Dunja Melcic

Die Asymmetrie der Gerechtigkeit

Der Internationale Strafgerichtshof und die »Parallelisierung der Schuld«

Die Tätigkeit des Kriegsverbrechertribunals in Den Haag wirft viele Fragen auf. Es rekurriert auf ein Staatswesen, das es nicht mehr gibt, nämlich Jugoslawien, und balanciert ganz unterschiedliche Schuldhaftigkeiten der Kriegsparteien aus. Wäre es aber ohne die gewaltsame Verwirklichung des großserbischen Programms überhaupt zu Kriegsverbrechen und zur Errichtung dieses Gerichtshofes gekommen? Die Haager Rechtsprechung scheint jedoch einen »Parallelismus der Schuld« anzunehmen – sogar angesichts des Genozids von Srebrenica.

 

In südländischer Geschwindigkeit eröffnete mir Florence Hartmann, Pressesprecherin der Chefanklägerin des ICTY, Carla Del Ponte, während eines Gesprächs im vergangenen Februar die vielfältigen Gründe für Kritik und Missbilligung der Umgangsweise mit der Arbeit des Gerichts in den Heimatländern der Angeklagten beziehungsweise der mutmaßlichen oder bereits verurteilten Kriegsverbrecher. Sie hatte Recht, ohne Zweifel. Das Gericht und diese Prozesse, das ist ihrer Meinung nach etwas, was die Weltgemeinschaft für die betroffenen Menschen aus den in die Kriege verwickelten Ländern tue. Das alles solle die Auseinandersetzung mit Kriegsverbrechen, Gründen und Hintergründen sowie eigener Komplizenschaft, kurzum so etwas wie Vergangenheitsbewältigung ermöglichen. Diese Möglichkeit gebe es nur auf Zeit. Doch die jeweilige Öffentlichkeit ergreife sie nicht, sie stelle sich nicht der Vergangenheit – nicht einmal die linke Feral Tribune aus Split habe beispielsweise auch nur eine Zeile zum Verfahren und zur streckenweise ergreifenden Beweisführung gegen die berüchtigten Schergen aus Mostar Mladen Naletilic Tuta und Vinko Martinovic Stela geschrieben. Es gehe bei den Prozessen um grässliche Verbrechen und der Strafgerichtshof sei gar nicht voreingenommen gegen irgendeine Seite, wie man das in Belgrad und Zagreb behaupte. Auf meine Erwähnung, dass es Ansätze einer Auseinandersetzung über die im serbischen Namen begangenen Verbrechen in Belgrad gebe, ist ihr wichtig festzustellen, dass es sich dabei um eine verschwindend kleine Minderheit handele. In der Tat ist der Umgang mit dem ICTY in Zagreb und Belgrad auf vielfältige Weise unzulänglich, und eben nicht nur dort und nicht nur auf die Weise, die in Den Haag negativ auffällt.

 

Doch sollen jetzt, sozusagen zum zehnten Jahrestag des Haager Strafgerichtshofs, auch grundsätzlichere Fragen gestellt werden. So einleuchtend es war, ein internationales Gericht mit der Ahndung der Kriegsverbrechen gemäß dem Völkerrecht zu beauftragen, so ist nicht von der Hand zu weisen, dass eben darin auch die geringe Akzeptanz liegen kann.(1) Das Gericht trägt in entscheidendem Maße dazu bei, dass die Fakten des Krieges mit großer Zuversicht – beyond any reasonable doubt, wie es heißt – festgestellt werden, was Grundlage nicht nur für die Urteilsfindung, sondern auch für eine ethische, moralische und politische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit darstellt. Damit das funktioniert, bedarf es einer politischen Gemeinschaft; die Verfahren vor dem ICTY spielen sich aber jenseits einer kommunikativ-politischen Gemeinschaft, ja eigentlich außerhalb der betreffenden Gesellschaften ab. Die kommunikative Gemeinschaft kann man durch Fernsehübertragungen nicht ersetzen – nicht nur weil auch auf dem »Balkan« genauso gezappt wird wie in demokratisch verfassten Rechtsstaaten des Westens. Da es auch wenig Interesse in der durch die uneingeschränkte Macht der »freien« Weltmedien beherrschten Weltöffentlichkeit gibt, kann man nicht einmal unterstellen, die von den UN eingeleiteten Kriegsverbrecherprozesse spielten sich vor einer »Weltgemeinschaft« ab.

