Anton Mlynczak

Gescheiterte Politikmodelle

Krise der IG Metall: Gewitter können die Luft reinigen, aber auch Orte in Schutt und Asche legen

 

Es sind verdrängte Probleme und ungeklärte Differenzen in der Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung, die der IG Metall ein Führungsproblem beschert haben. Ein Neuanfang, so unser Autor, wird mit den Politikinhalten der Siebzigerjahre nicht zu machen sein. Wichtig wäre eine Öffnung der Gewerkschaften hin zur Gesellschaft und eine Neubestimmung weit greifenderTarifpolitik. Gewarnt wird vor einer gesellschaftspolitischen Überforderung einer Massenorganisation von lohnabhängigen Individuen.

 

Die IG Metall ist in Turbulenzen geraten. Aber in welche! Dazu musste es in wenigen Monaten oder sogar Wochen knüppeldick kommen: Die Beerdigung des Bündnisses für Arbeit; der wirkungslose, aber mit viel Geschrei angekündigte Kampftag gegen die Agenda 2010; der Abbruch des Streiks als Ergebnis von »Tarifmurks« (Tagesspiegel) im Osten; und eine eskalierende öffentliche Führungsdebatte, bei der der alte Vorstand dem Gewerkschaftstag keinen Wahlvorschlag für den neuen Vorstand unterbreiten konnte.

 

Es rutscht und fetzt also. Erleichterung weicht Befürchtungen. Endlich – endlich – wurden klare Worte für Realitätssinn und strategische Neuorientierung ausgesprochen. Aber die IG Metall kann sich auch spalten oder ihre Mitgliederbasis verlieren.

In einer auch in der Wortwahl beeindruckenden, kurz nach dem Eklat verfassten Stellungnahme warnen Bevollmächtigte des Bezirks Küste davor, den Streikabbruch allein auf handwerkliche Fehler zurückzuführen. Sie fordern auf, die strategischen Fehlentwicklungen der letzten Jahre in den Blick zu nehmen und sie zu korrigieren. Was an den Inhalten und dem Prozess von Politik hat sich falsch entwickelt?

In der IG Metall dominieren Politikinhalte, die eine Fortsetzung der Siebzigerjahre darstellen: Mehr Nettolohn, mehr Rente, kürzere Arbeitszeit, mehr staatliche Fürsorge und Regulierung der Arbeitsbeziehungen, Ausweitung der Rechte der Betriebsratsinstitutionen (bei gleichzeitig argwöhnischem Blick auf jede Stärkung von Individualrechten).

Doch die Dominanz nicht auf die sich verändernden Problemlagen reagierender Inhalte zusammen mit ihrer kraftmeierischen ideologischen Verteidigung verspielt in der Öffentlichkeit der letzten Jahre das Ansehen der IG Metall rapide. 1993 meinten 58 von 100 Befragten, dass Gewerkschaften die Interessen der Arbeitnehmer vertreten, 2003 waren das nur noch 38. So gehen Reformansätze aus der IG Metall unter oder werden in der praktischen Umsetzung gelähmt.

Vorhandene Reformansätze sind tarifpolitische Ansätze – auf dem ureigenen Feld der IG Metall. Sie zielen auf (wenig) mehr Selbstverantwortung der Individuen (Tarifvertrag zur Weiterbildung). Sie berücksichtigen die Verlagerung von fertigenden Tätigkeiten auf planende, verkaufende und entwickelnde Arbeiten (Tarifvertrag zur einheitlichen Entgeltstruktur von Arbeitern und Angestellten, Entwicklung von neuen Berufsbildern im IT-Bereich). Oder sie werfen die Frage altersgerechter Arbeit auf. Hinzu kommen auf dem Feld der Beschäftigungspolitik mehr oder weniger von außen »erzwungene« Reformen, wie Tarifverträge mit Leiharbeitsfirmen oder das Modell 5000 mal 5000 bei VW.

Der Abbruch des Streiks ohne Ergebnis in Brandenburg und Sachsen war dagegen ein Schlag ins Kontor. Mehr noch: Eine sektiererische Streikführung, großenteils gegen die Belegschaften (selbst gegen ihre gewerkschaftlich organisierten Teile), hat die IG Metall in ihrer Würde getroffen und Vertrauen verspielt.

