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ver.di: Fusion der Superlative?

Redaktion: Michael Blum

Die Gewerkschaften befinden sich gegenwärtig in der schwierigsten Umbau- und Umbruchphase seit 1945. Sie ist Teil der epochalen gesellschaftlichen Umbruchsituation, die Oskar Negt ... als einen gesamtgesellschaftlichen Zustand beschreibt, ‚in dem alte Werteorientierungen und Lebenseinstellungen nicht mehr unbesehen gelten und neue noch nicht da sind, aber intensiv gesucht werden. Diese Zwischenwelt hat einen gewaltigen Orientierungsbedarf’", schreiben Klaus Lang und Jupp Legrand anlässlich der IG Metall "Zukunftsdebatte" in den Gewerkschaftlichen Monatsheften (2/01).

Seit 1991 haben die Gewerkschaften jedes dritte Mitglied verloren, insgesamt vier Millionen Menschen. Und: Wie bei anderen Interessenvertretungen schreitet auch bei den Gewerkschaften die Alterung voran: Nur etwa fünf Prozent der 7,7 Millionen Mitglieder des DGB sind jünger als 25 Jahre.

Mit der DAG, DPG, HBV, ÖTV und der IG Medien haben sich im März 2001 fünf Gewerkschaften mit drei Millionen Mitgliedern in mehr als 1000 Berufen zu ver.di zusammengeschlossen. In den 13 Fachbereichen dominieren ÖTV und HBV: Sie haben zusammen zwei Drittel der Mitglieder. Neben der IG Metall wurde ein zweiter Machtblock installiert.

Der FAZ-Autor Nico Fickinger (15.3.01) bewertet diesen Zusammenschluss als "eine Fusion von wahrhaft historischer Dimension: Sie bedeutet nicht nur eine völlige Abkehr vom bisherigen Konzentrationsmuster innerhalb des Deutschen Gewerkschaftsbundes, nach dem kleine Organisationen einfach von den Großen geschluckt werden; sie führt auch die Angestellten-Gewerkschaft nach fünf Jahrzehnten Trennung wieder unter das Dach des DGB zurück. Verdi ist daher nicht weniger als die erste Generalrevision der Zuständigkeiten und Organisationsstrukturen seit 1945. Fraglich ist allerdings, ob eine Konzentration im Gewerkschaftslager die richtige Antwort auf den Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft ist".

Alexander Hagelüken bejaht dies in der Süddeutschen Zeitung (19.3.01), warnt aber auch: "Die Riesengewerkschaft, geboren aus der Not, durchgesetzt im Streit, könnte erstmal lange Zeit mit sich selbst beschäftigt sein. Darunter würden dann allerdings nicht nur die Mitglieder leiden. Verdi verspielte auch ihre größte Chance: Eine Neudefinition gewerkschaftlicher Politik, von der alle Bürger profitieren würden, vor allem die Arbeitslosen."

Tatsächlich standen die Gewerkschaften zuletzt für Besitzstandswahrung der Arbeitsplatzbesitzenden und weniger als Motor der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in der Kritik: "Die Gewerkschaften", notiert Barbara Dribbusch in der taz (16.3.01), "können den moralischen Anspruch oft nicht mehr einlösen, für den sie angetreten sind: die Solidarität der Schwachen untereinander. Ein Kollektiv der gleich Schwachen gibt es nicht mehr, in der Arbeitswelt hat sich stattdessen eine neue, heimliche Rangordnung herausgebildet: die Rangordnung der Schwachen."

Über die Ambivalenz der Gewerkschaften zwischen "Gegenmacht" und "Ordnungsfaktor" schrieben Ingrid Kurz-Scherf und Bodo Zeuner in einem erhellenden Beitrag für die Gewerkschaftlichen Monatshefte (März 2001, zit. nach FR, 17.3.01): "Die Position der deutschen Gewerkschaften in und gegenüber der gegenwärtigen Phase des grundlegenden sozio-ökonomischen Wandels schwankt zwischen der Verteidigung der Errungenschaften der Vergangenheit und der Mitwirkung an einer umfassenden Restrukturierung der modernen Gesellschaften. In dieser widersprüchlichen Gleichzeitigkeit von Opposition und Kooperation setzt sich die alte Ambivalenz der Gewerkschaften als ,Gegenmacht‘ und ,Ordnungsfaktor‘ fort; sie ist aber gleichzeitig Ausdruck des strukturellen Problems der Gewerkschaften als einer Vermittlungsagentur unterschiedlicher und widersprüchlicher Interessen – und zwar nach innen wie nach außen – in einer Situation des grundlegenden Wandels von Interessenkonstellationen, Handlungsbedingungen und -herausforderungen."

