Die neuen Kriege und das gewandelte Aufgabenfeld der Sicherheitspolitik

Herfried Münkler

Die neuen Kriege, wie sie im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts immer deutlichere Konturen gewonnen haben, sind vor allem dadurch gekennzeichnet, dass in ihnen die scharfe Grenzziehung zwischen Erwerbsleben und offener Gewaltanwendung mehr und mehr untergraben und durchbrochen worden ist. Die historische Regulierungsfunktion der Staaten, die nicht mehr die Monopolisten des Krieges sind, wird nach und nach ausgehöhlt. Parallelen zu Epochen vor der Errichtung des staatlichen Gewaltmonopols drängen sich auf, auch bezüglich der Opferstruktur, der militärischen Taktik und der sozioökonomischen Folgen. Die neuen, asymmetrischen Konflikte erfordern eine veränderte Sicherheitspolitik.

In diesen neuen Kriegen wird die Gewalt für diejenigen, die im Besitz von Waffen und bereit sind, diese nach Belieben zu gebrauchen, zu einer probaten Erwerbsquelle: zum Mittel purer Subsistenzsicherung für die einen, zum vorzüglichen Instrument der Bereicherung für die andern. In diesen neuen Kriegen gilt wieder die dem spanischen General Spinola, dem Söldnerführer Ernst zu Mansfeld, aber auch dem Schwedenkönig Gustav Adolf zugeschriebene Devise, wonach der Krieg den Krieg ernähren müsse. Diese Devise konkretisiert sich in Bürgerkriegsgenerälen, die durch die Vergabe von Bohr- und Schürfrechten in den von ihnen kontrollierten Gebieten in kürzester Zeit zu Dollarmillionären werden, in Warlords, die die Führung von kleinen Kriegen durch einen in großem Stil betriebenen Handel mit Rauschgift, Diamanten und Menschen finanzieren und dabei gigantische Vermögen anhäufen, weiterhin in international operierenden Söldnerfirmen, wie Executive Outcomes oder Gurkha Security Ltd., die die Produktionsexklaven großer Unternehmen in Bürgerkriegsgebieten sichern, aber auch sonst ihre Dienste jedem anbieten, der hinreichend zahlungskräftig ist, schließlich in den mit arabischen Petrodollars finanzierten Netzwerken muslimischer Kämpfer, die in fast allen Bürgerkriegen, von Nordafrika bis Südostasien, von Algerien über Tschetschenien und Afghanistan bis zu den Philippinen, in Erscheinung treten und von denen al Qaida nur das zurzeit bekannteste ist, nicht zuletzt aber auch in den nach UNO-Schätzungen etwa 300.000 Kindersoldaten, die vor allem in Schwarzafrika und Südostasien anzutreffen sind und für die der Krieg paradoxerweise oftmals die einzige Möglichkeit des Überlebens darstellt. Ich will den damit verbundenen Fragen und Problemen im Folgenden nachgehen, indem ich, erstens, einen Blick auf die Führung des Krieges in Europa vor der Errichtung und Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols werfe, sodann, zweitens, einige Charakteristika der neuen Kriege samt ihren Folgen etwas genauer ins Auge fasse, um abschließend dann einige Überlegungen zu deren Folgen für eine deutsche und europäische Sicherheitspolitik anzustellen.

I.

Seitdem die Staaten nicht mehr die Monopolisten des Krieges sind, wird die Regulierungsfunktion, die sie in Europa seit der frühen Neuzeit übernommen haben, in ihrer ganzen Tragweite sichtbar: Erst die von Seiten des Staates durchgesetzte dauerhafte Separierung von Erwerbsleben und Gewaltanwendung ermöglichte die Investition des erwirtschafteten Mehrprodukts in die Verbesserung der Produktionsausstattung sowie die allmähliche Anhebung des Lebensstandards der Bevölkerung. Mit der Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols war erstmals seit dem Untergang des Römischen Reiches wieder sichergestellt, dass dieses Mehrprodukt nicht fortgesetzt von lokalen Gewaltunternehmern und marodierender Soldateska angeeignet und abgeschöpft wurde. Dabei kann als Faustregel gelten: Je prosperierender ein Dorf, ein Landstrich oder eine Region war, desto attraktiver waren sie für Gewaltunternehmer und Streifscharen, was umgekehrt dann auch heißt, dass Armut und Kargheit einen immerhin relativen Schutz gegen die periodisch wiederkehrenden Raubzüge verfeindeter Feudalherrn, beschäftigungsloser Söldnergruppen oder auch paramilitärisch agierender Räuberbanden darstellten. Solche Konstellationen stellen zweifellos keine starken Anreize für sich langfristig amortisierende Investitionen in die Melioration der Böden, die Produktionsausstattung der Gewerbe und so fort dar.

