Balduin Winter

 

Editorial 4/2003

 

Hartz lässt grüßen: Eine Bekannte erzählte, für das Abholen eines Formulars verbrachte sie zwei Stunden im Warteraum, für die Abgabe eine ähnliche Zeit. Der Nummernautomat ist seit Unzeiten außer Betrieb, das Formular musste beim Sachbearbeiter abgeholt und abgegeben werden, obwohl keine Beratung anfiel. Derlei passiert nicht nur in Greifswald oder Kleinwitzenhausen. Derlei gehört zu den millionenfachen Kleinigkeiten des deutschen Alltags. Selbstverständlichkeiten, die sich mit dem Zement anderer Gewohnheiten verbinden. So gestaltet die AOK Hessen die jüngste Ausgabe ihres Mitgliederblatts in der gewohnten Weise. Man wird über Kochrezepte und besseres Verständnis in der Partnerschaft informiert, während die schon lange währende Diskussion über die Gesundheitsreform, nun in einer heißen Phase, mit Allgemeinplätzen auf der vorletzten Seite gestreift wird. Die Botschaft: Veränderungen sind erforderlich, um die Qualität zu steigern und Kosten zu senken, durchgreifende Verbesserungen sind durch Wettbewerbsstärkung zu erwarten, wir machen uns dafür stark – kurz, das alte Lied vom kumulativen, paternalistischen Sozialstaat. Dazu das vertrauenswürdige, freundlich blickende Gesicht des stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden. Anderswo blickt man, bei ähnlichem Denken, kampfbereit und entschlossen ins Gestern: Als der Vorstand der IG Metall ostdeutsche Belegschaften in den Streik um Arbeitszeitverkürzung trieb, äußerte sich darin strukturkonservative Ideologie in Reinkultur (siehe dazu Anton Mlynczak, S. 49).

Denk- und Gestaltungsbarrieren findet man zuhauf, nicht nur in den staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen. Auch das deutsche Management hat das Seine zur allgemeinen gesellschaftlichen Krise beigetragen. Manch eine/r erinnert sich an den Kampfruf der späten Siebziger, der die »Wirtschaft« durchhallte: Innovation. In der Folge blickte man – je nach Standpunkt mit Bewunderung oder Abscheu – auf die Resultate der Reaganomics oder des Thatcherismus. Hinter dem sozialpolitischen Theaterdonner spielten sich in den angelsächsischen Ländern und in Deutschland, wie der Historiker Werner Abelshauser schreibt, unterschiedliche ökonomische Entwicklungen ab; das deutsche Erfolgsmodell blieb eher den traditionellen Branchen verbunden, die USA gingen weit stärker in die Bio- und Computertechnologie. Auch Investitionszahlen belegen in der Folge diesen Trend: Die USA investierten zwischen 1995 und 2001 pro Kopf ihrer Bevölkerung 2080 Euro in Informations- und Kommunikations-Technologien, Europa hingegen nur 1120 Euro. Das Festhalten der deutschen Wirtschaft an der Erfolgsstrategie bedeutete zugleich wesentlich geringere Fähigkeit zu innovativen Schritten. Und umgekehrt, so der Soziologe Dirk Baecker in der FR am 17.7., lässt sich mittels Populationsökologie aufzeigen, dass »die amerikanische Variante ihre wichtigsten Prämien auf die Fähigkeit zur innovativen Abweichung setzt«. Dem liegen unterschiedliche Organisationsmodelle und Vernetzungsweisen zu Grunde. Denn das Problem liegt nicht an Entscheidungen einzelner Unternehmen, sondern daran, dass sich diese Entscheidungen an anderen Unternehmen, Gruppen, Branchen und Regionen orientieren, sodass sich »Kohorteneffekte« einstellen, die von einiger Bedeutung für den Fortgang einer Volkswirtschaft sein können. Baecker kritisiert weiter, dass das deutsche Management »diese Voraussetzungen des eigenen Erfolgs nur unzureichend reflektiert« habe: »Man hielt sogar das Wachstum der deutschen Wirtschaft für die Natur der Sache«, den Zweiflern wurde der Erfolg entgegengehalten. Nun ist die »Wachstumsmaschine« ins Stocken geraten; wer heute immer noch nur mit Lohnnebenkosten, zu hohen Steuern und sonstigen staatlichen Reglementierungen argumentiert, sieht den Balken vor den eigenen Augen nicht.

Nun ist – zumindest in Politik, Institutionen und Medien – in den letzten Wochen und Monaten ein Prozess in Bewegung gekommen, der, mit Vorsicht, als Lockerung der Reformblockaden umrissen werden kann. Stichworte: Agenda 2010 mit Arbeitsmarkt-, Gesundheits-, vorgezogene Stufe der Steuerreform, Aktionsplan gegen Armut und Ausgrenzung, Lehrlingsausbildung, Erhöhung der Forschungsausgaben. Darüber wird eine lebhafte Debatte geführt, in der sich die beiden Großparteien teils näher gekommen sind, teils, wie etwa in der Frage der Finanzierung der Steuerreform,  kontrovers gegenüber stehen. Viele dieser Vorhaben klingen bescheiden, sind auch bescheiden – in der Zwangsjacke des Machbaren und Möglichen in Zeiten nahezu leerer Kassen lassen sich keine großen Sprünge machen. Da entschwindet das Reformziel, der Umbau des Sozialstaats, oft hinter den Nebeln des Hier und Jetzt der Realpolitik. Die Denksperren sind in der ganzen Gesellschaft anzufinden, deshalb hat diese Diskussion oft etwas Beschwerliches. Es ist ein ungewisser Aufbruch, dem es an Stimmung fehlt. Eine offene Frage ist, wie tief diese Auseinandersetzung überhaupt in die Poren der Gesellschaft eindringt. Zu befürchten ist auch, dass der aktuelle Diskurs bei weitem nicht ausreicht, die alten Gewohnheiten und alten Denkmuster aufzubrechen und abzubauen.

 

Martin Altmeyer berichtet ab der nächsten Ausgabe für ein Jahr regelmäßig aus den USA.