Dagmar Barnouw

Vom Nutzen und Nachteil der Erinnerung

Eine Modernisierung des deutschen Geschichtsdiskurses ist angebracht

 

Der Nationalsozialismus ist das Minenfeld des deutschen Erinnerungsdiskurses mit der »Einzigartigkeit von Auschwitz« in seinem Zentrum. Die öffentliche Debatte läuft hoch ritualisiert ab, weitgehend widerspruchslos blieb die Annahme einer deutschen Kollektivschuld. Die Aufarbeitung eigener Extremerfahrungen wurde als irrelevant abqualifiziert. Auf Opfer- wie auf Täterseite entstand ein heute noch gültiges überhistorisches und mythifiziertes Geschichtsbild, längst instrumentalisiert von verschiedenen politischen Interessen – bis hin zum Gründungsmythos Israels. Versuche einer Aufarbeitung jenseits des Erinnerungsrituals wie Grass‘ Im Krebsgang lösen immer noch heftige Kontroversen aus. Unsere Autorin meint, dass es an der Zeit ist für eine umsichtige Historisierung der Nazi-Periode; das Beharren auf Übergeschichtlichkeit käme eher fundamentalistischen Interessen entgegen.

 

Erinnerung und Verdächtigung

Die deutsche Erinnerungsgeschichte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist ein Thema, bei dem Missverständnisse nicht nur möglich, sondern zu erwarten sind – eine Erwartung, die sich in den letzten Jahrzehnten eher noch vergrößert hat und selbst ein Teil dieser Geschichte geworden ist. So haben die zahlreichen heftigen Reaktionen auf Martin Walsers kritische Äußerungen zu Fragen der deutschen Erinnerung im Herbst 1998 noch einmal deutlich gezeigt, dass öffentliches Sprechen auf diesem »Minenfeld« von Sensibilitäten strikten Regeln unterworfen ist. Sollten sie nicht genau befolgt werden, dann kommt es sogleich zu Vermutungen dunkelster Absichten, und zwar meist völlig unabhängig von der Evidenzlage: in Walsers Fall die nicht nur unrichtigen, sondern absurden Vorwürfe des Antisemitismus und der Holocaust-Verleugnung. Von außen gesehen – eine teils prekäre, teils nützliche Position – könnte der metahistorische Status der Erinnerungsinhalte derart verhärtet scheinen, dass er fast keine Anhaltspunkte für kritisches Fragen bietet. Verbietet nicht die unabänderliche, dauernde »Einzigartigkeit von Auschwitz« im Zentrum deutscher Erinnerungsdiskurse alle Vergleiche und Unterscheidungen, alle Verweise auf politische und kulturelle Veränderungen in der Zeit? Und, noch schädlicher, ist damit nicht eine Art von mythischem Bezugspunkt geschaffen, dessen Allgemeingültigkeit alle anderen extremen Erfahrungen nivelliert?

Bei jedem neuen, kontroversen »Ausbruch« der deutschen Erinnerungs-Misere, prompt erstickt in den üblichen deutschen Selbstanklagen, gibt es in der europäischen und nordamerikanischen Presse eine gewisse ironische Verwunderung über die deutsche Ausdauer im Ertragen einer derart anspruchsvollen Erinnerungspolitik. Aber das hyper-vorsichtige Antizipieren möglicher negativer Reaktionen auf auch die allmählichste, umsichtigste Normalisierung der Erinnerungsdiskurse – also des Sprechens über die schwierige Vergangenheit, nicht etwa der Vergangenheit selbst – wird als »typisch« für das intellektuelle und politische Klima in Deutschland angesehen und erwartet. Es ist sicherlich von außen leichter, sich über die tabugeschützte Gründlichkeit der deutschen Erinnerungspolitik zu mokieren, was aber noch lange nicht heißt, dass man meint, ohne diese Gründlichkeit auskommen zu können. Schließlich folgten auf die geringfügige und eher komische Tabuverletzung durch ein Mitglied der deutschen Regierung im Frühherbst 2002 sehr schnell massive Anklagen der amerikanischen Regierung auf deutschen Antiamerikanismus und Antisemitismus und die Einforderung von Reue-Bezeugungen. Dabei war jedem klar, dass es sich bei der »Vergiftung« amerikanisch-deutscher Beziehungen durch amoralische »Verletzung« amerikanischer Gefühle um rein machtpolitische Probleme handelte. Und die für die gegenwärtige amerikanische Politik so wichtige, immer wieder betonte Parallele zwischen »unserem Krieg« gegen den urbösen Terrorismus (Saddam Hussein) und dem emblematisch »gerechten« Zweiten Weltkrieg gegen die radikal bösen Nazis (Hitler) kopiert genau das manichäische Szenario, das die Erinnerungspolitik in Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs beherrscht hat.