 

Zwei Politikmodelle sind gescheitert

Mit dem Streikabbruch hat ein auf »Gefolgschaftstreue« und »kollektive Verantwortung« bauendes Politikmodell – auch als »Durchstellen von oben nach unten« bekannt – seinen Zusammenbruch erlebt. Dieses Modell beinhaltet: Es genügt, die Institutionen der Gewerkschaft in die Hand zu bekommen – wie, ist egal, es geht um die gute Sache –, um in der oder über die Gesellschaft Macht ausüben zu können. Es steht zu vermuten, dass die »Gesinnungspolitiker« (Max Weber) in der IG Metall das nicht wahrhaben wollen.

Wie dann das Desaster der Leitungsgremien nach dem Streik gezeigt hat, ist aber auch das Modell gescheitert, die »Gesinnungspolitiker« durch Praxis ins Leere laufen zu lassen. Durch Darstellen von Einigkeit und Einstimmigkeit, wo Klärung oder sogar der deutliche Entzug des Mandats (zum Beispiel zur weiteren Streikführung) notwendig gewesen wäre, sind auch die Institutionen der IG Metall geschädigt worden oder haben sich in ihrer Struktur als untauglich für Demokratie und Leitung erwiesen Auch die Bestimmung eines neuen Kandidaten für den Vorsitzenden hätte besser durch öffentliche Klärung stattgefunden.

Zu einem Neuanfang gehört, die Inhalte der gewerkschaftlichen Politikfelder zu überprüfen: Sozialpolitik, Beschäftigungspolitik, Tarifpolitik, Politik zur Gestaltung des Arbeitsprozesses. Überprüfung von Zielen setzt aber insbesondere eine Korrektur des Politikprozesses und die erneute Bestimmung der Politikfelder der IG Metall voraus. Politikprozess und Politikinhalt bedingen einander. Aber entscheidend ist, dass Entwicklungsgeschwindigkeit und Akzeptanz von Politik den gesellschaftlichen Prozessen angemessen werden. Mit einer für die nächsten 30 Jahre neu gemeißelten Strategie ist es nicht getan, wahrscheinlich ist eine solche auch nicht machbar.

In der Sozialpolitik und leider auch in der überbetrieblichen Beschäftigungspolitik sind die Gewerkschaften aus ihrer Rolle, von anderen (Staat und Kapitalisten) zu fordern, nicht herausgekommen. Wie der Diskussionsstand vor dem Gewerkschaftstag zeigt, gibt es auf diesen Feldern keine offene, lösungsorientierte, dem gesellschaftlichen Stand angemessene Diskussion. Dagegen gibt es eine solche Auseinandersetzung in Ansätzen in der Tarifpolitik.

Gewerkschaftliche Sozialpolitik sei am Beispiel der Rente beleuchtet. Das Verhältnis zwischen Rentenbeitrag und Rentenhöhe oder zwischen Jung und Alt verschiebt sich drastisch. Das hat auch die IG Metall durch erfolgreiches Agieren erreicht: Humanere Arbeit, gesünderes und reichhaltigeres Leben und größere Heilungschancen lassen uns älter werden! Das sich in Richtung »ein Junger ernährt einen Alten« entwickelnde Generationenverhältnis ist nicht durch Umwandlung von Gewinn in Lohn oder durch Umwandlung von Vermögen in Rente zu finanzieren, allenfalls im Übergang leichter zu gestalten. Es ist eine Frage, die auch die Beziehung innerhalb der »Klasse« berührt. Da die Gewerkschaften aber gegenüber dem Staat keine Verhandlungsmacht, allenfalls Lobbyeinfluss und öffentlichen Druck entwickeln können, können sie eine Neujustierung dieser Verhältnisse in der »Klasse« nicht (bequem) als Verhandlungsnotwendigkeit kommunizieren. Sie müssten sich aktiv in eine gleichzeitig moderierende und fordernde Rolle begeben, um glaubwürdig bleiben zu können. Da war es natürlich einfacher, die Rentendebatte dem neoliberalen Zeitgeist zuzurechnen. Ähnliches gilt in der Beschäftigungspolitik für das Verhältnis zwischen Langzeitarbeitslosen und Stammbelegschaften.

