blick, wenn wir die soeben genannten Gemeinsamkeiten noch einer weiteren Abstraktion unterwerfen und uns fragen, worin denn die verschiedenen Bedingungen der Integrität unserer Lebensform zusammenkommen, was denn der Schlüssel zum Verständnis der Voraussetzungen des individuellen Wohlergehens ist. Hier, so glaube ich, lässt sich nur antworten, dass der Leitfaden einer solchen Bestimmung allein ein erweitert gedachter Begriff der Gerechtigkeit sein kann: Gerecht ist demnach das, was es dem einzelnen Mitglied unserer Gesellschaft in Kooperation mit anderen erlaubt, seine Lebensziele in größtmöglicher Autonomie zu verwirklichen. Wenn man sich diesen internen Zusammenhang zwischen dem Gerechtigkeitsbegriff und der Idee einer integren Lebensform klargemacht hat, dann tritt an der Bewegung der Grünen etwas zu Tage, was mir tatsächlich einzigartig vorkommt: In moralischer Reaktion auf die Beschädigungen, die unseren Lebensformen durch die Paradoxien der kapitalistischen Modernisierung zugefügt werden, ist hier gewissermaßen unbeabsichtigt eine Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit entwickelt worden, die die Natur, die Kultur und die Zukunft gleichberechtigt mit einbezieht. Die Erweiterungen des herkömmlichen Gerechtigkeitsbegriffes, die auf diese Weise zu Stande kommen, bieten auch eine Innovationskraft, die die eigene Bewegung überzeugen können.

Nach herkömmlicher Auffassung bemisst sich die soziale Gerechtigkeit einer Gesellschaft an ihrer Fähigkeit, sozioökonomische Bedingungen zu Gewähr leisten, unter denen annäherungsweise individuelle Chancengleichheit herrscht; gemeint war damit stets, dass die Mitglieder der Gesellschaft unabhängig von Alter, Geschlecht und Schicht über genügend materielle Ressourcen verfügen müssen, um von ihren rechtlich garantierten Freiheiten tatsächlich Gebrauch machen zu können. Natürlich ist auch dieser, zunächst sehr enge Gerechtigkeitsbegriff im Laufe des letzten Jahrhunderts schrittweise erweitert worden, als nämlich im Zuge sozialer Kämpfe deutlich wurde, dass zu den Bedingungen der Chancengleichheit auch noch die Verfügung über immaterielle Ressourcen wie Bildung oder soziales Ansehen gehören muss; und von einer solchen, thematisch bereits erweiterten Gerechtigkeitsvorstellung hat sich dann auch die Sozialdemokratie in ihren Hochzeiten leiten lassen, um nicht nur durch materielle Umverteilungen, sondern auch durch bildungs- und kulturpolitische Maßnahmen dafür zu kämpfen, dass den Mitgliedern der Arbeiterklasse die Möglichkeiten einer autonomen Lebensgestaltung eröffnet wird. Keine der politischen Aufgaben, so möchte ich sofort betonen, die mit dieser sozialdemokratischen Zielvorstellung verknüpft sind, hat sich unter den gegenwärtigen Bedingungen erübrigt; ganz im Gegenteil, angesichts der wachsenden Tendenzen zur sozialen Exklusion wird es in Zukunft wohl sogar wieder wichtiger werden, sich der ursprünglichen Intentionen eines derartigen Konzeptes von Gerechtigkeit zu erinnern. Aber auf eine seltsame Weise ist diese gerechtigkeitstheoretische Tradition doch auch stets blind geblieben für Benachteiligungen und Beschädigungen, die nicht mit der sozioökonomischen Klassenlage, die nicht mit der Lebenswirklichkeit der Arbeiterschaft zusammenhängen; solche anderen Entbehrungen treten nämlich nur in den Blick, wenn als Maßstab für soziale Gerechtigkeit nicht die Chancengleichheit im engen Sinn, sondern die Integrität der gesellschaftlichen Lebens-form im Ganzen gilt.