Vor Errichtung des staatlichen Gewaltmonopols war die durchschnittliche Friedensdividende einer Region dementsprechend niedrig, was wiederum zur Folge hatte, dass auch die Anreize für die Bewohner dieses Gebietes, bei der Sicherung ihres Lebensunterhalts auf die Anwendung von Gewalt zu verzichten, relativ klein waren. So war Gewalt ein durchgängiger Bestandteil der Führung und Sicherung des Lebens. Ausnahmen stellten nur die mit Mauern und Türmen gesicherten Städte dar, die so etwas wie Inseln gesteigerter Sicherheit in einem Meer permanenter physischer Bedrohtheit bildeten. Da die Friedensdividende in den Städten deutlich höher war als auf dem flachen Lande, wurden diese zu Zentren wirtschaftlicher Prosperität. Die erhöhte Friedensdividende war freilich mit dem Erfordernis verbunden, dass ein nicht unerheblicher Teil von ihr der betrieblichen Investition oder dem privaten Konsum entzogen werden musste, um das höhere Niveau kollektiver Sicherheit in den Städten aufrechtzuerhalten: Die Stadtmauern mussten unterhalten und die städtischen Wachsoldaten wollten bezahlt werden, und schließlich war es von Fall zu Fall notwendig, dass neue Waffen oder, wie mit der Einführung von Feuerwaffen, ganze Waffensysteme angeschafft werden mussten. Das kostete Geld, und dieses Geld musste aus der Friedensdividende aufgebracht werden.

Das alles ging freilich nur so lange gut, wie die prosperierende Wirtschaft und der Reichtum einer Stadt, die gegen kleinere Gewaltunternehmer und marodierende Banden durch Mauern, Tore und Türme geschützt waren, keinem großen Gewaltunternehmer ins Auge stachen. Wo doch, brachte dieser Mauer brechende Kanonen in Stellung und verlangte Brandschatzung, also den Abkauf seiner Gewaltoption, andernfalls er die Stadt stürmen und plündern werde. Wie auch immer man sich in der Stadt in dieser Situation entschied – in der Regel präferierte man die freiwillige Zahlung und ließ es nicht zum Äußersten kommen –, ein erheblicher Teil der angesammelten Friedensdividende musste an den vor den Toren stehenden Kriegsunternehmer abgetreten werden, woraus dieser wiederum die Lehre zog, solches lasse sich bei nächster Gelegenheit wiederholen. Und war dies hinreichend oft und in immer kürzeren Abständen der Fall, so kam es vor, dass der Rat der Stadt, also gewissermaßen der regierende Ausschuss der Eigentümer, die Zahlung ablehnte und es auf einen Kampf ankommen ließ. Damit freilich riskierte er viel, denn in der Regel blieb es nicht bei der Plünderung der angehäuften Barschaften und Wertsachen, sondern endete in einem Massaker, bei dem die Häuser angezündet, die Männer erschlagen und die Frauen vergewaltigt wurden. Manch blühende Handelsstadt ist so für immer ruiniert worden.

Bei den Attacken von Gewaltunternehmern und Söldnergruppen spielten freilich nicht selten Emigranten dieser Städte eine entscheidende Rolle: Sie waren zuvor in innerstädtischen Machtkämpfen unterlegen, hatten ins Exil gehen müssen und betrieben nun ihre Rückkehr, indem sie einen Kriegsunternehmer zum Angriff anstachelten oder selbst beschäftigungslose Söldner anwarben. Nicht selten haben Konflikte der Bürgerschaft die städtischen Grenzen übersprungen und äußere Mächte in die Auseinandersetzungen hineingezogen. Es gab freilich noch eine weitere Alternative zu unregelmäßigem Gewaltabkauf und zu Plünderungsmassakern, und das war die langfristige, wenn nicht dauerhafte Indienstnahme eines Warlords in städtische Dienste, der dadurch zum regelmäßig besoldeten Kriegsunternehmer eines Stadtstaates oder Städtebundes wurde. Für die Kaufleute, Händler und Handwerker der Städte hatte dies zwar regelmäßige Aufwendungen zur Folge, die aber langfristig kalkulierbar waren und den Vorzug boten, dass sie selbst dadurch vom Waffendienst freigestellt waren. Obendrein ließ sich von dem Gewaltunternehmer nun verlangen, dass er einen Beitrag zur Sicherheit der Handelsstraßen leistete, die Umtriebe der Exilanten im Auge behielt und notfalls mit Waffengewalt gegen sie vorging, und schließlich konnte man auch, falls dies opportun erschien, dessen Gewaltpotenziale offen oder verdeckt gegen unliebsame Konkurrenzstädte lenken. Die Verbindung von Gewaltanwendung und Erwerbsleben hat in den Condottieri, den Warlords des 15. und 16. Jahrhunderts, ihre höchstentwickelte Form gefunden, bis sie im 17. Jahrhundert dann definitiv durch die Errichtung des staatlichen Gewaltmonopols beendet wurde.