Doch im Grunde ist das Gericht selbst nicht daran schuld, dass es sich gleichsam im Nirgendwo befindet. Diese absurde Situation ist durch die Resolution des Sicherheitsrates (827) vom 25. Mai 1993 herbeigeführt worden, die die Errichtung eines Internationalen Tribunals für die Verfolgung verantwortlicher Personen für schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien seit 1991 anordnete. Der Internationale Strafgerichtshof trägt daher in seinem Namen »International Criminal Tribunal for Yugoslavia« (ICTY) die Bezeichnung eines Staates, den es nicht mehr gibt, genauer: den es schon nicht mehr gab, als die Resolution beschlossen wurde. Zwar kann das vielen zunächst völlig einleuchtend erscheinen; denn zumeist wird man denken, dass die Kriegsverbrechen im Rahmen des Staatszerfalls geschahen; so wäre diese Bezeichnung gleichsam Name für den Tatort. Diese allgemein verbreitete Meinung ändert dennoch nichts an der Tatsache, dass das an sich epochale Geschehen vor dem Tribunal auf ein nicht existierendes Staatswesen rekurriert und dass die Verfahren keinen expliziten referenten (Rechts-)Staat haben und sich auf keine politische Gemeinschaft wenden können, auf die die Urteilssprüche des Gerichts wirken sollten.

Der Vergleich mit den Nürnberger Prozessen macht diesen Mangel klar: Sie fanden im Land der Täter statt und somit mitten in der betroffenen politischen Gemeinschaft, die daher reagierte, kommentierte, kritisierte, kurzum in steter Kommunikation mit dem Geschehen vor dem Gericht war und sich so mit der Sache, die da verhandelt wurde, oder mit den Leugnern der Verbrechen auseinander setzte. Kein internationales Gericht auf neutralem Boden kann das ersetzen. Weil man ja weiß, was den Prozessen in Nürnberg – als deren Ermöglichung – vorausging, drängt sich der Eindruck auf, dass das ICTY eine von vielen Ersatzhandlungen ist, mit denen der Sicherheitsrat auf die von Belgrad angezettelten Kriege reagierte.

 

