Paul Nolte
Sozialstaat, Gesundheit und Gerechtigkeit
Plädoyer für eine neue Sozialpolitik in veränderter Welt
Im Sommer 2003 hat die lange
hinausgezögerte Debatte über die Reform des deutschen Sozialstaats einen
Höhepunkt erreicht. Den meisten ist inzwischen klar, dass sich etwas
Grundlegendes ändern muss – nicht einmal so sehr wegen der aktuellen
wirtschaftlichen Lage, sondern vor allem wegen der langfristigen
gesellschaftlichen Veränderungen von Bevölkerung und Lebenserwartung, Arbeits-
und Konsumwelt, Familienstrukturen und Wertvorstellungen. Der Autor formuliert
zehn Thesen für ein verändertes Verständnis vom Sozialstaat.
Denn auch die Befürworter
von Reformen geben sich im Grunde defensiv – nach dem Motto: Es geht nicht
anders, und ganz so schlimm wird es nicht sein. Mehrere Wochen lang saß die
ganze Nation gebannt vor den innerparteilichen Auseinandersetzungen der SPD wie
das Kaninchen vor der Schlange, anstatt die Absurdität der Tatsache
anzuprangern, dass Grundentscheidungen über die Zukunft unseres Landes von der
Mitgliedschaft einer Partei abhängig gemacht, statt im Parlament getroffen
werden.
Wer sich darüber ärgert, muss sich jedoch auch an die eigene
Nase fassen. Denn während dieses Schauspiel abläuft, legen die anderen
politischen Parteien ebenso wie viele Intellektuelle die Hände in den Schoß.
Von den Grünen hörte man lange Zeit nur Appelle an den Kanzler, bei diesen
Auseinandersetzungen doch bitte in seiner »Agenda 2010« standhaft zu bleiben.
Wo bleiben die eigenen Ideen? Ist die Regierungserklärung vom 14. März denn
eine Ausbuchstabierung grünen Gedankenguts in der Sozial- und
Gesellschaftspolitik? Das mag man kaum glauben. In der Opposition sieht es
freilich auch kaum besser aus. Die FDP hat sich auf Grund ihrer eigenen
Probleme ohnehin als ernsthafter Diskussionspartner aus der politischen Arena
verflüchtigt. In den Unionsparteien herrscht weithin programmatischer
Stillstand, ja geradezu Verwirrung, weil die alten Frontlinien zwischen
Sozialpolitikern und Ordoliberalen, zwischen Reformern und Traditionalisten nur
vorübergehend ruhig gestellt sind und der Mut zu konstruktiven Entwürfen
jenseits dieser alten Gegensätze fehlt.
Das ist es, was in der gegenwärtigen Situation fehlt: Die
Bereitschaft, den Sozialstaat auf eine Weise neu zu denken, die dem 21.
Jahrhundert angemessen ist; die Fähigkeit, substanzielle Gründe für eine
Neuausrichtung der sozialen Sicherung geben zu können, jenseits des Verweises
auf leere Kassen. Wenn die Reformer dem Vorwurf der Traditionalisten, es ginge
letztlich nur um »Sozialabbau«, wirkungsvoll begegnen wollen, dann müssen sie
auch Konzepte für einen neuen Sozialstaat vorstellen, Wertpräferenzen deutlich
machen und sozialwissenschaftliche Argumente heranziehen können.
Wissenschaftlich sind die Befunde längst bekannt, die Optionen erschlossen.
Aber sie finden kaum Eingang in die eingekapselten, von kurzfristigen
Opportunitätsgesichtspunkten geleiteten politischen Debatten, woran beide
Seiten eine Mitschuld tragen. Die folgenden zehn Thesen sollen deshalb einen
kleinen Beitrag zu dieser »Diskursverknüpfung« leisten.
1. Gesellschaftlicher Wandel
Die westlichen
Industriegesellschaften haben sich seit den späten Siebzigerjahren, seit dem
Ende der prosperierenden Nachkriegszeit, fundamental gewandelt. Wandel der
Arbeitsgesellschaft und Massenarbeitslosigkeit – demographische Verschiebungen
durch Alterung und Kinderlosigkeit –, Einwanderung und Ethnisierung der Gesellschaft,
besonders in den Unterschichten: das sind einige zentrale Stichworte dafür.
