Dunja Melcic
Die Asymmetrie der Gerechtigkeit
Der Internationale Strafgerichtshof und die
»Parallelisierung der Schuld«
Die Tätigkeit des
Kriegsverbrechertribunals in Den Haag wirft viele Fragen auf. Es rekurriert auf
ein Staatswesen, das es nicht mehr gibt, nämlich Jugoslawien, und balanciert
ganz unterschiedliche Schuldhaftigkeiten der Kriegsparteien aus. Wäre es aber
ohne die gewaltsame Verwirklichung des großserbischen Programms überhaupt zu
Kriegsverbrechen und zur Errichtung dieses Gerichtshofes gekommen? Die Haager
Rechtsprechung scheint jedoch einen »Parallelismus der Schuld« anzunehmen –
sogar angesichts des Genozids von Srebrenica.
In südländischer
Geschwindigkeit eröffnete mir Florence Hartmann, Pressesprecherin der
Chefanklägerin des ICTY, Carla Del Ponte, während eines Gesprächs im vergangenen
Februar die vielfältigen Gründe für Kritik und Missbilligung der Umgangsweise
mit der Arbeit des Gerichts in den Heimatländern der Angeklagten beziehungsweise
der mutmaßlichen oder bereits verurteilten Kriegsverbrecher. Sie hatte Recht,
ohne Zweifel. Das Gericht und diese Prozesse, das ist ihrer Meinung nach etwas,
was die Weltgemeinschaft für die betroffenen Menschen aus den in die Kriege
verwickelten Ländern tue. Das alles solle die Auseinandersetzung mit
Kriegsverbrechen, Gründen und Hintergründen sowie eigener Komplizenschaft,
kurzum so etwas wie Vergangenheitsbewältigung ermöglichen. Diese Möglichkeit
gebe es nur auf Zeit. Doch die jeweilige Öffentlichkeit ergreife sie nicht, sie
stelle sich nicht der Vergangenheit – nicht einmal die linke Feral Tribune
aus Split habe beispielsweise auch nur eine Zeile zum Verfahren und zur
streckenweise ergreifenden Beweisführung gegen die berüchtigten Schergen aus
Mostar Mladen Naletilic Tuta und Vinko Martinovic Stela geschrieben. Es gehe
bei den Prozessen um grässliche Verbrechen und der Strafgerichtshof sei gar
nicht voreingenommen gegen irgendeine Seite, wie man das in Belgrad und Zagreb
behaupte. Auf meine Erwähnung, dass es Ansätze einer Auseinandersetzung über die
im serbischen Namen begangenen Verbrechen in Belgrad gebe, ist ihr wichtig
festzustellen, dass es sich dabei um eine verschwindend kleine Minderheit
handele. In der Tat ist der Umgang mit dem ICTY in Zagreb und Belgrad auf
vielfältige Weise unzulänglich, und eben nicht nur dort und nicht nur auf die
Weise, die in Den Haag negativ auffällt.
Doch
sollen jetzt, sozusagen zum zehnten Jahrestag des Haager Strafgerichtshofs,
auch grundsätzlichere Fragen gestellt werden. So einleuchtend es war, ein internationales
Gericht mit der Ahndung der Kriegsverbrechen gemäß dem Völkerrecht zu
beauftragen, so ist nicht von der Hand zu weisen, dass eben darin auch die geringe
Akzeptanz liegen kann.(1) Das Gericht trägt in entscheidendem Maße dazu bei,
dass die Fakten des Krieges mit großer Zuversicht – beyond any reasonable
doubt, wie es heißt – festgestellt werden, was Grundlage nicht nur für die
Urteilsfindung, sondern auch für eine ethische, moralische und politische
Auseinandersetzung mit der Vergangenheit darstellt. Damit das funktioniert,
bedarf es einer politischen Gemeinschaft; die Verfahren vor dem ICTY spielen
sich aber jenseits einer kommunikativ-politischen Gemeinschaft, ja eigentlich
außerhalb der betreffenden Gesellschaften ab. Die kommunikative Gemeinschaft
kann man durch Fernsehübertragungen nicht ersetzen – nicht nur weil auch auf
dem »Balkan« genauso gezappt wird wie in demokratisch verfassten Rechtsstaaten
des Westens. Da es auch wenig Interesse in der durch die uneingeschränkte Macht
der »freien« Weltmedien beherrschten Weltöffentlichkeit gibt, kann man nicht
einmal unterstellen, die von den UN eingeleiteten Kriegsverbrecherprozesse
spielten sich vor einer »Weltgemeinschaft« ab.