Man kann sich noch eines weiteren Eindrucks nicht erwehren, dass nämlich ein Hintergedanke bei der Errichtung des Tribunals in der Absicht lag, ein hypothetisches »jugoslawisches Gericht« zu ersetzen, das es durch die Auflösung des Staates nicht mehr geben konnte. Das stellt das Gericht selbst nicht in Frage, erinnert aber an die Kehrseite der Sache, an das Falsche im Richtigen, wie man es schon aus der Praxis der UNO kennt und etwa mit der Errichtung der Schutzzonen in Bosnien erlebte. Statt das Morden in Bosnien-Herzegowina – nicht im »ehemaligen Jugoslawien« – zu stoppen, beschließt der Sicherheitsrat, ein Tribunal gegen Kriegsverbrechen zu errichten, die ab diesem Mai 1993 nicht nachlassen, sondern sogar im Juli 1995 in dem singulären Massenverbrechen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg in Srebrenica kulminieren. Diese perverse Verkehrung der Sachverhalte konnte natürlich nicht ohne Folgen für das Tribunal bleiben. Sobald man einmal diese Koppelung des Kriegsverbrechertribunals mit der »jugoslawischen« Bezeichnung nicht mehr als selbstverständlich hinnimmt, stößt man auf viele offene Fragen. Diese Bezeichnung definiert offensichtlich einen strafrechtlichen Rahmen. Nur wegen dieses »jugoslawischen« Rahmens ist es möglich, dass vor diesem Tribunal einerseits Kapitalverbrechen wie Massenmorde in Vukovar, geplante, systematische Ausrottung der nichtserbischen Bevölkerung in ganzen Landstrichen Nord- und Ostbosniens und der Genozid von Srebrenica verhandelt werden, andererseits zugleich solche Verbrechen, derentwegen allein ein solches internationales Gericht niemals errichtet worden wäre. Die beim Gericht tätigen Juristen müssen sich an diesen Rahmen halten, der doch ein Ausbalancieren der Schuldigkeiten unter den Kriegsparteien a priori mit angesetzt hat. Die Folge davon ist eine krasse Ungleichheit der Leistungen des Gerichts. Durch den Willen zur Parallelisierung entsteht eine Asymmetrie der Gerechtigkeit als Resultat. Wie sehr das der Fall ist, erschließt sich, wenn man mit den zahlreichen Fällen und Verfahren (davon 37 Verurteilungen) en détail vertraut ist. Allgemeiner bekannt wird der Fall von Biljana Plavsic, der früheren Präsidentin der bosnischen Serben, sein. Sie gehörte zur Spitze jener kriminellen Politiker in Bosnien-Herzegowina, die den Krieg für »serbische Territorien«, den Völkermord und zahlreiche andere Kriegsverbrechen zu verantworten haben. Wegen des Schuldbekenntnisses Plavsics zu einem Anklagepunkt ließ das Gericht andere Anklagepunkte (so auch Genozid betreffend) fallen und später bei der Schuldbemessung unglaubliche Milde walten. Das Ganze ist vollkommen unangemessen gegenüber der Schwere der Verantwortung, die die Präsidentin der »Republika Srpska« tatsächlich trug, und lässt Zweifel über den Sinn des ICTY und über die Kompetenz der Richter aufkommen. Im Verhältnis zu vielen anderen Strafbemessungen des Gerichts von 20, 25 und 40 Jahren gegenüber Angeklagten, die eher kleine Rädchen des Übels waren und dabei auch, wie Plavsic, nicht direkt Straftaten ausübten, wirkt die Privilegierung Plavsics wie eine Untergrabung des Gerechtigkeitsprinzips.(2)

 

Ist die Aufgabe eines solchen internationalen Gerichts, im Krieg begangene Kapitalverbrechen im Namen des Völkerrechts zu ahnden oder Nationalismus und ethnischen Hass zu bekämpfen? Ein auf dem Völkerrecht beruhendes Gericht müsste wohl Kapitalverbrechen und die obersten Verantwortlichen verfolgen, unabhängig davon, welcher Nation sie entstammen. Dass es Verbrechen verfolgt, für die es sich unter anderen Umständen als nicht zuständig erklären würde, lässt darauf schließen, dass ihm ausgehend von dem ideologisch gesetzten »jugoslawischen« Rahmen beziehungsweise dem angeblichen ethnischen Bürgerkrieg die Vorgabe mit in die »Wiege gelegt« wurde, für einen imaginierten »Ausgleich« der Schuld unter den Parteien oder den beteiligten Ethnien zu sorgen. Ein unumstößliches Faktum ist aber, dass im Zuge der gewaltsamen Verwirklichung des großserbischen Programms die meisten Verbrechen verübt wurden. Man stelle sich vor, das ICTY würde nur diese Verbrechen ahnden! Die Empörung würde kein Ende nehmen, obwohl das von der Sache her logisch wäre: Denn es ist faktisch deshalb gegründet worden.

