Martin Altmeyer

Wir Europäer

Zwischenbilanz einer Debatte über Identität und Abgrenzung

 

Genügt die Verpflichtung auf eine gemeinsame Verfassung oder braucht es mehr, um in Europa ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, ein europäisches Wir-Gefühl zu erreichen? Jürgen Habermas hat um sich herum einen Kreis von Philosophen und Schriftstellern organisiert, denen ein auf die europäische Ebene gehobener Verfassungspatriotismus nicht ausreicht. Auch ob Europa in einen latenten Gegensatz zu den USA gebracht werden soll, wurde dann Gegenstand der Diskussion. Unser Autor zieht eine Zwischenbilanz dieser Identitätsdebatte über Europa, die zugleich eine Debatte über unsere Beziehung zu Amerika ist – und eine Fortsetzung der Diskussion in dieser Zeitschrift.

 

Die Partnerschaft Europas mit den USA ist schwer beschädigt – und mit ihr die Einheit der Europäischen Union in außenpolitischen Fragen. Um in dieser Situation das Projekt einer europäischen Identität voranzubringen, haben sich der Deutsche Jürgen Habermas und sein philosophischer Gegenspieler Jacques Derrida aus Frankreich zusammengetan, dazu der Schweizer Adolf Muschg, die Italiener Umberto Eco und Gianni Vattimo, der Spanier Fernando Savater und schließlich Richard Rorty, der als amerikanischer Gast die alteuropäische Riege komplettierte. In dem vielstimmigen, synchron in den großen europäischen Tageszeitungen erschienen, Aufruf haben sie am 31. Mai 2003 erklärt, dass die Liebe zu Europa nicht bloß auf einem dürren Grundgesetz beruht, sondern historische, moralische und mentale Ingredienzien enthält, die identitätsstiftend zu Bewusstsein gebracht werden müssen. Ein erweitertes Europa kann nur bestehen, so die Botschaft, wenn es sich seiner eigenen Identität vergewissert, sich gegen Amerika abgrenzt und dem weltpolitisch ambitionierten amerikanischen Unilateralismus eine multilaterale Alternative entgegensetzt.

Die Politik hat zu dieser medial mit großem Geschick angelegten Initiative weitgehend geschwiegen. Selbst Joschka Fischer, von dem man es doch erwarten durfte, hat sich nicht geäußert (1) – trotz oder gerade wegen der realpolitischen Brisanz der Thematik. Unvermeidlich aber werden die Fragen auf die europäische Tagesordnung kommen, die der illustre Kreis der »public intellectuals« aufgeworfen hat: Was Europa ist und was es sein möchte, welche Rolle es international zukünftig spielen kann und anzunehmen bereit ist. An den Antworten freilich scheiden sich die Geister.

 

Der Auftakt: Ein mehrstimmiges Plädoyer für die Erneuerung Europas

Ich beschränke mich hier auf eine Zusammenfassung der Hauptgedanken von Habermas, dessen Beitrag von Derrida mitunterschrieben worden ist (FAZ und Libération), sowie auf die Beiträge von Muschg (NZZ) und Rorty (SZ). Umberto Eco (La Repubblica) kommt in seinem gelassenen Plädoyer für einen engeren Zusammenschluss Europas ganz ohne Ressentiment gegen die Vereinigten Staaten aus: Amerika sei anders, aber nicht »das Andere« Europas. Gianni Vattimo (La Stampa) dagegen pariert die amerikanische Kränkung mit der Emphase eines europäischen Projekts, das »... eine andere Vision von Existenz, einen anderen Begriff vom ›guten Leben‹ ...« verkörpere.

Jürgen Habermas wählt nicht zufällig zwei signifikante Ereignisse aus der Vorgeschichte des Irakkriegs, um sein Plädoyer zu begründen. Es ist einmal die hinter dem Rücken Resteuropas zustande gekommene Ergebenheitsadresse der acht kriegswilligen europäischen Länder an die USA, die seinen Abscheu erweckt, und zum anderen die als Antwort auf diesen »Handstreich« zu verstehenden Friedensdemonstrationen vom 15. Februar 2003, die er als eine Art europäischen Gründungsakt feiern möchte. Dass sich unter den kriegskritischen Parolen der Demonstranten nicht wenige befanden, die Bush mit Saddam (oder gar mit Hitler) in einem Atemzug nannten, und dass sich rechtsradikale Gruppierungen mit offen antiwestlicher und amerikafeindlicher Stoßrichtung beteiligten, lässt Habermas unerwähnt. Ebenso die mittelosteuropäischen Länder, die sich den amerikafreundlichen Dissidenten um Aznar und Blair bekanntlich in toto angeschlossen haben. Mittelosteuropa kommt überhaupt nur in Gestalt seiner mangelnden Bereitschaft vor, die frisch gewonnene Souveränität an eine Europäische Union abzugeben – als Störenfried.