Eine erste Erweiterung des herkömmlichen Gerechtigkeitsbegriffs, an der die Grünen maßgeblich beteiligt waren, konnte sich freilich noch ganz im Schatten der normativen Idee der sozialen Gleichberechtigung vollziehen; denn dass Frauen durch die erzwungene Fixierung auf Hausarbeit und Kindererziehung nicht die gleichen Chancen wie Männer besitzen, ihr Leben autonom zu gestalten, ergibt sich schon aus einer unvoreingenommenen Anwendung des Gleichheitsgrundsatzes auf Soziallagen, die nicht durch ihre Position im Produktionsprozess gekennzeichnet sind. Hier, an dieser entscheidenden Stelle, bedurfte es daher am Anfang kaum mehr als der sozialen Erweiterung des herkömmlichen Gerechtigkeitsbegriffs über den Kreis der bislang ins Auge gefassten Betroffenen hinaus. Anders verhielt es sich aber schon, als mit dem Raubbau an natürlichen Energien, ja mit der industriellen Verwertung der Natur im Ganzen Beschädigungen zu Tage traten, die sich nicht einfach als Verletzungen des Gleichheitsgrundsatzes verstehen lassen konnten; um solche Missstände moralisch anzuklagen, war es im Grunde genommen nötig, den herkömmlichen Gerechtigkeitsbegriff radikal aufzusprengen und auch die Bewahrung einer intakten natürlichen Umwelt zu einem Gebot von sozialer Gerechtigkeit zu machen. (4)

Gewiss, damit argumentiere ich umgekehrt auch, dass es nicht einer Überhöhung der Natur zu einem Rechtssubjekt bedarf, um umweltpolitische Maßnahmen und das Programm einer nachhaltigen Entwicklung öffentlich zu rechtfertigen; es reicht vielmehr aus, in den Begriff der sozialen Gerechtigkeit die Gegebenheiten der Natur mit einzubeziehen, um deutlich werden zu lassen, dass zu den Bedingungen des individuellen Wohlergehens auch die Intaktheit unserer natürlichen Umwelt gehört. Von dieser Einsicht aus ist es nun nicht mehr weit, bis dass auch die Notwendigkeit eines nächsten Schritts in der Erweiterung unseres herkömmlichen Gerechtigkeitskonzepts zu Tage treten muss. Mit der Feststellung, dass die Generation der heute Lebenden in ihren sozialen Handlungsmöglichkeiten durch Umweltzerstörungen eingeschränkt ist, vollzieht sich nämlich gleichzeitig eine Blicköffnung in eine Zukunft, in der die uns nachfolgenden Generationen von unseren ökologischen Unterlassungen bedroht sein könnten; wir verlieren gewissermaßen die Naivität, dass Ungerechtigkeiten sich immer nur auf die je eigene Gegenwart auswirken, und müssen dementsprechend die Nachgeborenen in unsere politischen Abwägungen mit einbeziehen. Auf unmerkliche Weise erweitert sich dadurch unsere Gerechtigkeitsvorstellung um einen Zukunftsbezug, der zumindest in der politischen Praxis so noch kein Mal zuvor zur Anwendung gekommen ist: Die Grünen haben, ob sie es wollten oder nicht, das herkömmliche Gerechtigkeitskonzept in den letzten Jahrzehnten radikal verzeitlicht, indem sie zukünftige Generationen als moralische Subjekte ins Spiel gebracht haben, denen gegenüber wir zu bestimmten Maßnahmen verpflichtet sind.

Schon mit den beiden Erweiterungen, die ich bislang aufgezeigt habe, könnten sich die Grünen als eine Partei der Gerechtigkeit eigenen Zuschnitts verstehen. Aber das Bild vervollständigt sich erst, wenn aus den von Anfang an verfolgten Themen und Aktivitäten noch zwei weitere Stränge herausgefiltert werden, die sich ebenfalls nur als Beiträge zu einer Bereicherung unseres herkömmlichen Gerechtigkeitsverständnisses begreifen lassen. Auch all das, was die Grünen in der Vergangenheit zur rechtlichen Integration kultureller Minderheiten unternommen haben, ist natürlich nur dann angemessen zu begreifen, wenn es in seiner gerechtigkeitstheoretischen Dimension gesehen wird. Das klassische Gerechtigkeitskonzept war, so lässt sich ohne Übertreibung sagen, für all jene Benachteiligungen eigentümlich blind, die sich aus der Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder kulturellen Minorität ergeben können; ob nun Homosexuelle, Arbeitsimmigranten oder religiöse Minderheiten, auf derartige Gruppen wurde das Prinzip der Chancen-gleichheit nur sehr unvollständig angewendet, nicht zuletzt wohl auch deswegen, weil es untergründig stets das Normalvorbild des weißen, männlichen Haushaltsvorstands gab. Mit dieser höchst einseitigen Anwendungspraxis haben die Grünen in dem Augenblick Schluss gemacht, in dem sie sich aktiv für die rechtliche und kulturelle Gleichstellung jener minoritären Gruppen einzusetzen begannen; was auf dem damit beschrittenen Wege zu Stande kam, war eine nachhaltige Erweiterung des herkömmlichen Gerechtigkeitskonzepts um die Einflussgröße der "Kultur" – auch kulturelle Differenzen müssen fortan Berücksichtigung finden, wenn es im Namen der Gerechtigkeit um politische oder rechtliche Maßnahmen geht, durch die die Mitglieder benachteiligter Gruppen zur Ausübung ihrer Autonomie in die Lage versetzt werden sollen. (5)