Aber gerade in Deutschland gibt es immer noch Blockaden, die Reichweite, die
historische Dimension dieses gesellschaftlichen Wandels zu erkennen. Dazu
kommt: Die Erwartungen an Wohlstand und Konsum sind beständig weiter gewachsen;
es gibt Gruppen und Verbände, die von der Kontinuität der bestehenden
Institutionen der sozialen Sicherung profitieren. Es fehlt an der Fähigkeit und
Bereitschaft, Konsequenzen aus diesem Wandel zu ziehen. Weithin herrscht noch
die Vorstellung vor, mit ein paar Korrekturen das alte System der industriellen
Erwerbsgesellschaft und ihre soziale Sicherung stabilisieren zu können. Es ist
aber sehr fraglich, ob auf diese Weise die wachsende Kluft zwischen sozialen
Realitäten einerseits und den Institutionen sozialer Sicherung andererseits
noch überbrückt werden kann.
2. Sozialpolitik: Die
fragwürdige deutsche Tradition
Das deutsche Modell der
Sozialpolitik und des Sozialstaates wurzelt in Traditionen der
frühneuzeitlichen Fürsorge und »Policy« einerseits und der bismarckschen Innen-
und Gesellschaftspolitik im späten 19. Jahrhundert andererseits. Wir reden heute
weithin so, als sei »der Sozialstaat« in Gefahr. In Wirklichkeit ist ein sehr
spezifisch deutsches, auf die Gesellschaft des späten 19. bis mittleren 20. Jahrhunderts
zugeschnittenes Modell der Sozialpolitik in die Krise geraten: Seine Ursprünge
liegen im kaiserzeitlichen Obrigkeitsstaat; ihm liegt ein patriarchalisches
Familien- und Erwerbsmodell zu Grunde, nämlich die Vorstellung des männlichen
»Ernährers« und Alleinverdieners in der Familie; es ist ein wesentlicher Teil
jener Verbändestrukturen und korporatistischen Vermachtung, die seit der
vorletzten Jahrhundertwende ein Merkmal der deutschen Politik ist. Es gibt also
einen doppelten Grund, an diesem System zu zweifeln: Erstens, weil es nicht
mehr mit der gesellschaftlichen Realität übereinstimmt, und zweitens, weil wir
weithin nicht mehr mit seinen zu Grunde liegenden Werten übereinstimmen.
3. Die Erosion des
Normalarbeitsverhältnisses
Seit den Achtzigerjahren ist das
frühere »Normalarbeitsverhältnis« immer mehr erodiert und inzwischen nicht mehr
der »Normalfall«. Die Arbeits- und Einkommensverhältnisse sind heute weitaus
stärker zerklüftet als in der klassischen Industriegesellschaft. Wir haben es
mit einer doppelten Zerklüftung zu tun: Schon immer litt das deutsche System
darunter, dass es bestimmte Sondergruppen von Erwerbstätigen sowie von
Einkünften gab, die aus dem Standardmodell der Erwerbstätigkeit und solidarischen
sozialen Sicherung ausgeklammert blieben: die Beamten und die Selbstständigen.
Inzwischen unterhöhlt die wachsende Vielfalt von Erwerbsformen und
Einkunftsarten – aber auch von Familienformen und »Lebensentwürfen« – das Standardmodell
auch von innen heraus. Wachsender Wohlstand und Vererbung haben dazu geführt,
dass Einkünfte jenseits der Erwerbsarbeit – etwa aus Vermietung – kein Privileg
der Reichen mehr sind; der riesige Bereich der Schwarzarbeit ist der sozialen
Solidarität entzogen; es gibt aber auch immer mehr staatlich subventionierte
Typen von Einkünften, die aus dem Solidarsystem ausgeklammert worden sind: von
den 400-Euro-Jobs bis zu steuerfreien Zuschlägen für Nacht- oder Schichtarbeit.