Ungeachtet dieser Auslassungen, die dem gesamten Text anhaften (und ihn beschränken; ich komme auf diese Beschränkungen zurück) laufen die weitreichenden Überlegungen von Habermas im Kern auf drei Forderungen hinaus. Erstens muss Europa sich seiner gemeinsamen historischen Erfahrungen, seines kulturellen Erbes und seiner politisch-zivilisatorischen Errungenschaften erinnern, damit es zu einer europäischen Identität findet. Zweitens muss das »avantgardistische Kerneuropa« durch eine eigenständige Außen- und Sicherheitspolitik eine Sogkraft entfalten, welche die übrigen Länder so überzeugend in die Integration hineinzieht, dass Separatismus in Zukunft keine Option mehr sein kann. Und drittens muss ein geeintes Europa dem mit »revolutionärem« Anspruch auftretenden »hegemonialen Unilateralismus« der USA seine eigene Macht entgegensetzen und für eine multilateral ausbalancierte Weltinnenpolitik nutzen, in der »nicht nur Divisionen zählen, sondern die weiche Macht von Verhandlungsagenden, Beziehungen und ökonomischen Vorteilen«.

Adolf Muschg appelliert an Europa als eine »Wertegemeinschaft«. Sie hat – auf den Erfahrungen eines hundertfünfzigjährigen Bürgerkriegs begründet – von der deutsch-französischen Versöhnung nach dem zweiten Weltkrieg modellhaft ihren Ausgang genommen und ist in den Römischen Verträgen verallgemeinert worden. Allerdings befreit er den Begriff »Kerneuropa« von seiner fatalen geopolitischen Konnotation (welche sogleich die Vorstellung eines »Randeuropas« an der Peripherie erweckt) und verwendet ihn als Metapher für die zentralen Erfahrungen, die aus der europäischen Geschichte resultieren: Sie haben sich in einer »Zivilisation der politischen Sitten« sedimentiert. Diese erkennt man einerseits an der Überwindung des »nationalen Idiotismus«, andererseits an einem besonderen »Sensorium für die Widersprüche anderer«. Was ein föderatives Europa zusammenhält, ist die »erworbene Gewohnheit, sich von fatalen Gewohnheiten zu entfernen«. Die Grenzen eines solchen Europas – so verkündet Muschg mit heimlichem Blick auf die Türkei und nicht ohne Pathos – sind nur diejenigen, »an die es ungesucht stößt, wenn es sich selbst zivilisiert«. Aber auch er plädiert für ein weltpolitisch handlungsfähiges Europa, das bei aller wünschenswerten Vielfalt im Inneren, für die ihm die Schweiz als Vorbild dient, erst durch eine gemeinsame Außenpolitik an Gesicht und an Gewicht gewinnt.

Am Vorabend einer Erweiterung der europäischen Union fürchtet Muschg nun um ihre Konsistenz nach innen und ihre Aktionsfähigkeit nach außen. Der innere Zusammenhalt scheint gefährdet, weil die »Mitgift« der Beitrittsländer aus dem »neuen Europa« auch den Spaltkeim jener nationalen Identität enthält, die sich in der Befreiung von sowjetischer Vorherrschaft entwickelt hat und nun ihre Rechte verlangt – bis hin zu einem reaktionären Nationalpopulismus, der inzwischen aber auch im »alten Europa« wieder eine Gefahr darstellt. Eine gemeinsame Außenpolitik scheint gefährdet, weil die jahrzehntelange Erfahrung des Totalitarismus die mittelosteuropäischen Dissidenten dazu geführt hat, dem universellen Gebot der Friedenssicherung ein ebenso universelles Eintreten für die Menschenrechte hinzuzufügen und diesem – im Konfliktfalle – sogar Priorität einzuräumen. Mit seiner abweichenden Haltung in der Bewertung des Irakkriegs hat Mittelosteuropa eine Spaltung der europäischen Position zementiert, die freilich auch eine unterschiedliche Haltung zur hegemonialen Rolle Amerikas in der Welt demonstriert.