Doch im Grunde ist das Gericht selbst nicht daran schuld,
dass es sich gleichsam im Nirgendwo befindet. Diese absurde Situation ist durch
die Resolution des Sicherheitsrates (827) vom 25. Mai 1993 herbeigeführt
worden, die die Errichtung eines Internationalen Tribunals für die Verfolgung
verantwortlicher Personen für schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht
auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien seit 1991 anordnete. Der
Internationale Strafgerichtshof trägt daher in seinem Namen »International
Criminal Tribunal for Yugoslavia« (ICTY) die Bezeichnung eines Staates, den es
nicht mehr gibt, genauer: den es schon nicht mehr gab, als die
Resolution beschlossen wurde. Zwar kann das vielen zunächst völlig einleuchtend
erscheinen; denn zumeist wird man denken, dass die Kriegsverbrechen im Rahmen
des Staatszerfalls geschahen; so wäre diese Bezeichnung gleichsam Name für den
Tatort. Diese allgemein verbreitete Meinung ändert dennoch nichts an der
Tatsache, dass das an sich epochale Geschehen vor dem Tribunal auf ein nicht
existierendes Staatswesen rekurriert und dass die Verfahren keinen expliziten
referenten (Rechts-)Staat haben und sich auf keine politische Gemeinschaft
wenden können, auf die die Urteilssprüche des Gerichts wirken sollten.
Der Vergleich mit den Nürnberger Prozessen macht diesen
Mangel klar: Sie fanden im Land der Täter statt und somit mitten in der
betroffenen politischen Gemeinschaft, die daher reagierte, kommentierte,
kritisierte, kurzum in steter Kommunikation mit dem Geschehen vor dem Gericht
war und sich so mit der Sache, die da verhandelt wurde, oder mit den Leugnern
der Verbrechen auseinander setzte. Kein internationales Gericht auf neutralem
Boden kann das ersetzen. Weil man ja weiß, was den Prozessen in Nürnberg – als
deren Ermöglichung – vorausging, drängt sich der Eindruck auf, dass das ICTY
eine von vielen Ersatzhandlungen ist, mit denen der Sicherheitsrat auf die von
Belgrad angezettelten Kriege reagierte.
Man kann
sich noch eines weiteren Eindrucks nicht erwehren, dass nämlich ein
Hintergedanke bei der Errichtung des Tribunals in der Absicht lag, ein hypothetisches
»jugoslawisches Gericht« zu ersetzen, das es durch die Auflösung des Staates
nicht mehr geben konnte. Das stellt das Gericht selbst nicht in Frage, erinnert
aber an die Kehrseite der Sache, an das Falsche im Richtigen, wie man es schon
aus der Praxis der UNO kennt und etwa mit der Errichtung der Schutzzonen in
Bosnien erlebte. Statt das Morden in Bosnien-Herzegowina – nicht im »ehemaligen
Jugoslawien« – zu stoppen, beschließt der Sicherheitsrat, ein Tribunal gegen
Kriegsverbrechen zu errichten, die ab diesem Mai 1993 nicht nachlassen, sondern
sogar im Juli 1995 in dem singulären Massenverbrechen in Europa nach dem
Zweiten Weltkrieg in Srebrenica kulminieren. Diese perverse Verkehrung der
Sachverhalte konnte natürlich nicht ohne Folgen für das Tribunal bleiben.