Schließlich muss noch jenes politische Anliegen erwähnt werden, das bei den Grünen heute vor allem in dem zweischneidigen Begriff der "Zivilgesellschaft" Fortbestand hat. Falsch an der damit verknüpften Vorstellung finde ich, so hatte ich gesagt, dass sie tendenziell die staatlichen und rechtlichen Vorleistungen vergessen lässt, die nötig sind, damit alle Bürgerinnen und Bürger sich überhaupt aktiv an der Praxis zivilen Engagements beteiligen können; aber als vollkommen unproblematisch, ja als höchst plausibel muss die Idee gelten, dass es in demokratischen Rechtsstaaten für die öffentliche Diskussion und Praxis der Bürgerschaft keine obere Grenze geben kann, weil sich genau darin die Idee der demokratischen Volkssouveränität verwirklicht. (6) Übersetzt in das gerechtigkeitstheoretische Vokabular, das ich hier zu entwickeln versuche, ergibt sich aus dieser Einsicht, dass sich die Gerechtigkeit unserer Gesellschaften auch am Maß der Sicherstellung von intakten demokratischen Öffentlichkeiten bewährt; die Eröffnung und Erweiterung solcher Partizipationschancen ist deswegen ein Gebot sozialer Gerechtigkeit, weil nur auf derart gebahnten Wegen die Bürgerinnen und Bürger von ihrem politischen Recht Gebrauch machen können, an der Gestaltung ihres sozialen Lebensraumes aktiv mitzuwirken.

Wenn man mir bis zu diesem Punkt gefolgt ist, dann dürfte inzwischen klar geworden sein, dass ich als das vermittelnde Glied zwischen den verschiedenen Zielsetzungen der Grünen nur eine dezidiert erweiterte Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit begreifen kann. Eine reflexive Vergewisserung über das, was die Bewegung und die Partei in den letzten zwei Jahrzehnten an Veränderungen bewirkt haben, bringt einen Lernprozess ans Licht, der sich wahrscheinlich größtenteils hinter dem Rücken der Beteiligten vollzogen hat: In moralischer Reaktion auf die Paradoxien der kapitalistischen Modernisierung haben die Grünen unmerklich, ja häufig nicht einmal intentional, Erweiterungen an unserer herkömmlichen Idee von sozialer Gerechtigkeit vorgenommen, die nötig waren, um die neu entstandenen Herausforderungen bewältigen zu können. Die Einbeziehung der Natur, die Hervorhebung des kulturellen Pluralismus, die Verzeitlichung in Richtung zukünftiger Generationen, alles das sind Innovationen und Bereicherungen, ohne die eine Vorstellung sozialer Gerechtigkeit heute nicht mehr zeitgemäß wäre. Daher sollten Sie Ihre reflexiven Kräfte stärken, sich Ihrer untergründigen Gemeinsamkeit in einer radikalisierten Idee von sozialer Gerechtigkeit vergewissern und genau das zum Kern Ihres zukünftigen Programms machen.

III.