Richard Rorty hat in der dem ganzen Projekt eigentümlichen intellektuellen Arbeitsteilung den Part übernommen, Europa aus amerikanischer Perspektive zur Selbstbehauptung gegen die Vereinigten Staaten aufzurufen (und nicht zuletzt auch Wirkung in den USA selbst zu erzielen). Er warnt die europäischen Regierungschefs davor, um die Gunst Washingtons zu buhlen, und ermuntert sie zum Widerspruch gegen Amerikas »doktrinäre Autorität«. Erst die Uneinigkeit Europas, von der Bush-Regierung gezielt gefördert, habe es dieser gestattet, die amerikanische Öffentlichkeit für den Irakkrieg zu mobilisieren. Die demütigende Behandlung Deutschlands und Frankreichs sei strategisch angelegt: Sie solle in Zukunft Widerspruch unterbinden und Unterwerfung unter den weltpolitischen Vormachtanspruch der USA verewigen. Dieser habe aber nur als Übergangsprojekt eine Berechtigung und müsse durch eine stabile kosmopolitische Ordnung abgelöst werden, die multilateral und auf der Basis des Völkerrechts zu begründen sei. Vorstellbar sei die zusammenwachsende Weltgemeinschaft nur als globale Föderation unter dem Schild der UNO.

Europa kann diesen Zukunftstraum verwirklichen helfen, so Rorty weiter, »wenn das Bewusstsein, Bürger eines europäischen Gesamtstaates zu sein, im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts ebenso tiefe Wurzeln schlägt, wie es im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts das Bewusstsein von Amerikas Bürgern tat«. Er erinnert an die Tatsache, dass die USA als erste konstitutionelle Demokratie in die Geschichte eingetreten sind und mit ihrem robusten Internationalismus nicht nur entscheidend zur Niederschlagung des Faschismus beigetragen haben, sondern auch zur Gründung der Vereinten Nationen und zum Wiederaufbau des zerstörten Europas. Nun braucht Amerika eine konsolidierte Europäische Union, die das Land von dem verhängnisvollen Weg abbringen soll, auf den es von seiner gegenwärtigen Administration geführt worden ist. Bei der Bush-Regierung handelt es sich um einen »Unglücksfall« der Geschichte, der für die amerikanische Gesellschaft oder Kultur keinesfalls typisch oder unvermeidlich, sondern »historisch durchaus kontingent« ist. Europas Einspruch ist jenem Teil der amerikanischen Öffentlichkeit höchst willkommen, der eine unilaterale Hegemonialpolitik seines Landes als »schrecklichen« Fehler betrachte und verurteilt.

 

Eine mentale Kollektivverfassung, die Europa nach innen und außen eint?

Jürgen Habermas überträgt die ihm in Deutschland zugewachsene Rolle als »Stichwortgeber der Republik« konsequent auf die europäische Ebene. Er ist es, der dem Gemeinschaftsplädoyer zur Stärkung Europas gegenüber den USA die sozial- und geschichtsphilosophische Seele einhaucht. Seine Idee einer europäischen Identität leitet er aus bestimmten, unverwechselbaren Eigenschaften ab, deren amerikakritischer Gehalt (und Affekt, sollte man hinzufügen) unverkennbar ist und bemerkt werden soll. Ich stelle diese insgesamt sieben identitätsstiftenden Merkmale Europas vor – und melde Zweifel an.