Meine Schlussfolgerung ist: Gewerkschaften sind gesellschaftspolitisch und beschäftigungspolitisch zurzeit nicht handlungsfähig. Das ist bitter, da viele Fragen, die früher als Fragen des Arbeitslebens in einem Betrieb behandelt werden konnten – Qualifikation, Absicherung des eigenen Lebens und der Familie, Karriere, Gesundheit oder ganz früher die Alterssicherung – heute Fragen sind, die die Gesellschaft in Selbstorganisation der Bürger oder durch staatliche Maßnahmen beantworten muss. Und die Bürger benötigen natürlich Institutionen, um sich selbst zu organisieren.

Oskar Negt etwa fordert seit Jahren die IG Metall auf, durch Visionen und gesellschaftliche Utopien zu glänzen. Herausgekommen ist nichts als eine Wagenburgmentalität der letzten Aufrechten, Realitätsverlust und eine nicht mehr intakte IG Metall, statt einer Öffnung auf die Gesellschaft und auf zukunftsfähige Lösungen hin. Der »Feind« wird als zunehmend mächtiger und unbezwingbarer dargestellt, der eigene Anteil an Erfolgen und Misserfolgen geleugnet.

Das mag für eine Sekte versprengter Linker reichen, nicht aber für eine Organisation mit mehr als 2 Millionen Mitgliedern. Deren Zweck ist Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen innerhalb der bundesrepublikanischen und europäischen Gesellschaft. Jürgen Peters nannte die IG Metall »die letzte intakte gesellschaftliche Organisation, die sich dem neoliberalen Zeitgeist entgegenstellt«, der sich – wie andere ergänzen – in den Köpfen der Mitglieder breit mache. Nur ist die IG Metall nicht Ersatz oder Ressource für sozialistische Grüne, die SPD-Linke (Beispiel Mitgliederbefragung!), die PDS im Niedergang, für eine außerparlamentarische Opposition oder Resonanzboden für alternative Politikwissenschaftler.

 

Ausweitung von Politikfeldern und Öffentlichkeit

Die IG Metall hat auf dem Feld der Sozialpolitik so viel Vertrauen verspielt, dass es für eine lange Zeit vorrangig ist, dass sie gesellschaftspolitische Entwicklungen überhaupt klärend wahrnimmt und in die Gestaltung von Tarif- und Betriebspolitik einfließen lässt:

          in die Gestaltung altersgerechter Arbeit,

         in die Ermöglichung des Übergangs zwischen Familie und Beruf,

          in die Erleichterung des Neuanfangs in einem Betrieb,

          die Gestaltung durchlässiger Karrierewege im Betrieb,

            Organisation von Arbeitsprozessen mit einem adäquat hohen Maß an Eigenverantwortung

          die Gestaltung grenzübergreifender europäischer Tarifpolitik,

          die Förderung von der individuellen Fähigkeit von Beschäftigten, Beruf und Stelle wechseln zu können.

Neben der Regelung von Arbeitsbeziehungen für die Belegschaft spielt im Berufsleben von eher eigenverantwortlich Arbeitenden eine immer größere Rolle, wie sie ihre persönlichen Arbeitsbeziehungen selbst gestalten. Dafür brauchen sie Unterstützung. Die Frage ist nur, ob die IG Metall dieses Aufgabenfeld mit kompetentem Personal und ökonomisch ergreifen kann.

Viele sagen, es muss Ruhe einkehren, die Schlammschlacht beendet und an der Sache (dem nächsten Tarifabschluss zum Beispiel) gearbeitet werden. Besonnenheit ist schon okay, aber der Politikprozess – Klärung, Meinungsbildung, Zieldefinition, Aktion – der IG Metall braucht dringend eine weit über den Funktionärskörper hinausgehende öffentliche Komponente. Nur so kann man die Politik des Für und Statt der Beschäftigten um eine Politik des Mit und Selbst von Beschäftigten ergänzen.