Am Ende des destruktivsten Krieges in der Geschichte des Westens fand sich die deutsche Bevölkerung konfrontiert mit einer unvorstellbaren materiellen und moralischen Verwüstung, für die sie kollektiv zur Verantwortung gezogen wurde. »Die Deutschen« waren nun nichts mehr als »the German Question« – die entsetzte Frage, wie sie hätten tun können, was sie getan hatten. Die einflussreiche Foto-Zeitschrift LIFE stellte sie 1945 auf dem Titelblatt des berühmten Maiheftes mit der ersten Foto-Dokumentation über die Öffnung der KZs. Es waren unvergessliche Bilder, die von der amerikanischen Regierung sofort als die besten Beweise für die unbedingte Notwendigkeit dieses absolut gerechten Krieges erkannt und genutzt wurden. Die jungen Photographen des U.S. Army Signal Corps, die die Öffnung der KZs dokumentierten, waren angehalten worden, die Gesichter der mit den Greueltaten ihres Regimes konfrontierten Deutschen nach Reue-Bezeugungen abzusuchen. Umsonst; sie fanden Entsetzen und Abwehr bei den Kindern, die vor den langen Reihen halb verwester Kadaver zurückschraken, und steinerne Verschlossenheit bei den Frauen – zu der Zeit »die deutsche Zivilbevölkerung« – und waren tief enttäuscht und entrüstet über so viel Verstocktheit. Von da an sollte, mit dem Einverständnis deutscher Politiker und der neuen intellektuellen Elite, die deutsche öffentliche Erinnerung von Kollektivschuld und Kollektivreue geprägt sein. Die in dieser Situation unvermeidlichen Bestrebungen, Schuld und Reue einzufordern, die Verdächtigungen, dass die Schuldigen als unverbesserliche »Täter-Generation« nicht wirklich ernsthaft bereuten, sollten sich über die Jahrzehnte eher noch verfestigen, weil die Annahme der deutschen Kollektivschuld weitgehend widerspruchslos blieb.

Diese Widerspruchslosigkeit bedeutete nicht, dass »die Deutschen« sich kollektiv als Schuldige fühlten, sondern dass es nach den engagierten Debatten zur Schuldfrage in der unmittelbaren Nachkriegszeit immer schwieriger wurde, sich über dieses Thema einigermaßen offen auszusprechen, also in der Öffentlichkeit unterschiedliche, sich auf verschiedenartige Erfahrungen stützende Meinungen zu vertreten. Einer der Gründe war die von Anfang an moralisch-politische Autorität der Kollektivschuld, die sich durch die Generationskonflikte der Sechziger- und Siebzigerjahre noch verhärtete. Sie war auch verantwortlich für die Konzentration der öffentlichen Erinnerung auf die (jüdischen) Opfer des Nazi-Regimes und damit die wachsende Macht einer kollektiven Erinnerungs-Kontrolle. Allerdings war diese Kontrolle nicht neu, sondern schon bei Kriegsende vorgezeichnet in den zugleich spontan entsetzten und politisch kalkulierenden Reaktionen auf das ungewöhnliche Ausmaß der kriminellen Handlungen des Nazi-Regimes, und zwar sowohl auf Seiten der Deutschen wie auch der Amerikaner. Über die Jahre führte diese Kontrolle zu dem erst jetzt allmählich bemerkten Desinteresse an den extremen Erfahrungen – Luftkrieg, Flucht und Vertreibung, Schlacht – eines Großteils der deutschen Bevölkerung. Eine wichtige Rolle hatte bei dieser Entwicklung die Furcht gespielt, dass den Erinnerungs-Diskursen vor allem deutscher Kriegserfahrungen eine intendierte Parallelität und dann »Vergleichbarkeit« mit den Erinnerungen der Opfer des Nazi-Regimes zugeschrieben werden könnte. Denn das zog in jedem Fall scharfe Anklagen nach sich, »die Deutschen« wollten so die moralisch-politisch autorisierte »Einzigartigkeit« der Naziverfolgungen und damit den zentralen kulturellen Stellenwert der Erinnerungs-Diskurse des Holocausts (»Auschwitz«) hinterfragen. Alle öffentlichen und privaten deutschen Erinnerungs-Diskurse des Zweiten Weltkriegs konnten in der Nachkriegszeit nichts anderes bedeuten als schuldige Versuche, sich der überwältigenden deutschen Kollektivschuld zu entziehen. Solche Erinnerungen wurden dann automatisch als von vornherein irrelevante Erklärungen oder unmögliche Entschuldigungen zurückgewiesen, denn im Vergleich – unumgänglich in Argumenten für Unvergleichbarkeit mit den suprahistorischen Erfahrungen der Opfer – waren die historischen Erfahrungen »der Deutschen« irreal, hatte es sie nicht wirklich gegeben. Mit dem Bannwort »Apologetik« sind über viele Jahrzehnte hinweg alle deutschen Erklärungsversuche abgewiesen worden, gleichgültig ob die erklärenden Informationen und Argumente politisch verantwortlich und historisch fundiert waren oder nicht. Da die deklarierte »Einzigartigkeit« der Nazi-Verfolgungen den vergangenen Ereignissen und deren Erinnerung einen supra-historischen und supra-rationalen (sprachlichen) Status verliehen hat, kann sie eo ipso nicht hinterfragt werden. Damit können alle historischen, politischen, psychologischen Verständnis-Versuche, die den Status der »Einzigartigkeit« über- oder umgehen, als zutiefst unmoralische Verletzung eines kulturell und politisch absoluten Werts abgelehnt worden.