Es hätte etwas Lächerliches, würde ich meinen Beitrag durch die knappe Aufzählung einiger politischer Problemfelder beschließen, anhand derer die Vorzüge eines erweiterten Begriffs der sozialen Gerechtigkeit zu Tage treten könnten. Zwar bin ich davon überzeugt, dass sich derartige Plausibilisierungen mit Blick auf einige besonders markante Herausforderungen unschwer vornehmen ließen; angefangen von der Notwendigkeit, Familienarbeit und Kindererziehung zukünftig finanziell zu entlohnen, bis hin zu Gegenmaßnahmen gegen eine vollkommene Aushöhlung des Leistungsprinzips durch unverdientes Anwachsen von Vermögensgewinnen scheinen sich hier viele Projekte aufzudrängen, die Konsequenzen einer solchen Erweiterung des Gerechtigkeitsbegriffs wären. Aber statt über derartige Pläne laienhaft zu spekulieren, will ich lieber mit einem ganz anderen, sehr kurzen Gedankengang schließen. Wenn es stimmen sollte, dass ein erweiterter Gerechtigkeitsbegriff das geheime Zentrum der grünen Programmatik ausmacht, so erwächst daraus eine Gefahr, die ich bislang vollkommen unerwähnt gelassen habe: Über all die Erweiterungen und Radikalisierungen des Gerechtigkeitsbegriffs kann es nämlich leicht geschehen, dass dessen normativer Kern unversehens aus dem Blick gerät. Angesichts der sozialen Exklusionen, die die neoliberale Enthemmung des Kapitalismus heute mit sich bringt, wäre das aber eine fatale Entwicklung; jede Politik der Gerechtigkeit muss, bei aller Notwendigkeit von zeitgemäßen Erweiterungen, zuallererst und im Wesentlichen eine Politik im Namen und zu Gunsten der sozial Schlechtestgestellten sein. Allerdings verändert sich diese unterste soziale Position jeweils mit dem politischen Thema, das zum Zwecke der Erweiterung von sozialer Gerechtigkeit wiederum in Angriff genommen wird: In Bezug auf die ökologischen Zielsetzungen, die die Grünen verfolgen, sind die sozial Schlechtestgestellten sicherlich die verelendeten Massen in der Dritten Welt, die unter dem Export von Umweltbelastungen und der forcierten Energieausbeutung in ihren eigenen Ländern leiden; in Bezug auf das Ziel einer Erweiterung demokratischer Öffentlichkeiten, welches die Grünen ebenfalls verfolgen, sind die Schlechtestgestellten zweifellos die sozial Aus-geschlossenen, die ohne Bildungsabschlüsse und Arbeitsmarktchancen kaum am gesellschaftlichen Leben partizipieren können; und in Bezug auf das Ziel des kulturellen Pluralismus schließlich, das die Grünen seit Jahren mit großem Engagement betreiben, sind die Schlechtestgestellten ganz ohne Frage die Asylbewerber, die in all ihrer Rechtlosigkeit keine Chancen zur Bewahrung ihrer kulturellen Traditionen besitzen. Es dürfte ein einzigartiger Vorzug der Grünen sein, dass das Sensorium der Mitglieder für die Verletzbarkeiten der sozialen Lebenswelt groß genug und ihr Gerechtigkeitskonzept hinreichend komplex ist, um den weitgehend stummen Forderungen aller drei sozialen Gruppen gleichermaßen Gehör zu verschaffen.

Siehe zur Diskussion über Bündnis 90/Die Grünen in dieser Ausgabe auch die ,,Debatte", ab Seite 42.

 

Anmerkungen:

Für eine Vielzahl wichtiger Erläuterungen und Empfehlungen möchte ich mich bei Peter Siller herzlich bedanken; hilfreich waren zudem Kommentare, die ich von Rainer Forst, Rahel Jaeggi und Martin Saar erhalten habe.

1 Jürgen Habermas, Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien, in: Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt/Main 1985, S. 141-163.

2 Mary Kaldor, Neue und alte Kriege. Organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung, Frankfurt/Main 2000.

3 Joachim Raschke, Die Zukunft der Grünen, Frankfurt/Main 2001.

4 Ansätze dazu finden sich in den Beiträgen von Angelika Krebs, Bernard Williams und Martin Seel in: Angelika Krebs (Hg.), Naturethik. Grundtexte der gegenwärtigen tier- und ökoethischen Diskussion, Frankfurt/Main 1997.

5 Vgl. exemplarisch: Will Kymlicka, Multicultural Citizenship. A Liberal Theory of Minority Rights, Oxford 1995.

6 Vgl. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt/Main 1992, bes. Kap. VII und VIII.

 

 

Siehe zum Thema in der Kommune auch:
Willfried Maier: ,,Modernisierungskritische Modernisierer?" Überlegungen zur Strategie der Grünen. Teil 1 bis 4 (3, 4, 5 + 7/96)
Helmut Wiesenthal: Bündnisgrüne in der Lernkurve: Erblast und Zukunftsoption einer Regierungspartei (5/99)
Wolf-Dieter Narr: Eine politische Wende? Eine neue Politik? Überlegungen aus vielfach gegebenem Anlaß (6/99)
Richard Herzinger: Nach den großen Kränkungen. Die Grünen überleben nur als linke, liberal-libertäre Modernisierungspartei (9/99)
Otfried Höffe: Gerechtigkeit in Zeiten der Knappheit (10/99)
Willfried Maier: Politische Freiheit braucht Bürgeraktivität. Öffentliche Dienste demokratisch organisieren (2/00)
Klaus Dräger: Wie stabil ist das neue Konsensmodell? Gesellschaftliche Potenziale für eine Alternative zur ,,Neuen Mitte" (6/00)
Hendrik Auhagen: Wozu eigentlich noch Grüne? Für ein Politikerverständnis der produktiven Ambivalenz (1/01)

 

 

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Zeitschrift Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur.

Kühl-Verlag (Frankfurt/Main)

Ausgabe April 2001 (19. Jg., Heft 4/2001)