Sobald man einmal diese Koppelung des Kriegsverbrechertribunals mit der
»jugoslawischen« Bezeichnung nicht mehr als selbstverständlich hinnimmt, stößt
man auf viele offene Fragen. Diese Bezeichnung definiert offensichtlich einen
strafrechtlichen Rahmen. Nur wegen dieses »jugoslawischen« Rahmens ist es
möglich, dass vor diesem Tribunal einerseits Kapitalverbrechen wie Massenmorde
in Vukovar, geplante, systematische Ausrottung der nichtserbischen Bevölkerung
in ganzen Landstrichen Nord- und Ostbosniens und der Genozid von Srebrenica
verhandelt werden, andererseits zugleich solche Verbrechen, derentwegen allein
ein solches internationales Gericht niemals errichtet worden wäre. Die
beim Gericht tätigen Juristen müssen sich an diesen Rahmen halten, der doch ein
Ausbalancieren der Schuldigkeiten unter den Kriegsparteien a priori mit
angesetzt hat. Die Folge davon ist eine krasse Ungleichheit der Leistungen des
Gerichts. Durch den Willen zur Parallelisierung entsteht eine Asymmetrie der
Gerechtigkeit als Resultat. Wie sehr das der Fall ist, erschließt sich,
wenn man mit den zahlreichen Fällen und Verfahren (davon 37 Verurteilungen) en
détail vertraut ist. Allgemeiner bekannt wird der Fall von Biljana Plavsic, der
früheren Präsidentin der bosnischen Serben, sein. Sie gehörte zur Spitze jener
kriminellen Politiker in Bosnien-Herzegowina, die den Krieg für »serbische
Territorien«, den Völkermord und zahlreiche andere Kriegsverbrechen zu
verantworten haben. Wegen des Schuldbekenntnisses Plavsics zu einem Anklagepunkt
ließ das Gericht andere Anklagepunkte (so auch Genozid betreffend) fallen und
später bei der Schuldbemessung unglaubliche Milde walten. Das Ganze ist
vollkommen unangemessen gegenüber der Schwere der Verantwortung, die die
Präsidentin der »Republika Srpska« tatsächlich trug, und lässt Zweifel über den
Sinn des ICTY und über die Kompetenz der Richter aufkommen. Im Verhältnis zu
vielen anderen Strafbemessungen des Gerichts von 20, 25 und 40 Jahren gegenüber
Angeklagten, die eher kleine Rädchen des Übels waren und dabei auch, wie
Plavsic, nicht direkt Straftaten ausübten, wirkt die Privilegierung Plavsics
wie eine Untergrabung des Gerechtigkeitsprinzips.(2)
Ist die
Aufgabe eines solchen internationalen Gerichts, im Krieg begangene Kapitalverbrechen
im Namen des Völkerrechts zu ahnden oder Nationalismus und ethnischen Hass zu
bekämpfen? Ein auf dem Völkerrecht beruhendes Gericht müsste wohl
Kapitalverbrechen und die obersten Verantwortlichen verfolgen, unabhängig
davon, welcher Nation sie entstammen. Dass es Verbrechen verfolgt, für die es
sich unter anderen Umständen als nicht zuständig erklären würde, lässt
darauf schließen, dass ihm ausgehend von dem ideologisch gesetzten
»jugoslawischen« Rahmen beziehungsweise dem angeblichen ethnischen Bürgerkrieg
die Vorgabe mit in die »Wiege gelegt« wurde, für einen imaginierten »Ausgleich«
der Schuld unter den Parteien oder den beteiligten Ethnien zu sorgen. Ein
unumstößliches Faktum ist aber, dass im Zuge der gewaltsamen Verwirklichung des
großserbischen Programms die meisten Verbrechen verübt wurden. Man stelle sich
vor, das ICTY würde nur diese Verbrechen ahnden! Die Empörung würde kein Ende
nehmen, obwohl das von der Sache her logisch wäre: Denn es ist faktisch deshalb
gegründet worden.