Andersherum gesagt: Ohne dass serbische Truppen – welcher Gattung und Provenienz auch immer – 1991 und danach vor Augen der Weltöffentlichkeit ganze Städte zunächst in Kroatien belagert, entvölkert, bombardiert, ganze Gegenden dem Boden gleichgemacht hätten, ohne dass dieselben Täter ab Frühjahr 1992 dieses massenweise Morden und Vertreiben der Zivilbevölkerung noch in größerem Umfang in Bosnien-Herzegowina fortgesetzt hätten, wäre im Mai 1993 kein »International Criminal Tribunal« gegründet worden. Wegen der Verbrechen anderer Täter hätte sich niemand veranlasst gesehen, ein internationales Ad-hoc-Gericht zu errichten. Man wäre dann andere Wege gegangen, um der Gerechtigkeit zu genügen. Aber die Allgemeinheit weiß nichts davon. Sie glaubt vielmehr zu wissen, dass in jenem »ethnischen Bürgerkrieg«, wie sie die von Milosevic angezettelten, gemanagten, finanzierten und letztlich verlorenen Kriege versteht, »»alle« schuldig sein müssen und erwartet, dass nicht »nur Serben« der Prozess gemacht wird. Von diesem Horizont her entsteht der Wunsch nach Parallelisierung. Allerdings werden dadurch jene nationalistischen serbischen Wortführer, die unablässig von der Einseitigkeit des ICTY tönen, niemals zufrieden gestellt. So hat das Gericht am 2. August 2001, dem gleichen Tag, als die Erste Strafkammer das verdient hohe Urteil wegen des Srebrenica-Genozids gegen den General der VRS (Armee der bosnischen Serben) Krstic verlas, die bis dato geheim gehaltene Anklageschrift gegen drei bosniakische Generäle öffentlich gemacht (Aktenzeichen: IT-01-47). Diese Art ausgleichender Gerechtigkeit kann »den Serben« gestohlen bleiben, handelt es sich bei den Inkriminierungen doch um Verbrechen an bosnisch-kroatischer Zivilbevölkerung. Die Liste der Personen, die eine indoktrinierte serbische Öffentlichkeit vor dem Gericht sehen möchte, ist lang und sehr international. Neben Genscher, Clinton, Kohl gelten Izetbegovic und Adem Thaci als Kriegsverbrecher. Vor allem erwartet die serbische Öffentlichkeit noch immer, dass »Verbrechen« an Serben geahndet werden, die sich nur in deren Massenmedien ereigneten, dafür aber nach allen Regeln der blutrünstigen Kunst der Schilderung von Gräueltaten ausgeschmückt waren. Es hat in Belgrad noch niemand gewagt, sie als literarische Produkte richtig zu stellen. Wenn tatsächlich Verbrechen an serbischen Zivilisten gerichtlich geahndet werden, wird das fast ignoriert – wie neulich, als in einem mustergültigen Prozess hohe Militärs der kroatischen Armee, die sich große Verdienste für die Verteidigung des Landes in der prekären ersten Phase des Krieges erwarben, vor dem Bezirksgericht in Rijeka zu hohen Freiheitsstrafen wegen Erschießung serbischer Zivilisten im Oktober 1991 verurteilt wurden. Ein historisches Urteil übrigens.

Kein Gericht auf Erden kann das mit Mythen von einer besonderen historischen Rolle aufgeladene serbische Verlangen nach »Gerechtigkeit für die Serben« stillen. Immerhin ist das Gericht mit ausgleichenden Perspektiven und Vorabdefinitionen des Konflikts schon durch die Gründungsresolution belastet, die ihm den Auftrag erteilt, Personen, »responsible for serious violations of International Humanitarian Law committed in the Territory of the Former Yugoslavia since 1991«, zu verfolgen. Wie man sieht, ist das eine Definition mit »open end« (Art. 8) (3): Was nicht mehr existiert, kann ewig dauern.

 

Der neue Präsident des ICTY, Theodor Meron, unterstreicht – bezogen auf den ersten Fall, der alle Prozessinstanzen durchlief –, das Gericht und die Richter hätten mit diesem Urteil bestätigt, dass der Begriff der Kriegsverbrechen auf einen nichtinternationalen (non international) bewaffneten Konflikt anwendbar sei.(4) Diese Sicht der Dinge des neuen Präsidenten entspricht der verschwommenen Definition des Geltungsbereiches des Gerichts. Eigentlich aber schuf sich das Gericht gerade in diesem Fall eine wichtige Präzedenzentscheidung, weil die Berufungskammer den Konflikt, in dem der Angeklagte die Verbrechen beging, zum ersten Mal als einen zumindest teilweise internationalen Konflikt definierte.(5) Es geht hier nicht darum, auf Widersprüche hinzuweisen, die eventuell dem neuen, noch nicht ausreichend eingearbeiteten ICTY-Präsidenten unterlaufen wären. Der Widerspruch liegt in der Sache selbst; man kann auch keine Logik bei den richterlichen Entscheidungen entdecken, wann das Prinzip »internationaler Konflikt« Anwendung findet und wann nicht. So berief sich die Erste Strafkammer unter dem Vorsitz von Claude Jorda, dem Vorgänger Merons, bei dem Schuldspruch gegen den bosnisch-kroatischen Kommandeur der HVO, Tihomir Blaskic, maßgeblich auf dieses Urteil. Im Urteil gegen den General der VRS, Krstic, spielte es hingegen keine Rolle(6), so, als wäre es belanglos, dass der Völkermord in Srebrenica im Zuge eines Eroberungskrieges passierte. Vielmehr zeigte der Vorsitzende, Almiro Rodrigues, in der Urteilsverkündung geradezu Verständnis für die strategische Bedeutung, die Srebrenica als Verbindungsglied zwischen Serbien und dem serbisch kontrollierten Bosnien »[t]o the Bosnian Serbs« hatte.(7)