Ist ver.di also "eine Gründung zur Unzeit", wie die FAZ (20.3.01) glaubt? "Die Globalisierung weist in Richtung Subsidiarität, Wettbewerb und Markt. ... Verdi hat gute Chancen, als Supernova der Gewerkschaftsbewegung in die Bücher der Wirtschaftsgeschichte einzugehen: als ein Stern, der unter seiner Masse explodiert und dann zu einem weißen Zwerg schrumpft, dessen rasende Rotation hochenergetische Blitze aussendet. Das Universum der Weltwirtschaft expandiert unterdessen ruhig weiter."

Kurz-Scherf/Zeuner analysieren demgegenüber differenzierter und sehen auch Chancen: "Das strukturelle ,Dazwischen‘ der Gewerkschaften wird in der aktuellen Phase eines raschen und umfassenden Wandels gleichsam verdoppelt und dynamisiert. In der gegenwärtigen ,Zwischenzeit‘ ändern sich die Bedingungen, unter denen Gewerkschaften operieren, die Herausforderungen, mit denen sie dabei konfrontiert sind, wie auch die Gewerkschaften selbst. Nicht nur die Gewerkschaften befinden sich in einem Schwebezustand zwischen ,nicht mehr‘ und ,noch nicht‘, in dem sich die Erosion des Vergangenen mit einer großen Unsicherheit über das Zukünftige überkreuzt. Gerade was den Struktur- und Bedeutungswandel von Arbeit – also dem primären Handlungsfeld der Gewerkschaften – betrifft, wird die aktuelle Ära oft mit dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft verglichen, die nun ihrerseits durch eine neue Formation von ,Gesellschaft‘ abgelöst werde.

Allerdings ist noch längst nicht klar, ,wohin die Reise geht‘, was an die Stelle der Industriegesellschaft treten kann und soll, und welche Rolle Gewerkschaften in der neuen Dienstleistungs-, Informations-, Medien-, Wissens- oder ,Was-auch-immer‘-Gesellschaft spielen wollen, können und sollen. Gewerkschaften sind einer Vielzahl von äußeren Einflussfaktoren ausgesetzt, aber sie befinden sich auch in einem Prozess der inneren Restrukturierung und Reformierung – teils im Sinn der Anpassung an veränderte Konstellationen und Bedingungen gewerkschaftlichen Handelns, teils aber auch im Sinn der Eröffnung neuer Handlungsspielräume und der aktiven Einflussnahme auf den sich zurzeit vollziehenden Wandel. Auch die Gründung von ver.di ist Teil einer neuen Positionierung der Gewerkschaften in und gegenüber der aktuellen ,Ära der Transformation‘, bei der es u. a. darum geht, ob die Gewerkschaften in dem hier skizzierten ,Dazwischen‘ aufgerieben werden und sich aufreiben lassen oder ob sie gerade daraus auch neue Kräfte und neuen Elan schöpfen können. ...

Die Gewerkschaften hätten auf die Notwendigkeit einer neuen Positionierung in und gegenüber dem gegenwärtigen Wandel auch anders reagieren können, als sie dies tatsächlich, insbesondere mit jener Fusionierungswelle, getan haben, aus der nun auch ver.di hervorgegangen ist – beispielsweise durch eine Stärkung des DGB als branchenübergreifender Organisation der allgemeinen Interessen abhängig arbeitender Menschen. Aus dem Mitgliederschwund und aus vielen anderen Problemen, mit denen die Gewerkschaften aktuell konfrontiert sind, hätten sie auch die Konsequenz ziehen können, dass das Prinzip der branchenspezifisch differenzierten Industriegewerkschaften der Verschmelzung der Wirtschaftssektoren und der wechselseitigen Durchdringung von Arbeits- und Lebenswelt nicht mehr angemessen ist, zumindest aber ergänzt werden muss durch nicht nur betriebs- und branchenübergreifende, sondern in stärkerem Maße auch lebensweltlich verankerte und orientierte Formen und Inhalte der Organisation sozialer Interessen an und in Bezug auf Arbeit. Die deutschen Gewerkschaften hätten gerade auch in selbstkritischer Reflexion ihres Mitgliederschwunds zu dem Ergebnis kommen können, dass es offenkundig mit der Organisation präformierter Interessen nicht (mehr) getan ist, sondern dass Gewerkschaften auch (wieder) in stärkerem Maße auf die Formierung von Interessen Einfluss nehmen müssen – und zwar nicht nur und nicht erst im Betrieb, sondern auch in Schulen und Universitäten, in Freizeiteinrichtungen und in der Öffentlichkeit, in politischen Auseinandersetzungen um nicht unmittelbar gewerkschaftlich relevante Fragen und generell in jener Sphäre der Zivilgesellschaft, der die Gewerkschaften selber zuzurechnen sind.