Es hat den Anschein, und nicht zuletzt deswegen habe ich mich bei der Schilderung der Gewaltverhältnisse vor deren Monopolisierung durch die Staaten so lange aufgehalten, dass es mit der Erosion der staatlichen Alleinverfügung über die militärische Gewalt zu einer Reprivatisierung und Rekommerzialisierung der Kriegführung in großen Gebieten gekommen ist, die in vieler Hinsicht den geschilderten Verhältnissen ähnelt. Kaum etwas ist hier ein so sicherer Indikator für bevorstehende Kriege wie die Entdeckung von Bodenschätzen, insbesondere Öl und Diamanten, also abschöpfbarer Reichtum, und die Entstehung von Emigrantenkolonien, die als Unterstützer und Finanziers von Gewaltunternehmern auftreten können. Überall dort, wo sich Staatlichkeit nicht in jener robusten Form entwickelt und durchgesetzt hat wie im nordwestlichen Teil Europas, droht der Rückfall in eine Form des Krieges, wie sie in unserem historischen Gedächtnis mit dem Dreißigjährigen Krieg verbunden ist. Für die Franzosen mag dies im Übrigen der Hundertjährige Krieg sein, für die Engländer die Epoche der Rosenkriege. Das aber heißt auch, dass die Staatenkriege, wie sie die europäische Kriegsgeschichte des 18., 19. und noch des frühen 20. Jahrhunderts geprägt haben und die nach wie vor dem allgemeinen Begriff des Krieges seine spezifische Anschaulichkeit verleihen, bei der Perspektivierung gegenwärtiger wie zukünftiger Herausforderungen von deutlich geringerer Relevanz sind als die zeitlich sehr viel weiter zurückliegenden Konstellationen des Dreißigjährigen Kriegs sowie die historisch noch weiter zurückliegende spätmittelalterliche Kriegführung, die sich überwiegend gegen die ökonomischen Ressourcen des Gegners und nur selten gegen dessen Kriegsmacht selbst gerichtet hat. Hinsichtlich der Anforderungen an die Fähigkeiten europäischer Streitkräfte heißt das unter anderem, dass schon jetzt der operativen Führung größerer Verbände eine erheblich geringere Bedeutung zukommt als der Beherrschung und Eingrenzung von Bürgerkriegsökonomien, der Bekämpfung von Marodeuren und Banden et cetera. Darauf wird noch zurückzukommen sein.