Wer solche Art von Einkünften hat, der hat Glück – wer dagegen »nur« einen
normalen Arbeitsplatz hat, der hat Pech, denn er zahlt für die anderen mit. Mit
anderen Worten: Unsere Sozialversicherungssysteme sind längst nicht mehr
gerecht, sondern produzieren inhärent gesellschaftliche Ungerechtigkeit. Wer
angesichts der anstehenden Reformen ein »Festhalten« an der Gerechtigkeit
anmahnt, übersieht das zumeist.
4. Individualisierung von
Chancen – Kollektivierung von Risiken?
Auf diese Weise hat sich in den
vergangenen Jahrzehnten eine wachsende Kluft aufgetan zwischen der
Individualisierung von Chancen auf der einen und der Kollektivierung von
Risiken auf der anderen Seite. Der Trend zur »Individualisierung« in unserer
Gesellschaft wird seit längerem von Soziologen wie Ulrich Beck beschrieben, und
diese Individualisierung lässt sich auch nicht rückgängig machen. Der Individualismus
ist aber auf gefährliche Weise einseitig geblieben. Individuelle Chancen, die
Nutzung individueller Vorteile wurden prämiiert, doch dem entsprach keineswegs
eine wachsende Bereitschaft zur Übernahme individueller Risiken und Verantwortung.
Die Risiken der Lebensführung werden nur zu bereitwillig kollektiviert. Wenn
der Vater davonläuft und die allein erziehende Mutter Sozialhilfe beansprucht;
wenn der Risikosport eine kostspielige Behandlung und Rehabilitation zur Folge
hat: Der Staat oder die Sozialversicherungssysteme kommen für die Konsequenzen
der individualisierten Chancengesellschaft auf. Dem Einzelnen ist daraus nicht
unbedingt ein Vorwurf zu machen – wohl aber dem System, das dies zulässt.
5. Der Wandel der »sozial
Schwachen«
Der gesellschaftliche Wandel hat
auch die Struktur derjenigen Gruppen verändert, die auf die Funktionsfähigkeit
der sozialen Sicherungssysteme temporär oder dauerhaft besonders angewiesen
sind: der sozialen Unterschichten, der »sozial Schwachen«, wie es heute
meistens heißt. Soziale Marginalität hat immer noch viel mit der Erwerbsgesellschaft
oder dem Ausschluss daraus zu tun – das klassische Problem der
Arbeitslosigkeit. Andere Ursachen der Randständigkeit und Bedürftigkeit sind
hinzugekommen, die unsere Gesellschaft kulturell und politisch noch nicht hinreichend
verarbeitet hat, etwa die partielle Auflösung der klassischen Familie (Stichwort:
allein erziehende Mütter) oder die Ethnisierung der Unterschichten durch Migration
und fehlende Integration.
Die selbst erklärten Anwälte der sozial Schwachen im Lager
der traditionalistischen Linken, zumal die Gewerkschaften, haben ihr Denken auf
diese Verschiebungen immer noch nicht eingestellt; ihre Konzeptionen beruhen
weiterhin auf den Risikolagen der klassischen männlichen
Arbeitnehmergesellschaft. Nur vor diesem Hintergrund jedenfalls macht die
Verteidigung der bisherigen Sozialstaatslösungen Sinn. Darüber hinaus stellt
sich die Frage, ob es richtig ist, den »sozial Schwachen« auch in Zukunft vor
allem im Modus der Fürsorge und der Abnahme von Verantwortung zu begegnen. Die
bisherigen Regelungen haben es zugelassen, dass in den Unterschichten Kulturen
der Unselbstständigkeit und Unmündigkeit entstanden sind, die wir den Betroffenen
nicht länger zumuten sollten. Eine Diskussion darüber ist fast überall geführt,
in Deutschland jedoch bisher weitgehend verweigert worden. Auch hier könnte es
übrigens lohnend sein, auf aktuelle Debatten in der Sozialtheorie und
Sozialphilosophie zu blicken, zum Beispiel auf den Disput zwischen Theoretikern
der sozialen »Umverteilung« wie Nancy Fraser und Fürsprechern der sozialen »Anerkennung«
wie Axel Honneth.