Als erstes wird die Säkularisierung Europas mit der strikten Trennung von Staat und Religion betont und der anhaltenden Neigung Amerikas zum christlich-religiösen Fundamentalismus entgegengehalten, wie sie im öffentlich inszenierten Morgengebet des amtierenden Präsidenten zum Ausdruck kommt. – Abgesehen davon, dass auch der frömmelnde Jimmy Carter aus seiner persönlichen Religiosität keinen Hehl machte, ist der puritanische Zug in der amerikanischen Mentalität Sediment eines historisch tradierten Gemeinschaftserbes, das nicht nur paranoide Sekten, bigotte Fernsehprediger und gewaltbereite Abtreibungsgegner hervorgebracht hat, sondern auch jene »kommunitaristischen« Werte, die quer liegen zur kalten Ökonomie der Warenwelt und zur kalkulierenden Logik des eigenen Vorteils. Man muss Habermas nicht daran erinnern, dass er selbst in seiner Paulskirchenrede über »Glaube und Wissen« von der Säkularisierung verlangt hat, sie müsse jene Sinngehalte »übersetzen«, die einst in der religiösen Überlieferung enthalten waren. Gilt das nur für die Säkularisierung der islamischen Welt und nicht für Amerika? Und steht nicht auch Europa in einer besonderen Tradition christlich-jüdischer Wertvorstellungen (auch wenn diese längst universalisiert sind), die Habermas immer gegen die neu-heidnischen Attacken eines Peter Sloterdijk verteidigt hat?

Staat vor Markt ist das zweite Unterscheidungsmerkmal, Solidarität vor Leistung das dritte. Beide gehören eng zusammen und sollen offensichtlich unser sanftes Modell der sozialen Marktwirtschaft kennzeichnen, das gegenüber der kalten US-Version präferiert wird. – In der Tat, der interventionistische Sozialstaat europäischer Prägung, mit seiner ökonomischen Steuerungs- und Regulationsfunktion einerseits, seiner sozialen Funktion der Fürsorge und der Absicherung von Lebensrisiken andererseits, hat in den USA wenig Anhänger, mit allen fatalen Konsequenzen, die das für das Wirtschaftsleben und die Alltagskultur hat. Hier liegt gewiss eine spezifische Differenz zum amerikanischen Modell eines »nackten«, weitgehend deregulierten Kapitalismus. Aber es sind eben nicht die neoliberalen Konzepte der Chicago-Boys, deren Anwendung die ökonomische Dauerkrise in Deutschland verursacht haben und unsere Sozialsysteme allmählich zum Kollabieren bringen – es ist die Verkrustung des auf Sicherheit und Versorgung ausgerichteten Sozialstaatsmodells, das in der gegenwärtigen Krise seine strukturkonservative Kehrseite demonstriert: Weil es Besitzstandswahrung und Beharrungsvermögen der Interessenverbände honoriert und nicht in der Lage scheint, arbeitsplatzvernichtende Strukturen aufzubrechen, degradiert es eine steigende Zahl von Arbeitslosen auf Dauer zu passiven Hilfeempfängern, während die verbleibenden um ihren Arbeitsplatz bangen müssen. Könnte dieses korporative, in den Fängen von Lobbygruppen ermattete System nicht eine Auffrischung durch mehr Markt, mehr Eigeninitiative, mehr Leistungs- und Risikobereitschaft gut vertragen? Ist auf der anderen Seite der multikulturelle amerikanische melting pot nicht gleichzeitig ein ökonomisches Erfolgs- und soziales Anerkennungsmodell, das auf der Prämierung unternehmerischer Fähigkeiten beruht und ganze Einwanderergenerationen integriert hat?

Die vierte Besonderheit Europas soll in einem ausgeprägten Bewusstsein für die Dialektik der Aufklärung und die Paradoxien des Fortschritts liegen, das die bedenkenlose Freude an der Entwicklung riskanter neuer Technologien dämpft und durch eine skeptisch-kritische Bewertung der Folgen ihrer Anwendung ergänzt. – Das ist in der Tendenz richtig, aber wiederum nicht ganz. Europa hat kein Monopol auf Fortschrittskritik und Technikskepsis. In der Biotechnologie etwa ist die amerikanische Gesetzgebung und die öffentliche Meinung, der sie folgt, wesentlich restriktiver als etwa in Großbritannien. Die Atomindustrie beispielsweise hat in den USA weniger Akzeptanz als etwa in Frankreich, wo der Staat seine schützende Hand über die zahlreichen Nuklearzentren hält. Andererseits hat Europa, was die Weiterentwicklung der Wissenschaften anbetrifft, keinen Anlass zur Selbstüberhebung. Seit langem kommen die Impulse für wissenschaftliche Fortschritte – auch humanwissenschaftliche übrigens, von Ausnahmen einmal abgesehen (2) – eher aus den Universitäten und Forschungslaboratorien der USA. Die Herkunft der Nobelpreisträger spricht eine deutliche Sprache: Viele von ihnen entstammen der zweiten oder dritten Generation der Einwanderer und selbst wenn sie (noch) keine amerikanischen Staatsbürger sind, arbeiten sie doch vorwiegend im »Land der unbegrenzten Möglichkeiten«, in das sie sich gerne haben locken lassen. Der ausgeprägte Wettbewerb zwischen den dortigen Hochschulen um Studenten, Professoren und Reputation fördert offensichtlich Arbeitsmotivation und Leistungsvermögen, auch wenn die durchschnittliche Allgemeinbildung sich auf einem kläglichen Niveau befindet. Aber sollten wir selbst in Sachen Bildung seit PISA nicht bescheidener und selbstkritischer sein? Und überdeckt die eitle Berufung auf unser kritisches Verständnis von Wissenschaft und Fortschritt nicht, dass die ebenso eingeschliffene wie leer gewordene kritische Geste Gefahr läuft, zu einem Synonym für Ignoranz, Lernverweigerung und Veränderungsangst zu werden?