 

Vielleicht sollte man darin eine Art postmoderner Rechtsauffassung sehen: Dann gilt sowohl der Spruch vom internen wie vom internationalen Konflikt, je nach Bedarf. So kann der Staatsanwalt in mühsamer und Zeit raubender Arbeit Stück für Stück nachweisen, dass Milosevic von Belgrad aus den (unerklärten) Krieg gegen Kroatien und Bosnien-Herzegowina führte – was man Angriffskrieg nennt, aber im Sprachgebrauch des ICTY nicht vorkommt; das wäre ja präjudizierend. Die Arbeit der Staatsanwaltschaft erschwert, dass dieser Angriffskrieg als Bürgerkrieg getarnt oder auch – unter reger Beteiligung der heimischen Anhänger Großserbiens – mehr oder weniger geschickt inszeniert wurde. Die Verteidigungsstrategie Milosevics fährt natürlich auch diese Linie: es hätte einen ethnischen Bürgerkrieg gegeben und er habe bloß interveniert, um die angegriffenen Serben in Kroatien und Bosnien-Herzegowina zu retten sowie eine Friedenslösung herbeizuführen. Die Annahmen über einen internen ethnischen Konflikt auf dem »Territory of the Former Yugoslavia«, die nicht als präjudizierend gelten, können für Milosevic von großem Nutzen sein. Außerdem muss man sie geradezu als Programm verstehen. Denn wie sonst wäre es möglich, dass der Staatsanwalt der Vereinten Nationen im März 2003 Anklage gegen vier Kosovo-Albaner erhebt, die ihnen zu Last legt, 1998 (also vor dem Kosovo-Krieg) als Befehlshabende der UÇK verantwortlich für Folter und Morde an Kosovo-Serben und (verräterischen) Albanern (Aktenzeichen: IT-03-66-I) in einem – im Grunde privaten – Gefängnis in Glogovac gewesen zu sein. Ist das ein Fall für ein internationales Kriegsverbrechertribunal? Wohl kaum. Die Staatsanwaltschaft übt sich auch in der skizzierten postmodernen Rechtsauffassung. Außer dass sie den Angeklagten »Verstöße gegen Gesetze oder Gebräuche des Krieges« vorwirft und zu diesem Zweck kurzerhand den Zustand der jahrelangen staatlichen Unterdrückung und serbischen Polizeidiktatur in Kosovo als »bewaffneten Konflikt« umdefiniert,(8) benutzt die Chefanklägerin die Klausel über »superior command and control«, das heißt »superior criminal responsibility«, um aus lokalen Straftaten und kleinkalibrigen Straftätern einen Fall höherer Größenordnung zu schaffen, hinter dem eine großartige Befehlsgewalt, Planung, ethnisch bestimmte Strategie stehen müsste, um sie vor dem Gericht, nach den Normen des Völkerrechts verhandelbar zu machen. Wenn die Anklägerin Verbrechen solcher Größenordnung in Serbien verfolgen würde, müsste sie sich die Hälfte der dortigen Gefängnisdirektoren und Polizeichefs vorknöpfen und wahrscheinlich die meisten von jenen, die in Kosovo tätig waren, unter Anklage stellen.(9)