6. Gerechtigkeit und
Solidarität.
An welchen Werten soll sich ein
Umbau des Wohlfahrtsstaates, speziell auch die Gesundheitspolitik einschließlich
der Reform der Krankenversicherung, orientieren? Die alten Werte der
»Gerechtigkeit« und der »Solidarität« werden dabei von fast allen Parteien
zuerst angeführt. Wir können und sollten in der Tat an diesen Werten
festhalten, wenn wir uns darüber im Klaren sind, dass sie auf teils radikale
Weise neu definiert werden müssen. Es geht nicht darum, Gerechtigkeit im alten
Sinne zu »bewahren«, weil die bestehenden Institutionen längst mehr
Ungerechtigkeit als Gerechtigkeit produzieren. Ein neues Leitbild der
Gerechtigkeit muss dem fundamentalen gesellschaftlichen Wandel ebenso Rechnung
tragen wie der inzwischen gewonnenen Einsicht, dass materielle Umverteilung
zwar bequem ist, aber oft zu spät kommt: Aktive Bildungsförderung und
Integration in gesellschaftliche Teilhabe werden insofern als Instrumente der
Gerechtigkeitspolitik wichtiger. Ein neues Leitbild der Solidarität kann
deshalb kein einfaches Zurück zur kollektivistischen »Wir-für-dich-Solidarität«
sein, sondern muss eine »Ich-für-euch-Solidarität« einschließen: Der Einzelne
muss mit der Gemeinschaft solidarisch sein und rechtfertigen können, warum und
inwiefern er dieser Gemeinschaft die Kosten seiner eigenen Risiken aufbürden
kann.
7. Verantwortung und
Mündigkeit
Um einen solchen Wandel abstützen
zu können, reicht der Bezug auf Gerechtigkeit und Solidarität – auch in neu
definierter Form – jedoch nicht aus. Eine neue Sozialpolitik, gerade auch
Gesundheitspolitik, muss ergänzt werden durch die Leitbilder der Verantwortung
und der bürgerlichen Mündigkeit. »Verantwortung« heißt dabei wesentlich mehr
als der gängige Kurzschluss von der Eigenverantwortung zur Zuzahlung des
Patienten. Es geht überhaupt um mehr als nur um Geld, obwohl man die
Symbolfunktion des Geldes, der Ökonomie für gesellschaftliche Wertvorstellungen
nicht unterschätzen sollte. – Erstens schließt Verantwortung immer auch
Verantwortung für Dritte ein, schlägt also eine Brücke zur Solidarität – das markiert
eine Grenze des bloßen neoliberalen Appells an die individuelle Eigenverantwortung.
Zweitens ist individuelle Verantwortung ein fundamentales sozialtheoretisches
Prinzip: die Verantwortlichkeit für die eigene Person schließt die »Sorge um
sich« (Michel Foucault) und damit auch die Sorge um den eigenen Körper mit ein.
Die Integrität des eigenen Körpers, das gesundheitliche Wohlbefinden liegen
heute mehr als jemals zuvor in der Verantwortung des Einzelnen, sind an sein
Risikoverhalten gekoppelt. Verantwortung für die eigene Lebensführung zu tragen
heißt deshalb auch, diese Risiken zu kennen und gegebenenfalls auch materiell
mitzutragen, sie also nicht vollständig oder umstandslos der
Solidargemeinschaft aufzubürden.
Die bestehenden Mechanismen unserer Sozialpolitik sind
jedoch mit dieser Form der Verantwortung inkompatibel. Zumal die gesetzliche
Krankenversicherung fördert die Unverantwortlichkeit, weil sie die Klienten in
völliger Unmündigkeit hält. Sie verweigert ihnen zum Beispiel die Rechenschaft
über die Kosten von Krankheit und Gesundheit, insbesondere über die Kosten der
Arztbehandlung. Erst wenn nicht nur die Privatpatienten, sondern jeder Patient
und jede Patientin vom Arzt eine Rechnung über die Behandlungskosten geschickt
bekommt, kann sich mündiges Patientenbewusstsein und verantwortliches
Patientenhandeln herausbilden.