Aufgrund einschlägiger historischer Erfahrungen hat sich Europa, fünftens, eine Kultur der Anerkennung von Differenzen (»die gegenseitige Anerkennung des Anderen in seiner Andersheit«) zu Eigen gemacht, sich in der Folge, sechstens, vom Recht des Stärkeren abgewandt und stattdessen, siebtens, im Konfliktfall auf die »weiche Macht« von Diplomatie und Entwicklungsförderung besonnen. Diese edle Dreiheit europäischer Selbstzivilisierung korrespondiert nun allzu gut mit den Mängeln im Klischee von Amerika, wo sich gewissermaßen das unedle Negativ dazu findet. Der für die USA so unvorteilhafte Vergleich betrifft natürlich zunächst ihre Rolle im Kampf gegen den internationalen Terrorismus, den Völkerrechtsbruch beim Irakkrieg und nicht zuletzt die demütigende Behandlung »kriegsunwilliger« europäischer Staaten, insbesondere Deutschlands und Frankreichs: Missachtung des widersprechenden Anderen, ungeduldiger Einsatz militärischer Macht statt geduldiger politischer Verhandlung. Aber er zielt weit darüber hinaus, nämlich auf die kulturelle und moralische Überlegenheit Europas. – Diese polarisierende Gegenüberstellung lässt außer Acht, dass die Anerkennung der Differenz auch im europäischen Verständnis ihre Grenze dort findet, wo der »Andere in seiner Andersheit« Vernichtung androht und nur durch den Einsatz von stärkerer Macht davon abzubringen ist oder sich zu Verhandlungen bequemt, wie etwa in Bosnien oder im Kosovo. Sollte man, anstatt die vermeintliche Friedens- und Verhandlungskultur eines zivilen Europas gegen die vermeintliche Kriegs- und Gewaltkultur Amerikas auszuspielen, nicht besser das »robuste« Selbstbewusstsein amerikanischer Stärke mit den »weichen« Eigenschaften europäischer Verständigungs- und Verhandlungskunst amalgamieren, um den Gefahren dieser Welt zu begegnen – solange es keine dem Gewaltmonopol des Staates entsprechende Exekutivfunktion der UNO gibt?

 

Weitere Einwände gegen die Wiedergeburt Europas aus dem Geist der Amerikakritik

Die Antworten auf die Intellektuelleninitiative waren eher kritischer, gelegentlich auch spöttisch-beißender Natur. Beispielhaft Jan Ross (Zeit, 5.6.03), der schon während des Irakkriegs rhetorisch gefragt hat, was denn die Alternative zur pax americana sei. Er attestiert der Initiative für ein Kerneuropa engstirnige Europatümelei, mokiert sich über den wohlfeilen Spott an Bushs missionarischem Eifer und enttarnt schließlich den »Europäismus à la Habermas ... als Theorie gewordenes Heimweh nach der guten alten Zeit vor 1989«. Sein notorisch amerikafreundlicher und mit antiintellektueller Koketterie argumentierender Chefredakteur, Josef Joffe, legt noch eins drauf: »Um sich von Amerika, sprich der Dampfwalze des Fortschritts, abzusetzen, möge Europa die Tugenden seines ›goldenen Zeitalters‹ festzurren« (Zeit, 3.7.03). Mit süffisanter Anspielung auf Marx bescheinigt er Habermas, sein Bewusstsein hinke dem Sein hinterher – es handele sich um den vergeblichen Versuch, den Lauf der Zeit aufzuhalten, um eine »rückwärtsgewandte Utopie«.