 

Ähnliche Asymmetrie der Größenordnung von Verbrechen kann man auch in anderen Anklageschriften finden, obwohl natürlich auch nichtserbische Akteure, Truppen und Soldaten Kapitalverbrechen begangen haben. Das Schlimmste darunter war das von den bosnisch-kroatischen Einheiten (HVO) begangene Massaker im mittelbosnischen Dorf Ahmici, bei dem ganze bosniakische Familien und insgesamt knapp 100 Leben ausgelöscht wurden. Die Massenmorde an 33 kroatischen Bauern im herzegowinischen Dorf Grabovica und an 27 in der Ortschaft Uzdol, die von den Soldaten der bosniakischen Armee BH verübt wurden, kann man auch als Kapitalverbrechen bezeichnen. Dass die Verantwortlichen für diese und eine Reihe anderer von nichtserbischen Akteuren begangenen Kriegsverbrechen vom ICTY angeklagt wurden, kann als unstrittig gelten, auch wenn wegen dieser Verbrechen allein der UN-Sicherheitsrat einen Strafgerichtshof nicht errichtet hätte. Aber die Anklägerin konstruiert in solchen Fällen Anklagepunkte ausgehend von der These oberster Befehlsgewalt beziehungsweise strafrechtlicher Verantwortung, die nicht ganz überzeugen. So hat man, wenn der damalige bosniakische Armeechef Safer Halilovic für die erwähnten Massaker angeklagt wird(10), den Eindruck, es gehe hauptsächlich darum, einen »großen Fisch« vors Gericht zu ziehen. Die Anklagen (und Schuldsprüche) gegen kroatische Führung und Militärs sind streckenweise in der Beweisführung und Urteilsbegründung so problematisch, dass man sie gesondert analysieren muss. Eins aber zeichnet sich ziemlich deutlich ab, dass nämlich sowohl die Staatsanwaltschaft wie die Richter dazu tendieren, die Dimensionen besonders der von kroatischen Akteuren begangenen Kriegsverbrechen jenen der Hauptagierenden des Krieges anzugleichen. Wer die Maxime beherzigt, dass man Verbrechen nicht gegeneinander aufrechnen darf, müsste solch nachträgliches Angleichen als nivellierend auch ablehnen. Dass das kein Verniedlichen der Verbrechen anderer bedeutet, versteht sich von selbst.

Absurderweise ist gerade das Haager Gericht der Ort, an dem unzählige handfeste Beweise über die Ausmaße des Verbrechens, die im Namen eines ethnisch reinen Großserbien geplant und verübt wurden, gesammelt sind. Nirgendwo sonst ist es so evident, dass – von den tatsächlich erbrachten Beweisstücken her – keine Parallelisierung angebracht ist. Doch schon sein Name »ICTY« gibt dem Gericht eine Parallelisierung vor, die letztlich zur Verwischung des Unterschieds zwischen Täter und Opfer führt und bei keiner anderen vergleichbaren Kriegssituation als auf dem Kriegsschauplatz genannt »ehemaliges Jugoslawien« denkbar wäre. Und so erhebt die Staatsanwaltschaft im April 2003 Anklage gegen den Kommandierenden von Srebrenica, Naser Oric, wegen Kriegsverbrechen an serbischer Bevölkerung in den Ortschaften um Srebrenica, das über drei Jahre belagert und von eben diesen Ortschaften aus, in denen zuvor die Moslems massenweise umgebracht und vertrieben wurden, bedrängt wurde.(11) So entwertet das Gericht gleichzeitig seine bewundernswerte Arbeit selbst, indem seine von der Erwartung der Parallelisierung geleitete Praxis letztendlich zur Relativierung des Verbrechens führt. Wem soll es dienen, wenn die ungeheuerlichen Dimensionen dieser Verbrechen so wie der singuläre Massenmord bei Srebrenica in ein relativierendes Licht gerückt werden?(12)

 

1

Die damit verbundenen Fragen liegen auf einer anderen Ebene als jene, denen das Gericht, ohne Mühe zu scheuen, zu begegnen sucht, als da wären Kommunikation in verständlicher Sprache, Zugänglichkeit der Verfahren durch elektronische Medien etc. (Vgl. Kommune 2/03).