Werfen wir zunächst noch einen analytischen Blick auf das, was ich die Konstellationen des Dreißigjährigen Krieges genannt habe: Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass die kriegerische Gewalt nur zum geringeren Teil gegen die bewaffnete Macht des Gegners, sondern vor allem gegen die Zivilbevölkerung gerichtet ist. Zwar ist es verschiedentlich zu größeren Schlachten gekommen, aber zumeist haben kleinere Scharmützel und Streifzüge, Plünderungen und Überfälle, Massaker und Brandschatzungen das Kriegsgeschehen bestimmt. Die wichtigsten Akteure dieses Krieges waren Gewaltunternehmer, die in großem Stil auftraten, Generäle, die den Krieg auf eigene Rechnung führten, sowie die das Söldnerwesen organisierenden Obristen, dazu Streifscharen und vagabundierende Soldateska sowie nicht zuletzt auswärtige Mächte, die je nach ihren Interessen und Möglichkeiten in den Krieg eingriffen, in der Regel durch die Bereitstellung von Legitimität, Geld und Waffen, gelegentlich aber auch mit eigenen regulären Streitkräften, die freilich, je länger sie auf den Kriegsschauplätzen Mitteleuropas eingesetzt waren, selbst Züge von Irregularität annahmen, wie sich am Beispiel der spanischen und schwedischen Truppen zeigt. So ist für den Dreißigjährigen Krieg eine Gemengelage charakteristisch aus privaten Bereicherungs- und persönlichen Machtbestrebungen (Wallenstein, Ernst zu Mansfeld, Christian von Braunschweig), Staatsräsonerwägungen und Expansionsbestrebungen der Politiker benachbarter Mächte (Richelieu, Bethlen Gabor) sowie Unterstützungsinterventionen zur Rettung und Verteidigung bestimmter Werte (Gustav Adolf von Schweden), außerdem ein inneres Ringen um Macht, Einfluss und Herrschaftspositionen (Friedrich von der Pfalz, Maximilian von Bayern), bei dem schließlich auch religiös-konfessionelle Bindungen, also weniger Interessen als Werte, eine Rolle spielten. Dass dieser Krieg mit kurzen Unterbrechungen schließlich drei Jahrzehnte gedauert hat, ist im Wesentlichen eine Folge dieser Gemengelage.

Der Dreißigjährige Krieg wurde beendet durch die Friedensverträge von Münster und Osnabrück, aber sieht man genauer hin, so waren es im Prinzip nicht Friedensschlüsse, die ihm ein Ende machten, sondern ein sich über Jahre hinziehender, immer wieder durch den Einbruch kriegerischer Gewalt unterbrochener Friedensprozess, der buchstäblich bis zum Schluss auf des Messers Schneide stand. Die meisten größeren Kriege unserer Tage, sieht man einmal ab von den wenigen nach klassischem Muster geführten Staatenkriegen, wie etwa dem zwischen China und Vietnam, dem Ersten Golfkrieg zwischen Irak und Iran oder zuletzt dem Krieg zwischen Äthiopien und Eritrea, ähneln dieser Gemengelage aus Werten und Interessen, staatlichen, parastaatlichen und privaten Akteuren, und vor allem sind sie gekennzeichnet durch eine Fülle von kriegsverbundenen Interessen, die von einem dauerhaften Verzicht auf Gewalt sich mehr Nach- als Voreile erwarten, also am Frieden kein ernsthaftes Interesse haben. Die Kriege im subsaharischen Afrika, vom südlichen Sudan über das Gebiet der großen Seen und den Kongo bis nach Angola, die mit dem Zerfall Jugoslawiens verbundenen Kriege, die Kriege in der gesamten Kaukasusregion, unter ihnen am prominentesten der Tschetschenienkrieg, dazu die Afghanistankriege seit Anfang der Achtzigerjahre – sie alle sind dem Modell des Dreißigjährigen Krieges sehr viel ähnlicher als den zwischenstaatlichen Kriegen vom 18. bis ins 20. Jahrhundert.

II.

Diese zunächst auf der Basis historischer Vergleiche gewonnenen Thesen lassen sich anhand harter sozialwissenschaftlicher Daten bestätigen: Bei zwei Dritteln aller nach 1945 geführten Kriege handelt es sich nicht um zwischenstaatliche Kriege im klassischen Sinn. Wie sind diese Kriege, die ich der Einfachheit halber als neue Kriege bezeichne, begrifflich zu klassifizieren? Das Angebot reicht von low intensity wars über kleine Kriege bis zu wilden Kriegen, von Bürgerkriegen über neohobbessche Kriege bis zu transnationalen Kriegen, wobei die Vielfalt und partielle Widersprüchlichkeit der Definitionen nicht für ein Defizit an wissenschaftlicher Präzision, sondern für die Unübersichtlichkeit der Konfliktgründe und Gewaltmotive steht, deren Komplexität offenbar begrifflich nicht mehr prägnant erfassbar ist. Das ist zugleich der Grund, warum ich den unscharfen, aber offenen Begriff der neuen Kriege präferiere, wobei ich mir durchaus darüber im Klaren bin, dass diese Kriege so neu eigentlich gar nicht sind, sondern eine Wiederkehr des ganz Alten darstellen.

