Balduin Winter

Ereignisse & Meinungen:

Übertriebene Demokratie?

 

Frau Mariam Lau hat eine Kolumne in der krisengeschüttelten Welt. Darin schüttelt sie ihr früheres Irgendwie-Linkssein ab, indem sie den nassforschen Ton der NeoCons zu imitieren versucht, die ihr da freilich schon einige Jahre imperialen Gestus voraushaben: »Die Linke hat zu den dringendsten weltpolitischen Problemen – vom Krieg gegen den Terror über mangelnden Anschluss vieler Länder an die Globalisierung bis zum Umgang mit Tyrannen – absolut nichts zu sagen, was über die Delegation dieser Probleme an eine zusammenfantasierte Weltregierung (Kerneuropa!) hinausginge. Der geradezu fetischisierende Umgang mit dem Völkerrecht (›meine Hobbys sind Eishockey und Völkerrecht‹), dem die individuellen Menschenrechte immer bereitwilliger geopfert werden, ist ein Beispiel« (Welt, 8.7.). Naja. Aufnahmeprüfung ins American Enterprise Institute nicht bestanden; so pauschal treiben es nicht einmal Wolfowitz und Perle.

Begeisternd dagegen die Rechten! Frau Lau stellt das Buch des Newsweek-Chefredakteurs Fareed Zakaria vor (»ein verteufelt gut aussehender Inder, der außerdem noch ein guter Koch sein soll – also, meine Damen!«), The Future of Freedom. Dem in Augenhöhe mit Samuel Huntington gestellten Werk prophezeit sie, dass es bald zu den »Greatest Hits des politischen Denkens« gehören wird. Ob sie aber wirklich mehr als eine Rezension gelesen hat? Ihre Kurzbeschreibung begnügt sich im Wesentlichen mit einem Gedanken Zakarias, der in der US-Debatte über Nation-Building seit Afghanistan und erst recht seit der Nationalen Sicherheitsstrategie hinauf- und hinunterdekliniert wird: Zu rasche Demokratisierung in den Entwicklungsländern führe zu Korruption, wirtschaftlichen Katastrophen und politischen Despotismus. Der eigentliche Grundgedanke wird von Lau nur vage angedeutet: »Überall findet Zakaria Schattenseiten der Demokratie.« Der Autor warnt, und das ist der Zündstoff des Buches, vor der »Überdemokratisierung«. Nicht nur in Asien, Afrika und Lateinamerika müsse man wesentlich vorsichtiger vorgehen, denn die »übertriebene Demokratie« sei hier die größte Bedrohung für die Freiheit, erfolgreiche Länder wie Taiwan, Südkorea oder Chile haben erst eine Phase autoritärer Herrschaft benötigt für den Übergang zur Demokratie. Das gelte auch für den Irak (und die gesamte arabische Welt), wobei noch im Februar dieses Jahres Bush, Wolfowitz und Perle ins Horn der schnellen Demokratisierung stießen und dabei den Vergleich mit Nazideutschland aufs Tapet brachten (siehe dazu Stanley Kurtz: »Democratic Imperialism: A Blueprint«, in: Policy Review, Juni 2003).

Aber Zakaria geht noch weiter. »Die USA machen sich in zunehmendem Maße einen schlichten Populismus zu Eigen, für den Popularität und Offenheit die entscheidenden Maßstäbe von Legitimität sind.« Aha, man könnte meinen, hier setzt eine Kritik der Bush-Regierung an. Weit gefehlt: Der Autor zieht seine Überdemokratisierungsthese auch für die hoch entwickelten Staaten durch: »Die Folge ist eine große Unausgeglichenheit im demokratischeren, aber unfreieren amerikanischen System.« Dem sei entgegenzuwirken, indem man unparteiischen Fachleuten und Institutionen mehr Macht übertragen, bestimmte Körperschaften der demokratischen Kontrolle entziehen soll, damit sie in Ruhe arbeiten können. Zakarias Denken ist im Wesentlichen von der Wirtschaftssphäre beeinflusst. Auch hier will man sich möglichst frei von jeder demokratischen Kontrolle wissen. Sein Vorschlag bedeutet im Grunde die scheibchenweise Demontage demokratischer Einrichtungen, damit »unabhängige Fachleute« in Ruhe arbeiten können.