Bei dem erstaunlichen Wachstum der Erinnerungsdiskurse des Holocaust in den letzten Jahrzehnten haben die Bannwörter »Holocaust-Verleugnung«, »Antisemitismus«, »Apologetik« eine wichtige Rolle gespielt, weil sie für die historischen Erfahrungen der Opfer des Nazi-Regimes die überhistorische kollektive Erinnerung einforderten und für die Kriegs-Erfahrungen »der Deutschen« das historische Vergessen. Diese Forderungen konnten und können nicht rational hinterfragt werden, nicht nur weil die über- oder nicht-rationale Antwort von vornherein feststand, sondern weil die Dimension des Überrationalen für den Fragenden eine Drohung bedeutete. Die Frage wurde und wird in der rituellen Antwort auf eine Weise absorbiert, die ein Weiter-Fragen absolut unterbindet: Einmal als Apologet, Holocaust-Verleugner und Antisemit verdächtigt, kann der Fragende die Intentionen seiner Fragen nicht mehr erklären, geschweige denn verteidigen. Allein die Tatsache der »wirklichen«, nicht-rituellen Frage ist Häresie und muss mit totalem Ausschluss aus der Gemeinde der Richtig-Gesinnten bestraft werden.

Es ist also ganz natürlich, dass die Angst davor, mit diesen Bannwörtern belegt zu werden, es sehr erschwert hat, historisch und kritisch über die deutsche Vergangenheit zu sprechen und zu schreiben. Aus diesem Grund wäre es hilfreich, die Temporalität vergangener Erinnerungsdiskurse und -inhalte so gut wie ihre jeweiligen Politisierungungen deutlicher und kritischer zu sehen. Es müsste irgendwann »an der Zeit« sein dürfen, die Nützlichkeit einer automatischen Ausdehnung der deutschen »Betroffenheit« in die Selbstzensur zu hinterfragen, wo es sich um die deutsche Erinnerungsgeschichte handelt. Die Befürworter dieser Strategie argumentieren zwar mit der seit fast sechs Jahrzehnten nicht zu hinterfragenden moralischen Autorität für die dauernde Notwendigkeit deutscher Schuld- und Schambekenntnisse. Aber die daraus folgende Begrenzung der deutschen Kriegserfahrung auf deutsche Kollektivschuld an den kriminellen Taten des Nazi-Regimes hat auch beigetragen zum Vergessen der historischen Wirklichkeit eines für viele und sehr unterschiedliche Gruppen unerhört destruktiven Krieges. Vielleicht noch wichtiger: das anscheinend selbstverständliche Primat einer moralischen Autorität in diesen Fragen hat die Tatsache der Politisierung von Erinnerungsdiskursen verdeckt, ob es sich nun um die kulturell bestätigten Erinnerungsgeschichten der Opfer des Nazi-Regimes handelt oder die Verdrängung solcher Geschichten im Falle der deutschen Bevölkerung. In beiden Fällen geht es um machtpolitische Fragen, die zur kritischen Diskussion freigegeben werden sollten.

Es scheint, dass bisher alle Versuche, sich über diese Fragen zu verständigen, nur die notorischen, in sich selbst verbissenen Debatten und Kontroversen gefördert haben, deren Dynamik nur teilweise rational einsichtig gewesen ist. Ob man nun im Rückblick besser verstehen kann, was gesagt wurde, nicht gesagt wurde, nicht gesagt werden durfte: im Fluss der Zeit gesehen sind Tabus leichter als solche zu erkennen. Es wäre wichtig zu fragen, auf welche Weise die erinnerten Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs auf die jeweiligen kulturellen und politischen Gegenwarten der Nachkriegszeit gewirkt haben, wie sie genutzt und auch ausgenutzt worden sind, als nützlich oder schädlich gesehen wurden oder waren. Viele dieser erinnerten Erfahrungen sind uns nicht (mehr) voll zugänglich; das trifft auf alles Vergangene zu, aber in besonderem Maße auf die Erfahrungen extremer Situationen mit ihrer spezifischen Kontrolle der Erinnerungsprozesse. Über ein halbes Jahrhundert nach den Ereignissen ist eine nüchternere, kritischere Untersuchung solcher traumatischen Erinnerungen schon deshalb wichtig, weil sie, wo es sich um die Opfer der Nazi-Verfolgungen handelt, immer noch prinzipiell als »provozierend«, »verletzend« abgelehnt wird. Zwar mussten die Art und das Ausmaß dieser Verfolgungen ein starkes Bedürfnis nach kohärenten, sinnvollen, semi-fiktionalen Erinnerungsgeschichten zur Folge haben, dem eine moderne, mit den Prinzipien der Temporalität und Zufälligkeit arbeitende Geschichtsschreibung nicht genügen konnte. Aber welche Folgen hat dieses Nicht-Genügen in der deutschen Nachkriegskultur gehabt und, wenn auch weniger intensiv und uniform, in den USA? Was zum Bespiel bedeutet die Tatsache, dass hier offensichtlich fiktionalisierte Holocaustfilme selbstverständlich als historische Evidenz angeführt werden – »as you see it documented in Schindler’s List» –, und zwar von Journalisten so gut wie Rabbinern? Und wie viel kann man hier aus historischen Vergleichen mit anderen politisierten Gruppenerinnerungen lernen? In der gegenwärtigen Krisensituation sind hier vor allem der politische Zionismus und der fundamentalistische Islam wichtig, deren manichäische Erinnerungsdiskurse eines absolut Bösen und absoluten Opferstatus zur Verweigerung historischer Differenzierung geführt haben – nicht unähnlich den deutschen Debatten, und einer der wichtigsten Gründe für die Dauerkrise im Nahen Osten. Dabei ist es gerade die aggressive Redundanz dieser Diskurse – das immer Gleiche der bitteren Erinnerungskontroversen in Deutschland, die unerbittlich wiederholten Vorwürfe und Verdächtigungen im Konflikt zwischen Israel und den Arabern –, die ihre »eigentliche« Irrationalität aufdecken könnte, ihre zuweilen tragikomische Absurdität.