Andersherum gesagt: Ohne dass serbische Truppen – welcher
Gattung und Provenienz auch immer – 1991 und danach vor Augen der Weltöffentlichkeit
ganze Städte zunächst in Kroatien belagert, entvölkert, bombardiert, ganze Gegenden
dem Boden gleichgemacht hätten, ohne dass dieselben Täter ab Frühjahr 1992
dieses massenweise Morden und Vertreiben der Zivilbevölkerung noch in größerem
Umfang in Bosnien-Herzegowina fortgesetzt hätten, wäre im Mai 1993 kein
»International Criminal Tribunal« gegründet worden. Wegen der Verbrechen
anderer Täter hätte sich niemand veranlasst gesehen, ein internationales
Ad-hoc-Gericht zu errichten. Man wäre dann andere Wege gegangen, um der
Gerechtigkeit zu genügen. Aber die Allgemeinheit weiß nichts davon. Sie glaubt
vielmehr zu wissen, dass in jenem »ethnischen Bürgerkrieg«, wie sie die von
Milosevic angezettelten, gemanagten, finanzierten und letztlich verlorenen
Kriege versteht, »»alle« schuldig sein müssen und erwartet, dass nicht »nur
Serben« der Prozess gemacht wird. Von diesem Horizont her entsteht der Wunsch
nach Parallelisierung. Allerdings werden dadurch jene nationalistischen
serbischen Wortführer, die unablässig von der Einseitigkeit des ICTY tönen,
niemals zufrieden gestellt. So hat das Gericht am 2. August 2001, dem gleichen
Tag, als die Erste Strafkammer das verdient hohe Urteil wegen des
Srebrenica-Genozids gegen den General der VRS (Armee der bosnischen Serben)
Krstic verlas, die bis dato geheim gehaltene Anklageschrift gegen drei
bosniakische Generäle öffentlich gemacht (Aktenzeichen: IT-01-47). Diese Art
ausgleichender Gerechtigkeit kann »den Serben« gestohlen bleiben, handelt es
sich bei den Inkriminierungen doch um Verbrechen an bosnisch-kroatischer
Zivilbevölkerung. Die Liste der Personen, die eine indoktrinierte serbische
Öffentlichkeit vor dem Gericht sehen möchte, ist lang und sehr international.
Neben Genscher, Clinton, Kohl gelten Izetbegovic und Adem Thaci als
Kriegsverbrecher. Vor allem erwartet die serbische Öffentlichkeit noch immer,
dass »Verbrechen« an Serben geahndet werden, die sich nur in deren Massenmedien
ereigneten, dafür aber nach allen Regeln der blutrünstigen Kunst der Schilderung
von Gräueltaten ausgeschmückt waren. Es hat in Belgrad noch niemand gewagt, sie
als literarische Produkte richtig zu stellen. Wenn tatsächlich Verbrechen an
serbischen Zivilisten gerichtlich geahndet werden, wird das fast ignoriert –
wie neulich, als in einem mustergültigen Prozess hohe Militärs der kroatischen
Armee, die sich große Verdienste für die Verteidigung des Landes in der prekären
ersten Phase des Krieges erwarben, vor dem Bezirksgericht in Rijeka zu hohen
Freiheitsstrafen wegen Erschießung serbischer Zivilisten im Oktober 1991 verurteilt
wurden. Ein historisches Urteil übrigens.
Kein Gericht auf Erden kann das mit Mythen von einer besonderen
historischen Rolle aufgeladene serbische Verlangen nach »Gerechtigkeit für die
Serben« stillen. Immerhin ist das Gericht mit ausgleichenden Perspektiven und
Vorabdefinitionen des Konflikts schon durch die Gründungsresolution belastet,
die ihm den Auftrag erteilt, Personen, »responsible for serious violations of
International Humanitarian Law committed in the Territory of the Former
Yugoslavia since 1991«, zu verfolgen. Wie man sieht, ist das eine
Definition mit »open end« (Art. 8) (3): Was nicht mehr existiert, kann ewig
dauern.
Der neue
Präsident des ICTY, Theodor Meron, unterstreicht – bezogen auf den ersten
Fall, der alle Prozessinstanzen durchlief –, das Gericht und die Richter hätten
mit diesem Urteil bestätigt, dass der Begriff der Kriegsverbrechen auf einen
nichtinternationalen (non international) bewaffneten Konflikt anwendbar sei.(4)
Diese Sicht der Dinge des neuen Präsidenten entspricht der verschwommenen
Definition des Geltungsbereiches des Gerichts. Eigentlich aber schuf sich das
Gericht gerade in diesem Fall eine wichtige Präzedenzentscheidung, weil die
Berufungskammer den Konflikt, in dem der Angeklagte die Verbrechen beging, zum
ersten Mal als einen zumindest teilweise internationalen Konflikt
definierte.(5) Es geht hier nicht darum, auf Widersprüche hinzuweisen, die
eventuell dem neuen, noch nicht ausreichend eingearbeiteten ICTY-Präsidenten
unterlaufen wären. Der Widerspruch liegt in der Sache selbst; man kann auch
keine Logik bei den richterlichen Entscheidungen entdecken, wann das Prinzip
»internationaler Konflikt« Anwendung findet und wann nicht. So berief sich die
Erste Strafkammer unter dem Vorsitz von Claude Jorda, dem Vorgänger Merons, bei
dem Schuldspruch gegen den bosnisch-kroatischen Kommandeur der HVO, Tihomir
Blaskic, maßgeblich auf dieses Urteil. Im Urteil gegen den General der VRS,
Krstic, spielte es hingegen keine Rolle(6), so, als wäre es belanglos, dass der
Völkermord in Srebrenica im Zuge eines Eroberungskrieges passierte.