 

Hat Mr. Zakaria, der als zukünftiger außenpolitischer Berater gehandelt wird, seine Hausaufgaben schlecht gemacht? In der »National Security Strategy« oder auch Bush-Doktrin heißt es gleich in der Präambel: »Die großen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts zwischen Freiheit und Totalitarismus endeten mit einem deutlichen Sieg für die freiheitlichen Kräfte und einem einzigen nachhaltigen Modell für nationalen Erfolg: Freiheit, Demokratie und freies Unternehmertum. Im 21. Jahrhundert werden nur diejenigen Nationen das Potenzial ihrer Bürger freisetzen und zukünftigen Wohlstand sichern können, die sich dem Schutz grundlegender Menschenrechte und der Gewährleistung politischer und wirtschaftlicher Freiheit verpflichtet haben. ... Schließlich werden die Vereinigten Staaten die Gunst der Stunde nutzen, um die Vorzüge der Freiheit in der ganzen Welt zu verbreiten. Wir werden uns aktiv dafür einsetzen, die Hoffnung auf Demokratie, Entwicklung, freie Märkte und freien Handel in jeden Winkel der Erde zu tragen.«

Entsprechende Äußerungen von Regierungsmitgliedern, Beratern, Abgeordneten, Intellektuellen und Wissenschaftlern sind Legion; die NeoCons haben in den letzten Monaten hinsichtlich ihres messianischen Demokratisierungswillens breite Öffentlichkeitsarbeit geleistet. Allerdings hat die Welt, scheint es, nicht ganz »die Gunst der Stunde« begriffen. Von Afghanistan zeichnen auch NZZ und FAZ ein düsteres Bild über die politische Lage. In den USA laufen heiße Debatten über das politische Vorgehen im Irak. Die Machtpolitik der Bush-Regierung hat sich in den Kriegen schnell durchgesetzt, hat sie gewonnen – aber gewinnt sie auch den Frieden? Erfahrene Hasen wie Zakaria bauen bereits vor und bremsen: Die Menschen sind für alle Beglückungen des »demokratischen Imperialismus« noch nicht reif genug.

Auch Anatol Lieven befasst sich in der London Review of Books vom 19.6. mit Übertreibungen. Er weist zunächst auf eine Versicherung Bushs hin, »dass die militärische Besatzung des Irak maximal 18 Monate dauern wird«. Das wird nicht einmal einen Monat später durch Tommy Franks, den US-Oberbefehlshaber, konterkariert, der die US-Öffentlichkeit mit einer Okkupationsdauer von »mindestens zweieinhalb bis vier Jahren« überraschte (CNN, 10.7.). Lieven fährt fort: »Ohne die spezifische Konfiguration der Hardliner, bevollmächtigt durch die Bush-Regierung, würde der amerikanische Ehrgeiz weniger megalomanische und erschreckende Aspekte besitzen. In dieser Analyse leiten sich der groteske allgemeine Optimismus der NeoCons-Rhetorik über Demokratisierung und seine Übertreibung von Drohungen in den USA aus der Tatsache ab, dass man sich ihrer bedient, um die Durchschnittsamerikaner aus ihrer üblichen Apathie in Bezug auf internationale Angelegenheiten zu reißen. Während es einerseits zutreffend ist, dass Elemente des demokratischen Messianismus umgesetzt werden in dem, was Samuel Huntington und andere ›das amerikanische Credo‹ genannt haben, trifft es andererseits ebenso zu, dass viele Amerikaner eine tiefe Skepsis – je nach Geschmack aus gesundem Menschenverstand oder Chauvinismus – über die Fähigkeit anderer Länder empfinden, ihre eigenen Formen der Demokratie entwickeln zu können. Im Fall vom Irak ist diese Skepsis durch die Szenen des Plünderns und der Sabotage erhöht worden.«

Lieven führt die Ingredienzien einer gängigen NeoCons-Kritik an und läuft dennoch ins Leere. Denn mit seinem Bild vom provinziellen Amerika, das für globale Unternehmen von seinen Politikern populistisch gepusht werden muss, arbeitet er im Grunde Leuten wie Fareed Zakaria zu mit ihren Konzepten von »Hard Power statt unsicherem Demokratisieren«.

 