 

Macht und Ohnmacht

Die Anklage auf deutsche Kollektivschuld für alle Ereignisse des Zweiten Weltkriegs hat sich in den letzten Jahrzehnten eher noch verschärft als gemindert. Diese Entwicklung brachte mit sich eine wachsende Mythifizierung, Ritualisierung und Exklusivität der kollektiven Erinnerung an die jüdischen Opfer des Nazi-Regimes und die Erwartung eines auf Dauer angelegten kollektiven Schweigens über die Kriegserfahrungen der deutschen Bevölkerung. Der moralisch-politische Machtzuwachs für die, deren gegenwärtige Identitätspolitik sich auf die Erinnerung vormaliger kollektiver Verfolgung berufen kann, wird dann als ein für die größere Gemeinschaft geltender moralischer Wert gesehen. Das trifft auch zu auf den Machtschwund derjenigen Gruppen, die kollektiv für diese Verfolgung verantwortlich gemacht werden, gleichgültig wie unterschiedlich ihre erinnerten Erfahrungen während der Nazi-Zeit gewesen sind. Es wurde dann immer seltener gefragt, auf wessen Autorität sich die so pauschale wie rigorose Scheidung zwischen kollektiv unschuldigen Opfern und kollektiv schuldigen Tätern stützt: Wer die politische und moralische Macht in Anspruch nehmen konnte und kann, der Kriegsgeneration von Frauen, Männern und Kindern kollektiv und auf Dauer ihre komplexe geschichtliche Wirklichkeit zu verweigern.

Diese für die deutsche Geschichte außerordentlich wichtige Frage ist immer provokativ gewesen, denn sie verweist auf einen möglichen Geltungsanspruch unterschiedlicher Erinnerungsdiskurse. Das kulturpolitische Desideratum seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs war aber gerade die exklusive Ausrichtung aller deutschen Gedenkensdiskurse auf die jüdischen Opfer des Nazi-Regimes gewesen. Von Anfang an wurde dabei das Versagen »der Deutschen« beklagt: ihre notorische kollektive »Unfähigkeit«, um die Opfer zu «trauern«, Reue zu zeigen, und so ihre kriminelle Vergangenheit zu »bewältigen«. Diese Forderung einer spontan und kontinuierlich trauernden kollektiven Erinnerung einer Gruppe an das kollektiv von ihr verantwortete Leiden einer anderen Gruppe ist in realistisch-historischer Sicht ungewöhnlich, da langzeitige und intensiv öffentliche Erinnerungen an einen vergangenen Opferstatus der leidvollen Vergangenheit der eigenen Gruppe zu gelten pflegen. Der Grund für dieses Verlangen ist vor allem in der Art und dem Ausmaß des Leidens zu suchen: der besonders virulenten Kriminalität des Nazi-Regimes in der Verfolgung der Juden aber auch anderer »Feind«-Gruppen. Die historische Wichtigkeit jüdischer Erinnerung für das Überleben der jüdischen Gruppenidentität hat nach der totalen Verfolgung einen totalen moralischen Autoritätsanspruch gewonnen, der sich, verständlich, aber nicht immer nützlich, auch auf die deutsche Erinnerungsgeschichte erstreckt. Ignatz Bubis, der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, reagierte in seiner Rede zum 60. Jahrestag der Kristallnacht so scharf auf Martin Walsers Kritik der deutschen Erinnerungs-Kontrolle, weil er hier den Versuch sah, »Geschichte zu verdrängen und Erinnerungen auszulöschen«. In der Sicht des kultur-politisch einflußreichen Zentralrats, für den Bubis hier sprach, kam Walsers Rede einer rechtsradikalen Verleugnung des Holocausts gleich – ein im Kontext von Walsers Werk unverständlicher Vorwurf, den Bubis instruktiverweise mit dem Hinweis auf die zentrale Macht der Erinnerung als »Mysterium der Erlösung« im Herzen der jüdischen Geschichte begründete. Walser hatte keinesfalls für Vergessen plädiert, sondern für ein weniger exklusives Nicht-Vergessen, das sich mehr auf fluide, vieldeutige, auch fragwürdige individuelle Erinnerungen bezog als auf öffentliche Gedächtnis-Politik mit nicht zu hinterfragendem Geltungsanspruch.