Die bemerkenswerte Parallelität der neuen Kriege mit dem Dreißigjährigen Krieg zeigt sich nicht zuletzt an der langen Dauer dieser Kriege. Zwischenstaatliche Kriege sind im statistischen Durchschnitt nämlich eher kurz, auch wenn wir, nach wie vor unter dem Eindruck des Ersten und Zweiten Weltkriegs stehend, intuitiv anderes vermuten, während innerstaatliche oder transnationale Kriege sehr viel länger dauern. Etwa 25 Prozent aller neuen Kriege dauern länger als 120 Monate, und damit handelt es sich um die längsten Kriege, die wir seit dem 17. Jahrhundert, sprich: dem Ende des Dreißigjährigen Krieges, kennen. Das lässt sich durch die komplexe Gemengelage von Ursachen und Motiven, Interessen und Werten erklären, die in diesen Kriegen von den verschiedenen Parteien ins Spiel gebracht werden, aber auch aus dem Umstand, dass diese Kriege nicht nach dem Prinzip der Konzentration der militärischen Kräfte in Raum und Zeit, also der napoleonischen Strategie, geführt werden, sondern die Gewalt in Raum und Zeit diffundiert, es keine Fronten gibt und es dementsprechend auch nur selten zu Gefechten und eigentlich nie zu großen Schlachten kommt, sich die militärischen Kräfte also nicht aneinander reiben und verbrauchen, sondern sich gegenseitig schonen und stattdessen die Zivilbevölkerung zum Ziel der Gewaltanwendung machen.

Dementsprechend stellen sich die Verluste und Opferbilanzen der neuen Kriege dar: Handelte es sich in den Kriegen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, den Ersten Weltkrieg inbegriffen, bei 90 Prozent der Verwundeten und Gefallenen um Kombattanten im völkerrechtlichen Sinne, also um Soldaten, so hat sich diese Bilanz in den Kriegen des zu Ende gegangenen 20. Jahrhunderts ins Gegenteil verkehrt: Trotz zwischenzeitlich mehrfacher Ausweitungen des Kombattantenstatus sind bei zurückhaltender Schätzung mehr als 80 Prozent der in den neuen Kriegen Getöteten oder Verletzten Zivilisten, also völkerrechtlich Nonkombattanten. Das hat sicherlich viele Gründe; vier davon dürften besondere Erwähnung verdienen: zunächst die Umorientierung der mit kriegerischer Gewalt verfolgten Ziele vom Brechen eines gegnerischen Willens auf das Gefügigmachen der Bevölkerung, sodann die Erosion der Unterscheidung zwischen Front und Heimat, die mit der seegestützten Fernblockade und dem strategischen Bombenkrieg ihren Anfang im Staatenkrieg selbst nahm, durch die Strategien des Partisanenkrieges sowie des internationalen Terrorismus aber noch einmal eine dramatische Beschleunigung erfahren hat; sodann Verbreitung und Einsatz von Waffen, deren Wirkungen sich nicht gezielt auf Kombattanten begrenzen lassen, von Napalm- und Streubomben bis zu Antipersonenminen, die gerade in innergesellschaftlichen Kriegen weiträumig und ohne System verlegt werden. Als vierte Ursache für den hohen Anteil von Zivilisten unter den Opfern der neuen Kriege ist schließlich die mit der Deregulierung des Krieges einhergehende Entdisziplinierung der Bewaffneten zu nennen, für die das Kriegsrecht oder ein wie auch immer geartetes Militärstrafgesetzbuch keine Rolle mehr spielt. Stattdessen ist in den neuen Kriegen eine starke Resexualisierung des Gewaltgebrauchs zu beobachten: von den fast alltäglich gewordenen Vergewaltigungsorgien beziehungsweise -strategien bis zu den immer häufiger zu beobachtenden Verstümmelungen der Opfer oder der Trophäisierung menschlicher Körperteile. War die Entscheidungsschlacht der Kulminationspunkt des klassischen zwischenstaatlichen Krieges, so ist dies in den neuen Kriegen das Massaker.