Eine solche Erweiterung des gewerkschaftlichen Konzepts von Interessenpolitik, insbesondere um den Prozess der Interessenbildung, aber auch um die Berücksichtigung der Komplexität von Interessenlagen, steht keineswegs im Widerspruch zu der weiterhin prioritären Verankerung von Gewerkschaften in Betrieben und betrieblichen Arbeitsprozessen und dem weiterhin zentralen Stellenwert von Tarifpolitik. Wir gehen im Gegenteil davon aus, dass sich das Mandat und das Kompetenzspektrum von Gewerkschaften nicht beliebig verschieben und/oder erweitern lässt.

Gewerkschaften sind nur als Arbeits- und Betriebspartei, als Tarifvertragspartei und als Organisation der abhängig Arbeitenden Teil der Zivilgesellschaft oder auch ,Menschenrechtspartei‘ (Negt). Gewerkschaften können die Defizite des politischen Systems und den Substanzverlust der Programmatik politischer Parteien nicht dadurch kompensieren, dass sie sich der illusionären Selbstüberhöhung zu einer Ersatzpartei hingeben. Sie müssen allerdings zur Kenntnis nehmen, dass sich die Interessen, die sie in den Betrieben und bei Tarifverhandlungen vertreten, in zunehmendem Maße außerhalb der Betriebe und der Tarifrunden formieren, und dass diese Interessen normativ geprägt und in widersprüchlich strukturierte Kontexte eingebunden sind. Außerdem sollten die Gewerkschaften sich darauf einstellen, dass sie gerade in ihren zentralen Handlungsfeldern in zunehmendem Maße der Kooperation mit anderen gesellschaftlichen Kräften und Bewegungen bedürfen, die sich weder als ,Einbahnstraße‘ noch auf Abruf, sondern nur im permanenten Austausch erreichen lässt und in der Gewerkschaften Solidarität nicht nur einfordern können, sondern auch praktizieren müssen. Für die Bewältigung der hier genannten neuen Herausforderungen gewerkschaftlicher Politik hätte es allerdings vor allem einer stärkenden Reform des DGB bedurft und nicht nur starker Einzelgewerkschaften.

Die gewerkschaftliche Fusionswelle einschließlich der Gründung von ver.di liegt zunächst auf der Linie der Stärkung spezialisierter Einzelgewerkschaften und der Schwächung des zusammenbindenden Dachverbands. ver.di bietet allerdings eine Chance, die Idee von Gewerkschaften als (Verbündete von) sozialen Bewegungen wieder zu beleben: Die Gewerkschaft der (öffentlichen und privaten) DienstleisterInnen könnte sich mit denen zusammentun, die als BürgerInnen und KundInnen auf – vor allem öffentliche – Dienstleistungen angewiesen sind, und auf diese Weise wieder etwas mehr soziale Bewegung werden."

So gerne man auch diesem positiven Ausblick folgen möchte, die Gefahren, wie sie Ulrike Füssel in der FR (21.3.01) beschrieb, sind nicht zu unterschätzen: "Politisch liegen zwischen der aufmüpfigen linken HBV und der braven DAG-Welten. Die verbalradikale IG Medien und die behäbige, von Beamtenmentalität geprägte Postgewerkschaft müssen genauso wie die zerstrittene ÖTV Solidarität und das ‚Wir‘-Gefühl entwickeln ... Spannend wird sein, welche Folgen die Gründung von Verdi für die Machtbalance im DGB zeitigt. Der Dachverband wurde durch den Akt von Berlin mit einem Schlag von zwölf auf acht Mitglieder reduziert. Die stolze IG Metall büßte ihren Platz an der Spitze ein. Wenn sie wollen, können die beiden Gewerkschaftsriesen künftig die politische Linie ohne Absprache im DGB festlegen. Damit würde die Spitzenorganisation noch mehr an Bedeutung verlieren."

 

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Zeitschrift Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur.
Kühl-Verlag (Frankfurt/Main)
Ausgabe April 2001 (19. Jg., Heft 4/2001)