Man muss diese von ungebrochener Fortschritts- und Amerikabegeisterung getrübte Sicht nicht teilen, um besorgt zu fragen, ob die »transatlantischen Risse« (vgl. meinen Beitrag dazu in Kommune 2/03), wirklich zu einem dauerhaften Bruch vertieft werden sollen. Die deutsch-italienischen Spannungen nach Berlusconis operettenhaftem Auftritt auf der europäischen Bühne sind bloß ein Symptom dafür, dass die mentalen Bruchlinien mitten durch Europa verlaufen. Die scheinbar so griffige Konfrontation Europa versus Amerika eignet sich weder für »kulturelle Sinnprojektionen« (so Jürgen Kaube in der FAZ) noch als politische Zukunftsoption. Im Gegenteil, sie würde die Europäische Union spalten anstatt sie zusammenzubringen, schwächer machen anstatt sie zu stärken, wie der intellektuelle Proteststurm aus den Ländern Mittel- und Osteuropas beweist, die eine Entscheidung zwischen Europa und den USA aus guten historischen Gründen niemals akzeptieren könnten.

Das wäre mein erster, der »binnen«politische Einwand gegen die Habermas-Vision eines Kerneuropas, das als »Lokomotive« (er hat die Metapher von der »lokomotiven« Funktion kürzlich bekräftigt, siehe Merkur, Juli 2003) die Richtung und das Tempo vorgeben soll: dass dieser Zug auf westeuropäischen Gleisen fährt und die Wagen aus Mittelosteuropa abgehängt hat. Die beitrittswilligen Länder aus dem ehemaligen Einflussbereich der Sowjetunion sind aber kein Ballast für das europäische Projekt, sondern ein Gewinn. Wer sie als Störenfriede behandelt, als unsichere Kantonisten, die der Amerikafreundschaft verdächtig sind und den europäischen Konsens hintertreiben wollen, missachtet nicht nur das kulturelle Erbe, sondern auch die historische Erfahrung, die sie in die Union mit einbringen. Europa erweitert sich nämlich nicht, sondern ein gespaltenes Europa vereint sich wieder, indem es die Erfahrung mit beiden totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts in sein kollektives Gedächtnis aufnimmt – diesen Weg müsste eine Selbstvergewisserung einschlagen, wenn sie wirklich Identität stiften soll.

Der zweite Einwand betrifft die Außenpolitik: Die Europäische Union überhebt sich mit dem Anspruch, einen Gegenpol zur Hegemonialmacht USA zu bilden. Es ist zwar erfreulich, dass Europa sich als Ganzes zu einem Akteur auf der Bühne der Weltpolitik zu entwickeln beginnt, aber es ist noch längst nicht in der Lage, diese angestrebte Rolle auszufüllen, wie Vergangenheit und Gegenwart zeigen: Jugoslawien, der Palästinakonflikt, die afrikanischen Bürgerkriege, um nur einige Beispiele zu nennen. Nur in einer engen, wenn auch konfliktbereiten Kooperation, in einer Arbeitsteilung mit Amerika kann Europa wirksam etwas unternehmen, um den globalen Bedrohungen zu begegnen, einer aus den Fugen geratenen Weltordnung politisch wieder Gestalt zu geben und die zahlreichen Konflikte zu moderieren, bei denen ein Verhandlungsfrieden gelegentlich auch erzwungen werden muss. Dass es noch kein Weltbürgerrecht und keine Weltpolizei gibt, bedeutet keineswegs, dass es keine entsprechenden Verantwortungen gibt. Sie können, nach Lage der Dinge, nur im Vorgriff und möglichst multilateral übernommen werden, aber sie müssen übernommen werden – auch von Europa.