In Anbetracht der skizzierten Entwicklungen spricht vieles dafür, dass die neuen Kriege, so wie dies auch beim Dreißigjährigen Krieg der Fall war, nicht mit militärischen Mitteln beendet werden können, weil sie nicht auf eine militärische Entscheidung hin angelegt sind. Die klassischen Staatenkriege des 18. bis 20. Jahrhunderts zeichneten sich, wenn man so will, durch eine umfassende Komplexitätsreduktion aus, bei der am Schluss die beiderseits aufgebotenen Streitkräfte auf einem begrenzten Gebiet und in einer begrenzten Zeit den Konflikt austrugen und entschieden. In diesem Sinne hat der Kriegstheoretiker Clausewitz die Schlacht als ein Messen der moralischen und physischen Kräfte mit Hilfe der letzteren definieren können. Alle divergierenden Motive und Absichten, Interessen und Ressourcen kulminierten in der großen Komplexitätsreduktion der Entscheidungsschlacht, weswegen anschließend unter Zugrundelegung ihrer Ergebnisse Frieden geschlossen werden konnte. Das gilt für Marengo, Austerlitz, Waterloo, Sewastopol, mit gewissen Verzögerungen Gettysburg, Königgrätz, Sedan, und es hätte 1914 auch für die Marne gegolten, wenn das Umfassungsmanöver des rechten deutschen Flügels zu einer entscheidenden Niederlage der Franzosen geführt hätte.

Von all dem kann in den neuen Kriegen nicht die Rede sein, da in ihnen nicht eine militärische Entscheidung, sondern die möglichst robuste Positionierung der jeweiligen Gruppierung das Ziel ist. Insofern kann in ihnen, auch das eine Parallele zum Dreißigjährigen Krieg, der Krieg über längere Zeit einschlafen, und es kann der Eindruck eines allmählichen Übergangs zu Friedensverhältnissen entstehen, bis die Gewalt dann plötzlich wieder auflodert und die Kampfhandlungen erneut an Intensität gewinnen. Low intensity war ist der dafür im Verlauf der Achtzigerjahre aufgekommene Begriff, der freilich nicht besagt, dass die neuen Kriege geringe Opferzahlen zur Folge hätten. Schon allein aufgrund ihrer langen Dauer, aber auch wegen der immer wieder stattfindenden Massaker an der Zivilbevölkerung, stehen die neuen Kriege, nimmt man die Sonderfälle des Ersten und Zweiten Weltkriegs einmal aus, im Hinblick auf die Opfer, aber auch die Zerstörung von wirtschaftlichen Potenzialen und sozialen Strukturen, den klassischen zwischenstaatlichen Kriegen in nichts nach. Im Gegenteil: Sie übertreffen sie zumeist bei weitem. Auch der Dreißigjährige Krieg hat für die sozio-ökonomische (nicht für die politische) Entwicklung Mitteleuropas langfristig viel tiefere Folgen gehabt als alle anderen Kriege danach.

III.

Was heißt dies für eine deutsche beziehungsweise europäische Sicherheitspolitik? Zunächst einmal, dass Interventionen in diese neuen Kriege einen völlig anderen Charakter haben, als dies bei zwischenstaatlichen Kriegen der Fall gewesen ist. 1917/18 und 1943/44 haben die USA zweimal in europäische Kriege militärisch interveniert und dadurch die Entscheidung zugunsten der Seite, für die sie Partei ergriffen haben, herbeigeführt. Dass dies bei Interventionen in innergesellschaftliche oder transnationale Kriege so nicht der Fall ist, haben die USA erstmals Ende der Sechzigerjahre in Vietnam erfahren müssen, als sie nicht in der Lage waren, einem militärisch in jeder Hinsicht unterlegenen Gegner ihren politischen Willen aufzuzwingen. So hat, pointiert formuliert, gerade die militärische Unebenbürtigkeit der Vietnamesen zur politischen und zuletzt auch militärischen Niederlage der USA geführt hat.

Generell gilt, dass militärische Interventionen, was auch immer mit ihnen bezweckt werden mag, nicht mehr auf die militärische Entscheidung zugunsten einer Partei ausgerichtet sein können, sondern in ein politisches und wirtschaftliches Maßnahmenset eingebettet sein müssen, das der militärisch irreduziblen Komplexität der neuen Kriege zumindest annähernd Rechnung trägt. Innerhalb eines solchen Maßnahmensets kommt dem militärischen Beitrag, der nötigenfalls auch einen massiven Waffeneinsatz umfassen kann, eine nicht unerhebliche Bedeutung zu – sei es im Brechen eines politischen Willens, der der Einhaltung menschenrechtlicher Mindeststandards entgegenläuft, sei es in der Unterdrückung der Gewaltoption von Bürgerkriegsparteien und Warlords, um die Spirale der Gewalteskalation anzuhalten und allmählich zurückzudrehen, sei es schließlich im Schutz internationaler Hilfslieferungen, damit diese nicht den Bürgerkriegsparteien in die Hände fallen, sondern sich tatsächlich als Steigerung der Friedensdividende auswirken.