Vielmehr zeigte der Vorsitzende, Almiro Rodrigues, in der Urteilsverkündung
geradezu Verständnis für die strategische Bedeutung, die Srebrenica als
Verbindungsglied zwischen Serbien und dem serbisch kontrollierten Bosnien »[t]o
the Bosnian Serbs« hatte.(7)
Vielleicht
sollte man darin eine Art postmoderner Rechtsauffassung sehen: Dann
gilt sowohl der Spruch vom internen wie vom internationalen Konflikt, je nach
Bedarf. So kann der Staatsanwalt in mühsamer und Zeit raubender Arbeit Stück
für Stück nachweisen, dass Milosevic von Belgrad aus den (unerklärten) Krieg
gegen Kroatien und Bosnien-Herzegowina führte – was man Angriffskrieg nennt,
aber im Sprachgebrauch des ICTY nicht vorkommt; das wäre ja präjudizierend. Die
Arbeit der Staatsanwaltschaft erschwert, dass dieser Angriffskrieg als
Bürgerkrieg getarnt oder auch – unter reger Beteiligung der heimischen Anhänger
Großserbiens – mehr oder weniger geschickt inszeniert wurde. Die
Verteidigungsstrategie Milosevics fährt natürlich auch diese Linie: es hätte
einen ethnischen Bürgerkrieg gegeben und er habe bloß interveniert, um die
angegriffenen Serben in Kroatien und Bosnien-Herzegowina zu retten sowie eine
Friedenslösung herbeizuführen. Die Annahmen über einen internen ethnischen
Konflikt auf dem »Territory of the Former Yugoslavia«, die nicht als
präjudizierend gelten, können für Milosevic von großem Nutzen sein. Außerdem
muss man sie geradezu als Programm verstehen. Denn wie sonst wäre es möglich,
dass der Staatsanwalt der Vereinten Nationen im März 2003 Anklage gegen vier Kosovo-Albaner
erhebt, die ihnen zu Last legt, 1998 (also vor dem Kosovo-Krieg) als Befehlshabende
der UÇK verantwortlich für Folter und Morde an Kosovo-Serben und
(verräterischen) Albanern (Aktenzeichen: IT-03-66-I) in einem – im Grunde
privaten – Gefängnis in Glogovac gewesen zu sein. Ist das ein Fall für ein internationales
Kriegsverbrechertribunal? Wohl kaum. Die Staatsanwaltschaft übt sich auch in
der skizzierten postmodernen Rechtsauffassung. Außer dass sie den Angeklagten
»Verstöße gegen Gesetze oder Gebräuche des Krieges« vorwirft und zu diesem
Zweck kurzerhand den Zustand der jahrelangen staatlichen Unterdrückung und
serbischen Polizeidiktatur in Kosovo als »bewaffneten Konflikt« umdefiniert,(8)
benutzt die Chefanklägerin die Klausel über »superior command and control«, das
heißt »superior criminal responsibility«, um aus lokalen Straftaten und
kleinkalibrigen Straftätern einen Fall höherer Größenordnung zu schaffen,
hinter dem eine großartige Befehlsgewalt, Planung, ethnisch bestimmte Strategie
stehen müsste, um sie vor dem Gericht, nach den Normen des Völkerrechts
verhandelbar zu machen. Wenn die Anklägerin Verbrechen solcher Größenordnung in
Serbien verfolgen würde, müsste sie sich die Hälfte der dortigen Gefängnisdirektoren
und Polizeichefs vorknöpfen und wahrscheinlich die meisten von jenen, die in
Kosovo tätig waren, unter Anklage stellen.(9)
Ähnliche
Asymmetrie der Größenordnung von Verbrechen kann man auch in anderen
Anklageschriften finden, obwohl natürlich auch nichtserbische Akteure, Truppen
und Soldaten Kapitalverbrechen begangen haben. Das Schlimmste darunter
war das von den bosnisch-kroatischen Einheiten (HVO) begangene Massaker im
mittelbosnischen Dorf Ahmici, bei dem ganze bosniakische Familien und insgesamt