Tatsächlich gibt es in den USA eine scharfe Auseinandersetzung über Sinn und Zweck der Demokratisierung. Es ist kein Zufall, dass Samuel Huntington wie eine graue Eminenz immer wieder genannt wird. Nicht erst sein The Clash of Civilizations war ein Bestseller, schon zuvor, 1991, war ihm mit The Third Wave – Democratization in the Late Twentieth Century ein ähnlicher Wurf geglückt. Darin konstatiert er weltweit drei große Wellen der Demokratisierung, auf die wiederum Gegenwellen der Entdemokratisierung gefolgt sind. Die Zeiträume der Periodisierung sind ganz verschieden, die erste Welle umfasst beinahe hundert Jahre (1828-1926), die Gegenwelle 1922-1942, die zweite Welle 1943-1962, die Gegenwelle 1958-1972, die dritte Welle 1974 bis in die Gegenwart, die Gegenwelle ist mit einem Fragezeichen offen belassen. Ruth Zimmerling von der Universität Mainz hat sich im Juniheft der Politischen Vierteljahresschrift kritisch mit der Methodik dieses Buches, das in den jüngsten Debatten verstärkt zitiert wird, auseinander gesetzt. Sie moniert Huntingtons wissenschaftliche Unlauterkeit, der für sich einen »empirischen, deskriptiven« Demokratiebegriff behauptet, ihn tatsächlich unglaublich normativ, mit moralischen Idealen, auflädt, obwohl er »analytische Präzision« einfordert: »Aus schwammigen Begriffen ergibt sich keine nützliche Analyse.« Gerade das aber zieht sich, so Zimmerling, durch das gesamte Buch und erst recht in seine Handlungsanleitungen. Zimmerling analysiert an Beispielen und an der Methode die Vorgehensweise Huntingtons und kommt zum Schluss: »Die gesamte Analyse verbleibt so im Ungefähren: Huntington bietet ganze Sträuße von mehr oder weniger plausiblen, mehr oder weniger wahrscheinlichen Struktur- und Prozessvariablen an, die bei einzelnen Demokratisierungsprozessen der letzten Jahrzehnte eine Rolle gespielt haben mögen – oder auch nicht. Weiterführende Erkenntnisse lassen sich daraus kaum ziehen, da Huntington eine theoretische Absicht ja ausdrücklich bestreitet und daher auch keine konkreten, empirisch testbaren Hypothesen aufstellt. – Und doch glaubt er erstaunlicherweise, aus seinen lediglich mehr oder weniger plausiblen Überlegungen zu der kleinen Fallzahl der Elemente der ›Dritten Welle‹ allgemeine Gesetzmäßigkeiten ableiten zu können – denn er folgert immerhin aus ihnen Handlungsanweisungen ... Sein angekündigtes ›Mittelding‹ zwischen Theorie und Geschichte scheint also ein Sprung zu sein: nämlich der direkte Sprung von Geschichte zu Theorie.«

Huntingtons essayistischer Wellenmetapher steht inzwischen solide Konkurrenz aus der Hoover Institution ins Haus. Larry Diamonds Studie »Universal Democracy« (publiziert in Policy Review) knüpft nur formal an der Drei-Wellen-Theorie an. Er zeigt auf, dass 1974 41 von 150 Staaten demokratische Formen besaßen, also rund 27 Prozent, 1987 rund 40 Prozent, 2002 bereits 121 von 193 oder rund 63 Prozent. Anhand zahlreicher Untersuchungen widerlegt er, dass es eine Gesetzmäßigkeit dafür gibt, dass arme Länder auf Grund ihrer ökonomischen Miseren zu autoritären Systemen neigen. Das kann es geben, wie es auch das Gegenteil geben kann, aber nicht zwangsläufig. Hier liegt Huntington falsch, und Zakaria lässt sich von politischer Opportunität leiten. Auch hinsichtlich der Demokratisierbarkeit muslimischer Länder widerlegen Diamonds Ergebnisse den Populismus der beiden. Ein Problem ist ganz klar: »Tatsächlich gibt es unter den sechzehn arabischen Ländern nicht eine einzige Demokratie, mit Ausnahme des Libanon.« Dies hängt seiner Meinung nach jedoch eng mit dem israelisch-arabischen Konflikt zusammen: »Ein echter und dauerhafter Demokratisierungsprozess in der Region wird so lange unwahrscheinlich bleiben, bis sich der Rauch dieses Kampfes verzogen hat.« In den 27 anderen muslimischen Ländern existieren acht Demokratien, und die Tendenzen sieht er im Vergleich zu anderen Weltregionen nicht schlechter, auch die demokratischen Qualitäten nicht. So sind denn seine Konsequenzen auch ganz andere als jene von Huntington und Zakaria. Freilich gehört er zu jenen, die amerikanische Demokratie nicht einfach als Machtpolitik buchstabieren, sondern gerade in den internationalen Beziehungen, ähnlich wie Joseph Nye, auf Soft Power setzen – auf Verhandlungsdemokratie.

»Außerdem passt das Schrumpfen der Demokratie zu Hause nicht gut zur Verbreitung der Demokratie im Ausland«, schreibt Stanley Hoffmann in der New York Review of Books vom 12.6. (»America Goes Backward«). Und der Duluther Professor Thomas F. Powers führt im Public Interest (Spring 2003) aus: »300 Jusprofessoren unterzeichneten eine weit beachtete Petition, die sich gegen den Regierungsentwurf der Militärtribunale stellt. Mehr als 40 Großstädte, Städte und Countys (einschließlich Denver, Detroit und San Francisco) haben Resolutionen verabschiedet, in denen sie die Rücknahme des USA-Patriot-Act fordern und ihre Bereiche zu sicheren Zonen der zivilen Freiheiten erklärten.« In seinem Artikel führt der Jurist Powers im Detail die umfangreichen Einschränkungen der Bürgerrechte durch die neuen Gesetze aus. Zakaria aber will noch weiter gehen. Für ihn ist das erst das erste Scheibchen der Überdemokratisierung.