2

Plavsic IT-00-39&40/1: »Bosnia and Herzegovina« sentencing judgement vom 27. Februar 2003.

3

Vgl. Statute of the International Tribunal.

4

Siehe das Interview in The Institute for War & Peace Reporting, (http://www.jwpr.net); es handelt sich um den Fall von Dusko Tadic (Aktenzeichen: IT-94-1-I).

5

Vgl. Tadic IT-94-1 »Prijedor«; sentencing judgement 14. Juli 1997 und judgement 15. juli 1999.

6

Vgl. Dunja Melcic: »Die schwierige Durchsetzung der Gerechtigkeit. International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia«, in: Rechtshistorisches Journal, 20/2001; Blaskic IT-95-14 »Lasva Valley«, judgement vom 4. März 2000.

7

Aktenzeichen: IT-98-33-PT: »because the region known as central Podrinje was in that part of Bosnia bordering Serbia and because it was important to establish the continuity, in Bosnia like in neighbouring Serbia, of the territories under Serbian control«. Vgl. auch: Julija Bogoeva/Caroline Fetscher (Hrsg.): Srebrenica. Ein Prozess, Frankfurt am Main 2002.

8

Aus der Anklageschrift: »At all times relevant to this indictment, a state of armed conflict existed in Kosovo.« Bessere Hilfe kann sich Milosevic gar nicht wünschen!

9

Das Gericht erklärt sich sogar für Fälle zuständig, die während des bewaffneten Aufstands der mazedonischen Albaner im Frühjahr 2001 vorgefallen waren, und erpresst die Übertragung der laufenden Verfahren vor den allein zuständigen nationalen Gerichten des mazedonischen Staates nach Den Haag, da dessen Rechtssystem kein Schutzprogramm für die Zeugen vorsieht, wie es in der Begründung der Chefanklägerin heißt.

10

Aktenzeichen IT-01-48-I (September 2001).

11

Aktenzeichen IT-03-68; Oric wird vorgeworfen, für die Menschenrechtsverletzungen an der serbischen Zivilbevölkerung und an Gefangenen zwischen September 1992 und März 1993 durch bosniakische Militärpolizei verantwortlich zu sein. Aus der Anklageschrift geht hervor, dass Oric Kommandeur des schmalen Srebrenica-Gebietes war; man hat den Eindruck, dass die Chefanklägerin Del Ponte zielstrebig vermeidet, die Lage, die Wirklichkeit von Srebrenica zu erwähnen; das Wort Verteidigung kommt nur im Namen »Territorial Defence« vor. Belagerung, »UN-Schutz-Zone« gar nicht. Oric erscheint als Täter und da wird der ganze Hergang und die ganze Tragödie des jahrlangen und elendiglich verlorenen Überlebenskampfes ausgeblendet.

12

Am 11. Juli »sind in dem Dorf Potocari 282 Opfer des vor acht Jahren verübten Massakers von Srebrenica in einer feierlichen Zeremonie beigesetzt worden. ... Ende März waren in einem in Potocari errichteten Friedhof die ersten 600 Opfer feierlich bestattet worden. Ende September soll die für sämtliche Opfer geplante Gedenkstätte offiziell eingeweiht werden. Bisher wurden rund 5000 sterbliche Überreste gefunden, und 1620 Personen konnten identifiziert werden.« (NZZ, 12.07.03)
Im Mai 2003 begann der so genannte zweite Srebrenica-Prozess; die Geständnisse zweier Angeschuldigten, von Momir Nikolic und Dragan Obrenovic, tragen zur vollen Wahrheit über dieses größte Massenverbrechen in Europa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erheblich bei und sind von entscheidender Bedeutung für die Beweisaufnahme gegen andere Angeklagte. Dafür ließ der Ankläger die beiden anderen Anklagepunkte fallen und so werden zwei direkt am Völkermord beteiligte Soldaten nur wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit (mit einem Strafmaß von 10 bis 15 Jahren) angeklagt.