Das Problem, das hier weder der ausdrücklich für sich selbst sprechende Walser noch der ausdrücklich für seine Gruppe sprechende Bubis berührte, ist die kollektive deutsche Verinnerlichung des Anspruchs auf die Einzigartigkeit des jüdischen Opferstatus in seiner Verbindung mit dem Anspruch einer (darum) einzigartigen deutschen Gruppen-Schuld und Gruppen-Erinnerung. In diesem Szenario haben Juden historisch mehr und länger gelitten als alle anderen Gruppen und können deshalb größere moralische Macht beanspruchen. Darauf gründen auch die sich in den letzten Jahrzehnten häufenden Vorwürfe des »Antisemitismus« als sündhaftes Vergehen eher denn unangebrachtes soziales Verhalten – Vorwürfe, die in den USA ähnlich verallgemeinernd gebraucht werden wie »Rassismus«, aber politisch gefährlicher sind. Am größten ist diese Macht ehemaligen Leidens gegenüber »den Deutschen«, deren Schuld gegenüber den vormaligen Opfern kollektiv größer ist als die aller anderen Gruppen. Da die moralische Mächtigkeit des überlegenen Opferstatus zu allgemeinen kulturpolitischen Machtansprüchen führt, führt die moralische Schwäche der Schuld zur Erklärung kulturpolitischer Ohnmacht – für die, denen die Kollektivschuld nicht erlaubt, für sich selbst von ihren historischen Erfahrungen und Erinnerungen zu sprechen. Diese Ohnmächtigkeit wurde von Anfang durch die Politisierung der Schuldfrage verstärkt: »Die Deutschen« waren und sind die, die sich nicht wehren konnten gegen das, was Politiker und öffentliche Intellektuelle über ihre schuldige Ohnmacht zu sagen haben. Je mehr man mit ausschließlicher Gewissheit über die zur Ohnmacht führende Schuld anderer sprechen, ihnen Scham gebieten kann, desto mächtiger erscheint die eigene Stimme; desto sicherer fühlt man sich als Gruppe. Den (in dieser Hinsicht) kollektiv ohnmächtigen, weil schuldigen Deutschen stehen also nicht nur die (in dieser Hinsicht) mächtigen Opfer gegenüber, sondern auch deren in dieser Funktion noch mächtigere Fürsprecher, die sich aus dieser Position Machtzuwachs versprechen. Ohne diese einstimmige, von Anfang an politisierte Selbstgerechtigkeit gegenüber der angenommenen Kriminalität aller anderen hätte sich die Zentralität von »Auschwitz« in der deutschen Nachkriegskultur nicht durchsetzen können. Gerade die laute Einstimmigkeit der Anklage-Diskurse, ermöglicht durch das Schweigen »der Deutschen« in ihrer potenziellen Vielstimmigkeit, sollte zu denken geben und müsste kritisch befragt werden dürfen, denn es geht hier um Identitätspolitik als Interessenpolitik, die zunehmend auch von anderen Gruppen praktiziert wird.

Die kollektiv autorisierten Gedenkensdiskurse eines vormaligen Opferstatus stützen sich auf ein totalisierendes Konzept von Machtbeziehungen, das kritisch abwägende Diskussionen historischer Handlungen und Ereignisse sehr erschwert. In realistischer Sicht ist es durchaus verständlich, dass die gegenwärtige Identitäts-Politik vormalig verfolgter Gruppen es als zweckmäßiger ansieht, mit moralischen, das heißt von vornherein autorisierten Ansprüchen zu arbeiten, als auf dem unsicheren Boden immer wieder neu zu verhandelnder Interessenkonflikte. Wenn gegenwärtige Machtpositionen sich auf die Autorität vergangener Ohnmacht (religiös, rassisch, ethnisch, geschlechtlich, sexuell) berufen können, liegt es in ihrem Interesse, diese als dauernd, total und homogen zu evozieren – der historischen Zeit und der historiographischen Differenzierung weitgehend entzogen. So lag denn auch die Provokation von Hannah Arendts früher Kritik der Strategien der zionistischen Identitätspolitik in der Palästina-Frage (1944–48) vor allem in ihrer scharfen Kritik an politischen Strategien, die sich auf eine allgemeine, absolute, dauernde Autorität des Leidens beriefen, wo sie spezifische, temporäre Interessenkonflikte meinten. Die wörtliche Vitalität der Interessen in dieser Situation, Fragen des Überlebens, war ihr dabei durchaus klar; aber sie dachte auch in dieser Situation rational argumentieren zu können.