Insbesondere beim Kampf gegen den internationalen Terrorismus – das wäre mein dritter, ein eher ideologiekritischer Einwand – muss zusammengearbeitet und unterschieden werden, wo es sich um den gewaltsamen Protest der Armen, der Unterdrückten und der Entrechteten handelt, um die »Waffe der Schwachen« also – hier sind auf Seiten des Westens Zugeständnisse und Entwicklungsanstrengungen gefordert: eine gerechtere Gestaltung der Weltwirtschaftsordnung, die Öffnung der eigenen Märkte, die Anerkennung fremder Kulturen und der ihnen eigenen sozialen Netzwerke und individuellen Lebensentwürfe –, oder wo damit ein totalitäres politisches Projekt verfolgt wird. Wir sollten begreifen, dass der fundamentalistische Islamismus der aufgeklärten Moderne den totalen Krieg erklärt und ideologisch die Nachfolge des dumpfen Totalitarismus europäischer Provenienz angetreten hat, mit dem er nicht nur den pathologischen Antisemitismus teilt, sondern auch den absoluten Wahrheitsanspruch und die chiliastische Vernichtungswut. Wenn auch Amerika hier nicht immer die richtigen Antworten gibt, so stellte es doch häufig die richtigen Fragen.

Ungeachtet der strategischen Differenzen im Einzelnen gibt es zwischen den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union prinzipielle Übereinstimmungen in der politischen Ordnung und im Rechts- und Wirtschaftssystem, aber auch in den moralischen Überzeugungen, die zur Basis einer gemeinsam getragenen, universalistisch orientierten Weltinnenpolitik taugen. Diese Übereinstimmungen könnten das Kernstück einer »Allianz der liberalen Demokratien« innerhalb der UNO sein, welche die Princeton-Professorin Anne-Mary Slaughter in einem Essay kürzlich angemahnt hat (Zeit, 3.7.03). Auch György Konrád bewegt sich auf dieser Linie, wenn er als Mitteleuropäer vor der Spaltung des Westens in Achsen erschrickt und das »Weltbündnis der Demokratien« verlangt (FAZ, 12.7.03). Der Kern der europäischen Identität, wenn es ihn denn gibt, ist das praktische Bekenntnis zu individueller Freiheit, sozialer Gerechtigkeit, weltanschaulichem Pluralismus und politischer Demokratie, zu dem sich Europa aufgrund besonders schmerzlicher historischer Erfahrungen schließlich durchgerungen hat. Wer ihn in einer kulturellen Anmaßung gegenüber den Vereinigten Staaten sucht, wird überall landen, nur nicht in der Mitte Europas.

Ob es zwischen dem Demokratieexport eines »texanischen Bolschewismus« (Daniel Cohn-Bendit im Gespräch mit Richard Perle)(3) beziehungsweise einem »Imperialismus der Menschenrechte« (Eric Hobsbawm im Zeit-Gespräch, 10.7.03) auf der einen Seite und einer moralisch indifferenten Appeasement-Politik auf der anderen etwas Drittes gibt, könnte die wirklich entscheidende Frage sein, die Europa zu beantworten hat. An Amerika und an die eigene Adresse gewandt – so kritisch wie selbstkritisch.

 

1

Joschka Fischer ist in dem vielstimmigen Aufruf namentlich gleich mehrfach erwähnt - und das keineswegs zufällig. Er konnte ihn als heimliches Empfehlungsschreiben zu seiner Bewerbung für den Posten eines europäischen Außenministers lesen, gegen die sich in den USA und einigen europäischen Ländern schon Widerspruch erhebt, bevor er sie verfasst hat.

2

Das sozialphilosophische Lebenswerk von Habermas gehört zu diesen Ausnahmen, steckt aber selbst voller »amerikanischer« Anleihen (z.B. aus dem Pragmatismus) was ihm von den Vertretern einer musealisierten Kritischen Theorie denn auch als Verrat ausgelegt worden ist.

3

Als »bolschewistisch« hat Daniel Cohn-Bendit in diesem Streitgespräch die weltrevolutionäre Demokratisierungsstrategie Amerikas bezeichnet. Inzwischen werden auf dieser Linie der historischen Spurensuche die Quellen der neokonservativen Strategie über die Ideen illiberaler deutscher Denker wie Leo Strauss und Carl Schmitt zur »konservativen Revolution« bis zu Leo Trotzkis Vorstellung von der »permanenten Revolution« zurückverfolgt.

 

Näheres über den Autor: www.martinaltmeyer.de