knapp 100 Leben ausgelöscht wurden. Die Massenmorde an 33 kroatischen Bauern im
herzegowinischen Dorf Grabovica und an 27 in der Ortschaft Uzdol, die von den
Soldaten der bosniakischen Armee BH verübt wurden, kann man auch als
Kapitalverbrechen bezeichnen. Dass die Verantwortlichen für diese und eine
Reihe anderer von nichtserbischen Akteuren begangenen Kriegsverbrechen vom ICTY
angeklagt wurden, kann als unstrittig gelten, auch wenn wegen dieser Verbrechen
allein der UN-Sicherheitsrat einen Strafgerichtshof nicht errichtet hätte. Aber
die Anklägerin konstruiert in solchen Fällen Anklagepunkte ausgehend von der
These oberster Befehlsgewalt beziehungsweise strafrechtlicher Verantwortung,
die nicht ganz überzeugen. So hat man, wenn der damalige bosniakische Armeechef
Safer Halilovic für die erwähnten Massaker angeklagt wird(10), den Eindruck, es
gehe hauptsächlich darum, einen »großen Fisch« vors Gericht zu ziehen. Die
Anklagen (und Schuldsprüche) gegen kroatische Führung und Militärs sind
streckenweise in der Beweisführung und Urteilsbegründung so problematisch, dass
man sie gesondert analysieren muss. Eins aber zeichnet sich ziemlich deutlich
ab, dass nämlich sowohl die Staatsanwaltschaft wie die Richter dazu tendieren,
die Dimensionen besonders der von kroatischen Akteuren begangenen
Kriegsverbrechen jenen der Hauptagierenden des Krieges anzugleichen. Wer die
Maxime beherzigt, dass man Verbrechen nicht gegeneinander aufrechnen darf,
müsste solch nachträgliches Angleichen als nivellierend auch ablehnen. Dass das
kein Verniedlichen der Verbrechen anderer bedeutet, versteht sich von selbst.
Absurderweise ist gerade das Haager Gericht der Ort, an dem
unzählige handfeste Beweise über die Ausmaße des Verbrechens, die im Namen
eines ethnisch reinen Großserbien geplant und verübt wurden, gesammelt sind.
Nirgendwo sonst ist es so evident, dass – von den tatsächlich erbrachten
Beweisstücken her – keine Parallelisierung angebracht ist. Doch schon sein Name
»ICTY« gibt dem Gericht eine Parallelisierung vor, die letztlich zur
Verwischung des Unterschieds zwischen Täter und Opfer führt und bei keiner
anderen vergleichbaren Kriegssituation als auf dem Kriegsschauplatz genannt
»ehemaliges Jugoslawien« denkbar wäre. Und so erhebt die Staatsanwaltschaft im
April 2003 Anklage gegen den Kommandierenden von Srebrenica, Naser Oric, wegen
Kriegsverbrechen an serbischer Bevölkerung in den Ortschaften um Srebrenica,
das über drei Jahre belagert und von eben diesen Ortschaften aus, in denen
zuvor die Moslems massenweise umgebracht und vertrieben wurden, bedrängt
wurde.(11) So entwertet das Gericht gleichzeitig seine bewundernswerte Arbeit
selbst, indem seine von der Erwartung der Parallelisierung geleitete Praxis
letztendlich zur Relativierung des Verbrechens führt. Wem soll es dienen, wenn
die ungeheuerlichen Dimensionen dieser Verbrechen so wie der singuläre
Massenmord bei Srebrenica in ein relativierendes Licht gerückt werden?(12)
1
Die damit verbundenen Fragen liegen auf einer anderen Ebene
als jene, denen das Gericht, ohne Mühe zu scheuen, zu begegnen sucht, als da wären
Kommunikation in verständlicher Sprache, Zugänglichkeit der Verfahren durch
elektronische Medien etc. (Vgl. Kommune
2/03).