Diese Rationalität ist heute notwendiger als je, wo sich Israels Politik im Nahen Osten genau auf das Zusammenspiel von Macht und Ohnmacht stützt: »Auschwitz« als Gründungsmythos des neuen jüdischen Staates hat in der Tat all die Probleme mit sich gebracht, die Arendt und andere vor über einem halben Jahrhundert vorhersahen: ein politisch prämoderner, dabei erfolgreich technokratischer jüdischer Staat in Palästina, der sich auf die gõttliche Verheißung des »Landes ohne Volk» für das »Volk ohne Land» berufen und so ganz Palästina als auf Dauer unanfechtbares Eigentum des erwählten Volkes reklamieren würde. »Auschwitz« mit dem Anspruch auf die dauernde Einzigartigkeit und damit absolute Autorität jüdischen Leidens würde es de facto unmöglich machen, dass der neue jüdische Staat sich als eine Nation unter anderen sehen und mit ihnen eine offene, von Zufällen abhängige, unvorhersagbare Zukunft gegenseitiger Bedingtheiten, Zugeständnisse und Verantwortlichkeiten teilen würde. Die beiden Grundpfeiler des »niemals Vergessens« und »niemals wieder« würden dafür sorgen, dass diese neue politische Gründung für immer der ausschließlich jüdische Staat von 1948 bleiben würde, und zwar trotz (oder wegen) der besonders rapiden sozialen und politischen Veränderungen des letzten halben Jahrhunderts. Die mit der deutschen Kollektiv-Schuld verbundene deutsche ohnmächtige Selbstzensur, wo es um eine klare Kritik der langjährigen Unterdrückungs-Politik Israels gegenüber den ohnmächtigen Palästinensern geht, ist hier durchaus mit-verantwortlich gewesen. Unter anderem macht sie deutlich, dass man von deutscher Seite keine realistische Kritik an Israels prä-moderner Unfriedenspolitik im Nahen Osten erwarten kann, die ihrerseits so stark von Erinnerungsgeschichte und Erinnerungspolitik bestimmt ist und mitverantwortlich für die zunehmend explosive Erinnerungspolitik des fundamentalistischen Islam.

 

Zeitlichkeit und Erinnerung

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat die westliche Welt stillschweigend akzeptiert, dass autobiographische Erinnerungsgeschichten der Opfer des Nazi-Regimes wegen ihres extrem traumatischen Charakters nicht erhärtet werden können und sollen. Sie konnten so die allein wahrheitsgemäße Interpretation der Vergangenheit für sich beanspruchen, obwohl normalerweise die selektive und zeitlich verschwimmende Abfolge vergangener Vorfälle in der Erinnerung den Wert von Erinnerungsgeschichten als historische Evidenz in Frage stellt. Es geht dabei nicht um Wahrheitsentstellungen im Sinne von Lügen, sondern um das Verfassen von Geschichten, die einer vorgefassten, vor allem einer sinnvollen Bedeutung der Vergangenheit entsprechen sollen. Der Eichmann-Prozess mit seiner bewussten Choreographie einer großen Zahl individueller Erinnerungsgeschichten ging noch einen Schritt weiter: Die von den Augenzeugen rezitierten Geschichten wurden ihre Erinnerungen; die überlebenden Opfer waren und blieben die autorisierten Delegierten des Holocaust, die nicht hinterfragbaren Fakten. Diese Hyperfaktizität des Opfer-Status verdrängte über ein halbes Jahrhundert lang alle anderen Kriegserfahrungen aus dem öffentlichen Gedenken und trug bei zu der erheblich reduzierten historischen Wirklichkeit des Zweiten Weltkriegs und seiner Folgen.

Auf der Basis dieser Verdrängung hat sich die summarische kulturelle Gleichsetzung von Deutschen und Nazis vor allem in Deutschland und den USA bis heute erhalten. Die Repression der traumatischen Erinnerungen der Kriegsgeneration hat den Mythos der »Tätergeneration«, also des kollektiven Schuldverdachts, ermöglicht, der am Anfang des neuen Millenniums noch immer, ja in verstärkter Weise, alle Deutschen betrifft – parallel zum überzeitlichen Status von »Auschwitz«. In den jeweiligen Kontroversen über die immer noch, immer wieder »unbewältigte deutsche Vergangenheit« können diese Mythen beliebig variiert und ausgedehnt werden. Damit wird die Dauerdebatte über ein ungenügendes, unvollständiges, unbefriedigendes kollektives Gedächtnis »der Deutschen« zurückgeworfen auf die Anfänge der Debatte über die deutsche Kollektivschuld bei Kriegsende – ein politisch vieldeutiges, moralisch eindeutiges und deshalb wichtiges Anliegen der amerikanischen Besatzungspolitik nach dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes.