Die reduzierte Problembewältigungskapazität militärischer Kräfte in den neuen Kriegen, also die Unmöglichkeit, mittels einer militärischen Entscheidung einen politischen Friedensschluss herbeizuführen, hat freilich die paradoxe Konsequenz, dass der Einsatz des Militärs, der in den klassischen Kriegen als das letzte Mittel der Politik gegolten hat, im Rahmen friedenserhaltender oder friedensschaffender Einsätze zu einem der ersten Mittel geworden ist und wohl auch werden muss, wenn der anschließend einzuleitende Friedensprozess in einem überschaubaren (das heißt: finanzierbaren) Zeitraum Aussichten auf Erfolg haben soll. Eher stillschweigend und womöglich ohne Bewusstsein dieser Pointe hat sich diese Veränderung in der deutschen und europäischen Sicherheitspolitik längst vollzogen, wie die Vielzahl von Auslandseinsätzen der Bundeswehr zeigt, von denen jeder einzelne vor fünfzehn Jahren noch völlig undenkbar gewesen wäre. Darin eine Militarisierung der Außenpolitik zu sehen, wie das gelegentlich zu hören ist, ist infolge des dargelegten Wandels der Kriege jedoch abwegig. Freilich besteht immer die Gefahr, dass der zeitweilig erfolgreiche Einsatz des Militärs zu dessen Überforderung durch die Politik führt, aber das ist ein in dieser Form altes Problem. Vor allem bei der drohenden Entwicklung von Bürgerkriegen kommt es darauf an, den Prozess des gegenseitigen Aufschaukelns der Gewalt durch einen bewaffneten Dritten frühzeitig zu unterbinden, die Entstehung von Raubökonomien zu verhindern und vor allem dafür Sorge zu tragen, dass nicht eine ganze Generation von Kindern unter Bürgerkriegsbedingungen heranwächst und nichts anderes kennen lernt als die Regelung von Einkommenserwerb und Sozialbeziehungen mit den Mitteln der Gewalt. Wo dies erfolgreich stattfinden soll, gehört die Entsendung von Militär in die fraglichen Gebiete zu den ersten Mitteln der Politik. Eine vorausschauende Sicherheitspolitik hat dafür Sorge zu tragen, dass dazu geeignete Streitkräfte in hinreichendem Umfang zur Verfügung stehen. Nach Stationierung des Militärs freilich ist für den Erfolg einer Intervention entscheidend, dass es gelingt, eine Friedensökonomie in Gang zu bringen und den an der Friedensdividende orientierten Gruppen und Schichten politische Dominanz zu verschaffen, der Entwicklung oder Verfestigung mafioser Strukturen entgegenzuwirken, die Infrastruktur wiederherzustellen, sodass längerfristige Investitionsentscheidungen möglich und sinnvoll sind, und schließlich durch erzieherische Maßnahmen im weitesten Sinne jene mentalen Dispositionen abzubauen, die zum Ausbruch der offenen Gewalt geführt haben. Nur wo dies der Fall ist, wird eine humanitäre militärische Intervention langfristig erfolgreich sein. Gerade in dieser Hinsicht jedoch hat bei den bisherigen Friedenseinsätzen von UNO wie NATO vieles im Argen gelegen, weil man offenbar gemeint hat, mit der Stationierung von Militär, der Bereitstellung finanzieller Mittel und dem umfassenden Hilfsangebot von Nichtregierungsorganisationen seien die wesentlichen Voraussetzungen für das Gelingen des Friedensprozesses erfüllt. Das ist zumindest dort nicht der Fall, wo sich die offene Raubökonomie des Bürgerkriegs in eine kriminelle Ökonomie transformiert, in der die alten Bürgerkriegsparteien neue Claims abgesteckt haben. Das findet regelmäßig dort statt, wo die verschiedenen Gruppierungen und Warlords den Krieg zum Aufbau von Netzwerken für den Handel mit illegalen Gütern, wie Rauschgift, Diamanten, jungen Frauen et cetera, genutzt haben. Zur Rekonstruktion von Friedensökonomien gehört mittelfristig die Zerschlagung dieser Netzwerke, die die infrastrukturellen Voraussetzungen für den nächsten Krieg bereithalten.