Die Politik einer weit in die Öffentlichkeit hineinwirkenden Organisation, die auf die Aktivitäten ihrer Mitglieder angewiesen ist, kann sich nur mit den Köpfen von Menschen und in Interaktion mit ihnen entwickeln. Das geht auch vor Ort im Betrieb, aber in der Mediengesellschaft bilden sich Meinungen vorrangig individuell, über den öffentlich ausgetragenen Streit und nicht über die Verlautbarung. Widersprüche in der IG Metall sind sicher so vielfältig wie in Gesellschaft und Politik und müssen durch ihr Leitungspersonal auch nach außen – schon der Glaubwürdigkeit wegen – verkörpert werden. Hilfreich ist dabei eine adäquate Einbindung der Öffentlichkeit. Deren wertschätzender Kritik sollten sich die Gewerkschaften kritisch lernend aussetzen und sich also weniger in die Rolle des Kritikers der Öffentlichkeit begeben.

Die IG Metall kann die besten Ergebnisse erzielen, wenn sie sich auf eine allerdings, wie oben gesagt, weit greifende Tarifpolitik konzentriert. Es wäre spannend, wie weit eine Neubestimmung von Tarifpolitik öffentlich geführt werden und so gelingen kann. Den Baden-Württemberger IG Metallern ist es in mühevollen Tarifverhandlungen gelungen, betrieblich Leistungs- und Entlohnungsgerechtigkeit (Regelung von Unterschieden in der »Klasse«) in neue, modernere Entgeltstrukturen und Entgeltfindungsprozesse zu gießen – ERA heißt der Entgeltrahmentarifvertrag kurz.

In der IG Metall aufgelaufen sind sie mit ihrem Vorschlag differenzierter Tarifabschlüsse, um den Flächentarifvertrag zu retten, ihn europatauglich zu gestalten und um die Stellung von Tarifverträgen gegenüber betrieblichen Regelungen zu stärken. Sie wollen Prozesse und Kriterien für Korridore unterschiedlicher Lohnerhöhungen in unterschiedlichen Betrieben tarifvertraglich – also auch durch Arbeitskampf herstellbar – vereinbaren. Damit würden die enormen Unterschiede in der Produktivitätsentwicklung oder der konjunkturellen Entwicklung in einem Gebiet und in einer Branche formell berücksichtigt werden können. Es würde eben, wie auch in der Entgeltstruktur, nicht jeder Betrieb gleich behandelt.

Kaum ausgesprochen sahen sie sich als Verräter des Flächentarifs gebrandmarkt, wurden die Wunder der auf dem Papier stehenden Gleichheit beschworen. Im tagtäglichen Geschäft dagegen wird mehr oder weniger stillschweigend davon abgewichen. Das ist natürlich eine kaum nachvollziehbare Politik, tauglich für Funktionärsgesellschaften, aber nicht für Demokratie. Nun haben die, die die Papierlage laut verteidigen, im Osten durch »Häuserkampf« und »Tarifmurks« den Flächentarifvertrag ruiniert.

Der Politikprozess sollte an seinen Ergebnissen gemessen werden und nicht an Versprechungen oder Verwünschungen. Unter den Maximen Verantwortlichkeit und Selbstständigkeit könnte das Verhältnis von politischer Leitung, Beteiligung von Mitgliedern, eigenen, selbst organisierten oder selbstständigen Aktivitäten von Mitgliedern und demokratischer Entscheidungsfindung neu justiert werden. Persönliche Verantwortlichkeit sollte kollektive Verantwortung oder Verantwortungslosigkeit ablösen. Akteure erobern sich so persönlichen Handlungsspielraum.

Die Gewerkschaften produzieren allerdings nicht jeden Tag Ergebnisse wie ein Unternehmen. Sie sind zudem keiner außer ihnen liegenden formellen Kontrolle ausgesetzt wie Unternehmen, sondern werden durch ihre inneren Strukturen kontrolliert. Nach innen muss ein kultureller Wandel auf offene und loyale Klärung durch Gremien unterstützt werden. Diese sollten ihre Kontrollfunktion wahrscheinlich ohne operationale Funktion wahrnehmen. »Checks« und »Balances« als Demokratieelemente sind ebenso wichtig wie die Stärkung der Rechte von Mitgliedern bei der Wahl ihrer Vertreter. Differenz und Eigenständigkeit ist angesagt, um Neuentwicklungen Raum zu geben, Uniformität und Absicherung haben zur nur noch wenig intakten IG Metall geführt.

Es geht also nicht um einen schnellen Reinigungsprozess, sondern um einen sich über Jahre streckenden Veränderungsprozess mit ungewissem Ausgang.