Über ein halbes Jahrhundert später sollte es möglich sein, die kollektive Erinnerung des Zweiten Weltkriegs in ihrer Beziehung zu individuellen Erinnerungen extremer Situationen sowohl von der Perspektive der kulturell und politisch bestätigten Opfer des Nazi-Regimes zu sehen, als auch derer, die nicht diesen Status haben. In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig zu fragen, inwieweit die kulturelle, politische Ablehnung (ein ungerechter, unehrenhafter Krieg) oder Bejahung (ein gerechter, ehrenvoller Krieg) die kollektive Erinnerung dieser Kriegserfahrung kontrolliert. Und wie sich diese Situation auf die jeweilig unterschiedlichen Abhängigkeitsverhältnisse zwischen kollektiven (öffentlichen) und individuellen (privaten) Erinnerungen auswirkt. D-Day, emblematisch für den materiell und moralisch absoluten Sieg auf amerikanischer und Niederlage auf deutscher Seite, ist ein gutes Beispiel für die weitgehende Übereinstimmung öffentlicher und privater Erinnerungen in den USA, aber nicht in Deutschland. Denn es ist nicht nur die Tatsache sondern auch die Art des Sieges oder der Niederlage, die die Dynamik der Beziehungen zwischen öffentlichen und privaten Erinnerungen bestimmt. Und so hat die deutsche öffentliche, kollektive Erinnerung an einen unehrenhaften, kriminellen Krieg die Kriegserinnerungen deutscher Soldaten auf Dauer aus der deutschen Nachkriegskultur ausgeschlossen. Die kollektive Erinnerung an den Vietnam-Krieg, der von einer großen amerikanischen Mehrheit als unehrenhaft und, noch schlimmer, als erfolglos angesehen wurde und wird, war für die ersten zehn Jahre von kultureller Ablehnung bestimmt, und so auch die individuellen Erinnerungen der »Vietnam veterans«. Das 1981 von einer chinesisch-amerikanischen Architekturstudentin entworfene Vietnam War Memorial in Washington hat in seiner bewussten Horizontalität die Individualität der Gefallenen und der Erinnerung an sie zu erhalten gesucht: Die eingegrabenen Namen sind nicht nur alle gut lesbar sondern auch mit der Hand zu erreichen und nachzuziehen. Dadurch wird mit der Pluralität auch die Individualität der Kriegserfahrung betont, und die kulturelle Wichtigkeit unterschiedlicher individueller Erinnerungsgeschichten bestätigt – gleichgültig wie negativ der Krieg im Ganzen weiterhin gesehen wurde. Dieses Denkmal ermöglichte es, Akte der Erinnerung an die, die in diesem Krieg den Tod fanden, in ihrer Abhängigkeit von der Zeitlichkeit derer zu sehen, die sich erinnern: Wie diese sich mit der Zeit veränderten, so veränderten sich auch die Erinnerungen. Es ist gerade die moderne Einsicht in die begrenzte Dauer der Erinnerung in ihrer Abhängigkeit von den zeitlichen Verwandlungen und der begrenzten Lebenszeit der Erinnernden, die umso unerbittlicher die tragische Verkürzung der Lebenszeit derer deutlich macht, die für weniger als nichts sterben mussten. Diese Dimension der Tragik ist den deutschen Gefallenen des Zweiten Weltkriegs und ihren Familien a priori verweigert worden.

Wie die enthusiastische deutsche Rezeption, aber auch die sich vorsichtig zurücktastende Erzählweise von Grass’ Im Krebsgang zeigen, ist die Frage wie weit »die Deutschen« öffentlich von ihren Erinnerungen an extreme Erfahrungen im Krieg sprechen dürfen, immer noch ein Politikum. Es war daher wichtig, dass ein öffentlicher Intellektueller wie Grass, bekannt für seine kritische Sicht der deutschen »Vergangenheitsbewältigung«, den traumatischen Untergang eines mit Vertriebenen überladenen Schiffes beschrieb. Ihm konnte man nicht so leicht den bei diesem Thema erwarteten Vorwurf eines illegitimen Vergleichs mit Nazi-Greueltaten machen. Vor allem aus Angst vor diesem Vorwurf sind deutsche Erinnerungen an den Krieg politisch und kulturell unterdrückt worden, ob es sich nun um Fronterfahrung handelt oder Luftangriffe und Flucht. Wenn man diese Ängstlichkeit etwas revidiert und sich im Falle erinnerter traumatischer Ereignisse auch auf die Untersuchung von Erinnerungs-Strukturen und nicht nur Erinnerungs-Inhalten einließe, könnten sich durchaus nützliche Vergleiche zwischen deutschen und jüdischen Erinnerungsgeschichten ergeben. Schließlich geht es in beiden Fällen um extreme Erfahrungen, die für so viele Menschen im Endstadium des Zweiten Weltkrieges so schauerlich »normal« waren. Wir wissen immer noch viel zu wenig über Verhaltensweisen in extremen Situationen, und noch weniger von deren Auswirkungen auf Erinnerungsprozesse. In der psychologischen Literatur gibt es sehr verschiedene Ansichten – und Debatten – über die Zuverlässigkeit der Erinnerung extremer Situationen: größere faktische Genauigkeit oder verstärkte Neigung zu Fiktionen. Was hat das für die politische Potenz der Erinnerung zu bedeuten?