Das Aufgabenfeld der Sicherheitspolitik hat sich in den letzten zehn, fünfzehn Jahren dramatisch verändert: Es ist unübersichtlicher und komplexer geworden, vor allem aber ist es durch die Ablösung sicherheitspolitischer Symmetrien und die Herausforderung durch Asymmetrien gekennzeichnet. Es war nicht nur der zwischenstaatliche Krieg, der durch die Symmetrie der Kontrahenten komplexe Konstellationen übersichtlich und mit militärischen Mitteln entscheidbar machte, sondern die gesamte politische Ordnung der Staatenwelt war durch das Prinzip der Souveränität auf Symmetrie programmiert. Das hat sich mit der Rückkehr halbstaatlicher, privater, teilweise kommerzieller Kriegsakteure geändert, und diese Rückkehr ist dadurch beschleunigt worden, dass sich eine politische Weltordnung herausgebildet hat, in der nicht Symmetrien, sondern Asymmetrien dominierend sind. Die ökonomische, technologische, informationelle und nicht zuletzt militärische Überlegenheit der USA ist seit Mitte der Achtzigerjahre und definitiv seit dem Zerfall der Sowjetunion so groß, dass es auf unabsehbare Zeit keine Konkurrenten gibt, die mit den USA in eine symmetrische Konkurrenzsituation eintreten und einen symmetrischen Konflikt nach Art der klassischen Staatenkriege führen könnten – und dem steht nicht bloß der Umstand entgegen, dass es Atommächte wären, die dann gegeneinander Krieg führen würden. Aber zweifellos hat die Verfügung über Atomwaffen zu weltpolitischen Asymmetrien beigetragen, auf die einige unterlegene Mächte ihrerseits gezielt mit Strategien asymmetrischer Konfliktführung geantwortet haben. Für jeden, der unter den gegebenen Konstellationen seinen politischen Willen gegen die westliche Hegemonialmacht zur Geltung bringen oder ihn gar mit militärischen Mitteln durchsetzen will, ist es nahe liegend, auf Strategien asymmetrischer Konfliktführung zu setzen. Diese reichen von der Produktion von Bildern, die das politische oder militärische Handeln des Westens delegitimieren, bis zur Verwandlung von Zivilflugzeugen in Bomben und Hochhäusern in Schlachtfelder. Es war eine Illusion zu meinen, mit dem Ende der symmetrischen Kriege sei auch das Zeitalter der Kriege zu Ende gegangen. Sie sind durch asymmetrische Kriege abgelöst worden, und diese werden die Geschichte des 21. Jahrhunderts bestimmen. Dementsprechend hat sich eine deutsche und europäische Sicherheitspolitik nicht nur auf asymmetrische Militärstrategien, wie die Guerilla oder den Terrorismus, einzustellen, sondern sie muss auch Antworten auf asymmetrische Politikrationalitäten entwickeln, in denen komplexe Handlungsfelder auf unterschiedlichen Ebenen konkurrierend bearbeitet werden, sodass Verabredungen und Übereinkünfte weder verlässlich noch tragfähig sind. Und schließlich muss sie sich verstärkt mit asymmetrischen Legitimitäten auseinander setzen, wie sie in religiösen Fundamentalismen, aber auch in der Wiederkehr der Vorstellung vom gerechten Krieg bei westlichen Politikern und Intellektuellen beobachtet werden können. Asymmetrien in militärstrategischer, politisch-konzeptioneller und schließlich auch völkerrechtlich-legitimatorischer Hinsicht verführen bei den Überlegungen leicht zu Sicherheitsillusionen und Überlegenheitsfantasien und blockieren dadurch das Lernvermögen, während sie bei den Unterlegenen zwangsläufig eine Form von Kreativität provozieren, die auf der permanenten Veränderung des möglichen Gewalteinsatzes im politischen Feld beruht. Symmetrische Konfliktkonstellationen, und das ist wohl die wichtigste Ursache der über sie erzeugten Stabilitäten, verteilen die Chancen von Lernen und Lernverweigerung tendenziell gleichmäßig; asymmetrische Konstellationen hingegen tendieren zu deutlichen Ungleichheiten bei Lernen und Lernblockaden. Das lässt erwarten, dass wir in ausgesprochen unruhige und bewegte Zeiten hineingehen.

Der Artikel beruht auf dem Eröffnungsvortrag der 3. Außenpolitischen Jahrestagung der Heinrich-Böll-Stiftung, den der Autor am 21. Februar 2002 in Berlin gehalten hat.