2
Plavsic
IT-00-39&40/1: »Bosnia and Herzegovina« sentencing judgement vom 27. Februar
2003.
3
Vgl. Statute of the
International Tribunal.
4
Siehe das Interview in The Institute for War & Peace
Reporting, (http://www.jwpr.net); es handelt sich um den Fall von Dusko
Tadic (Aktenzeichen: IT-94-1-I).
5
Vgl. Tadic IT-94-1 »Prijedor«; sentencing judgement 14. Juli 1997
und judgement 15. juli 1999.
6
Vgl. Dunja Melcic: »Die schwierige Durchsetzung der Gerechtigkeit.
International Criminal Tribunal for
the Former Yugoslavia«, in: Rechtshistorisches Journal, 20/2001; Blaskic IT-95-14 »Lasva Valley«, judgement vom 4. März
2000.
7
Aktenzeichen: IT-98-33-PT:
»because the region known as central Podrinje was in that part of Bosnia
bordering Serbia and because it was important to establish the continuity, in
Bosnia like in neighbouring Serbia, of the territories under Serbian
control«. Vgl. auch: Julija Bogoeva/Caroline Fetscher (Hrsg.): Srebrenica. Ein Prozess,
Frankfurt am Main 2002.
8
Aus der Anklageschrift: »At
all times relevant to this indictment, a state of armed conflict existed in
Kosovo.« Bessere Hilfe kann sich Milosevic gar nicht wünschen!
9
Das Gericht erklärt sich sogar für Fälle zuständig, die
während des bewaffneten Aufstands der mazedonischen Albaner im Frühjahr 2001
vorgefallen waren, und erpresst die Übertragung der laufenden Verfahren vor den
allein zuständigen nationalen Gerichten des mazedonischen Staates nach Den
Haag, da dessen Rechtssystem kein Schutzprogramm für die Zeugen vorsieht, wie
es in der Begründung der Chefanklägerin heißt.
10
Aktenzeichen IT-01-48-I (September 2001).
11
Aktenzeichen IT-03-68; Oric wird vorgeworfen, für die
Menschenrechtsverletzungen an der serbischen Zivilbevölkerung und an Gefangenen
zwischen September 1992 und März 1993 durch bosniakische Militärpolizei
verantwortlich zu sein. Aus der Anklageschrift geht hervor, dass Oric
Kommandeur des schmalen Srebrenica-Gebietes war; man hat den Eindruck, dass die
Chefanklägerin Del Ponte zielstrebig vermeidet, die Lage, die Wirklichkeit von
Srebrenica zu erwähnen; das Wort Verteidigung kommt nur im Namen »Territorial
Defence« vor. Belagerung, »UN-Schutz-Zone« gar nicht. Oric erscheint als Täter
und da wird der ganze Hergang und die ganze Tragödie des jahrlangen und elendiglich
verlorenen Überlebenskampfes ausgeblendet.
12
Am 11. Juli »sind in dem Dorf Potocari 282 Opfer des vor
acht Jahren verübten Massakers von Srebrenica in einer feierlichen Zeremonie
beigesetzt worden. ... Ende März waren in einem in Potocari errichteten
Friedhof die ersten 600 Opfer feierlich bestattet worden. Ende September soll
die für sämtliche Opfer geplante Gedenkstätte offiziell eingeweiht werden.
Bisher wurden rund 5000 sterbliche Überreste gefunden, und 1620 Personen
konnten identifiziert werden.« (NZZ, 12.07.03)
Im Mai 2003 begann der so genannte zweite Srebrenica-Prozess; die Geständnisse
zweier Angeschuldigten, von Momir Nikolic und Dragan Obrenovic, tragen zur vollen
Wahrheit über dieses größte Massenverbrechen in Europa in der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhunderts erheblich bei und sind von entscheidender Bedeutung für
die Beweisaufnahme gegen andere Angeklagte. Dafür ließ der Ankläger die beiden
anderen Anklagepunkte fallen und so werden zwei direkt am Völkermord beteiligte
Soldaten nur wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit (mit einem Strafmaß von
10 bis 15 Jahren) angeklagt.