Die Erinnerungsdiskurse traumatischer Erfahrungen sind im Zeitalter der Globalisierung politisch immer wichtiger geworden, weil sich auf sie die im Westen zunehmend einflussreiche Identitätspolitik einer Vielzahl sehr verschiedener Gruppen stützt, und in der nichtwestlichen Welt die Identitätspolitik wachsender fundamentalistischen Bewegungen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich die Welt grundlegend verändert. Statt aber während dieser turbulenten Jahrzehnte die Verworrenheiten und Fehlschlüsse jener ersten Debatte über deutsche Kollektivschuld aus historisch informiertem Rückblick allmählich zu klären, schufen die neuen, bemerkenswert ahistorischen Erinnerungsdebatten nur neue Missverständnisse. Die Gründe hierfür sind in der zunehmend ritualisierten Praxis des Gedenkens zu suchen, die von der fortdauernd störungsanfälligen Kulturpolitik der deutsch-jüdischen Beziehungen sowohl bestimmt wird als auch zu ihr beiträgt. Sie ist zu einem großen Teil verantwortlich für die immer noch erstaunlichen Kenntnis- und Erinnerungslücken, wo es sich um die nicht-jüdischen Zeitgenossen des Zweiten Weltkriegs und seiner Konsequenzen handelt. Am Anfang des neuen Millenniums scheint das für die deutsche Nachkriegskultur so wichtige und so eindeutig politisierte Szenario von Schuld und Unschuld, Opfer und Täter nicht nur zutiefst ahistorisch sondern auch auf schädliche Weise provinziell. «Auschwitz« meint schon lange nicht mehr den Ort und die damit verbundenen historischen Ereignisse, Täter und Opfer, sondern deren mythische Repräsentation. Die längst historiographisch belegte Tatsache, dass im KZ Auschwitz nicht, wie vorher angenommen, vier Millionen Menschen getötet wurden sondern etwas über eine Million, ist vor allem wichtig als Revision, denn diese verweist auf die Geschichtlichkeit dieses (wie jedes) Massenmordes. Aber der überzeitliche Mythos »Auschwitz« stellt diese Geschichtlichkeit immer noch so radikal in Frage, dass sich die historischen Verfolgungen als ›undenkbar‹ und ›unaussprechbar‹ der historischen Darstellung entziehen. Allein der Verweis auf die Revidierung mythischer Zahlen ist dann Häresie: die Verletzung einer mit dem Erinnerungsdiskurs der Leiden gestifteten, nicht hinterfragbaren, in diesem Sinne religiösen jüdischen Gruppenidentität. Damit wird jede kritisch-historische Befragung des »Holocaust« schnell zur Holocaust-Verleugnung, gegen die dann der Mythos der Täter-Generation angerufen wird. Noch weniger sinnvoll ist die Behauptung eines solchen Sonderstatus nach den Terror-Angriffen vom 11. September 2001, die sowohl auf die generelle Problematik des westlichen Globalisierungsprojekts verweisen als auch auf die spezifischen Konsequenzen von Israels Palästina-Politik, deren Gründungmythos »Auschwitz« war und geblieben ist. Sinnvoll wäre dagegen mehr als je zuvor eine umsichtige Historisierung der Nazi-Periode, wie sie Martin Broszat schon 1985 gefordert hat – damals wie heute gegen die Interessenpolitik eines Beharrens auf der suprahistorischen Einzigartigkeit des Holocaust und seiner überzeitlichen kollektiven Erinnerungsdiskurse.

Gerade in diesem Beharren treffen sich jüdische und islamische Fundamentalismen, also Positionen einer besonderen und, wie sich immer deutlicher herausstellt, gefährlichen kulturellen Selbstbeschränkung, die die für die übrige Welt so außerordentlich wichtigen islamischen Modernisierungsbestrebungen nur kompromittieren kann. Überdies verträgt sich die gegenwärtige westliche Zielvorstellung eines modernen, inklusiven, multi-ethnischen Geschichtsbewusstseins kaum mit der auf Dauer angelegten, exklusiven Übergeschichtlichkeit von »Auschwitz« im Zentrum der westlichen Moderne. Israels Politik im Nahen Osten wird von der islamischen Welt nicht mit »Auschwitz« verbunden, sondern mit dem verhassten politischen und ökonomischen Imperialismus der USA, der verteufelten und begehrten, globalisierenden westlichen Technologie. Zeitgenössisch relevant dagegen könnte jetzt eine konsequente Historisierung der Nazi-Periode und der Kriegserinnerungen sein, die sich der anachronistischen Zwänge eines überhistorischen »Auschwitz« entledigte. Damit würden aus dem historischen Rückblick zum Beispiel auch die Zusammenhänge besser sichtbar, die zwischen dem Machtzuwachs radikaler Parteien und den für viele Bevölkerungsgruppen schwierigen frühen Globalisierungsprojekten in der Weimarer Zeit bestanden. Es scheint zwar schwer, sich ein gutes westliches Leben ohne ständige Beschwörung »der Nazis« als Vertreter »des Bösen« vorzustellen – schließlich sind diese (wie der jüdisch-amerikanische Intellektuelle Tony Judt befriedigt vermerkte), ein willkommenes, ja notwendiges Bollwerk gegen postmodernen moralischen Relativismus. Wer wären wir denn, wenn wir uns nicht radikal von den monströsen Nazis distanzieren könnten? Aber um die spezifische Bösartigkeit dieser wie auch anderer extremer ideologisch-politischer Bewegungen zu verstehen, müssen moderne historische Differenzierungen und Vergleiche möglich sein, und dazu gehört eine kritischere Perspektive auf die so intensiv und anhaltend politisierten deutschen Erinnerungsdiskurse.