8. Das problematische
Versicherungsprinzip
Der deutsche Sozialstaat beruht
ihm Kern auf solidargemeinschaftlichen Versicherungsleistungen, die an das
Erwerbsverhältnis gekoppelt sind: Rentenversicherung, Krankenversicherung,
Arbeitslosenversicherung und neuerdings auch Pflegeversicherung. Um eine wirkliche
»Versicherung« hat es sich dabei jedoch nie gehandelt, und die Merkmale einer
echten Versicherung gegen Risikofälle sind in den letzten Jahrzehnten eher
zurückgedrängt worden. Daraus resultiert eine Unsicherheit der Klienten über
die Art von Leistungen, die sie sozialpolitisch erwarten dürfen. Zum Beispiel
ist in einer Versicherung die Versicherungsleistung in der Regel von der Dauer
des Vertrages unabhängig: Wenn ich schon vierzig Jahre eine Hausratversicherung
habe, bekomme ich den Diebstahl genauso ersetzt wie eine Woche nach
Vertragsabschluss. Für die Arbeitslosenversicherung gibt es jedoch eine breite
Erwartung, dass sich die Leistungen nach der Dauer der Einzahlung richten, wie
in der Rentenversicherung, für die die Bezeichnung »Versicherung« ohnehin
völlig irreführend ist.
Die Kranken- und Unfallversicherung könnte man noch am
ehesten als eine »echte« Versicherung gegen Risikofälle verstehen. Doch sind
medizinische Leistungen, anders als im späten 19. Jahrhundert, ein so
alltägliches Gut geworden, dass es sich bei der gesetzlichen
Krankenversicherung im Grunde um etwas anderes handelt: nämlich um die
Kollektivierung einer Grundfunktion der Daseinsvorsorge – in weiten Bereichen
der Alltagsmedizin also vergleichbar der Ernährung, Wohnung oder Bildung. Dabei
gibt sich jeder Einzelne der Illusion hin, mehr aus der »Versicherung« zu
erhalten, als er selber einzahlt – sonst würde es sich ja nicht »lohnen«, Teil
dieser Gemeinschaft zu sein. Auch deshalb gilt wieder: Den Preis für
medizinische Leistungen bewusst und wählbar zu machen, kann ein lohnenderes
Ziel sein als die ganz und gar unrealistische »Kostendämpfung«, der die
Politiker wie einer Chimäre hinterherlaufen.
9. Bürgerversicherung:
Plädoyer für einen Systemwechsel
Nach alldem dürfte mein konkretes
Plädoyer nicht mehr überraschend sein: Wir brauchen einen wirklichen
Systemwechsel in manchen Grundpfeilern unseres Sozialstaates – nicht um diesen
abzuschaffen, sondern um ihn auf die fundamental gewandelten gesellschaftlichen
Verhältnisse neu auszurichten. Wir brauchen einen Systemwechsel von der
historischen Dimension der bismarckschen Politik, einen Systemwechsel, der über
die bisherigen Zäsuren in der Sozialpolitikgeschichte der Bundesrepublik – die
Rentenreform von 1957 oder die Neuordnung der Armenfürsorge als Sozialhilfe
1961 – hinausgeht. Die Koppelung der Krankenversicherung an das
Erwerbsverhältnis ist weder länger gerecht noch produktiv. Sie muss vollständig
aufgegeben werden; der bisherige Arbeitgeberanteil wird als Lohn ausgezahlt.
Die Krankenversicherung sollte stattdessen als eine Bürgerversicherung
organisiert werden. Es muss sich um eine Pflichtversicherung handeln, und ihre
notwendigen Grundleistungen, ihr »Basispaket«, muss staatlich abgesichert sein.
Die Gesundheitskosten für Kinder werden nicht innerhalb der Versicherung als
Umlage finanziert, sondern über eine Art staatlichen »Voucher«. Diese
Leistungen müssen von der gesamten Bürgergemeinschaft getragen, also
steuerfinanziert werden.
Ein solches Konzept sozialer Sicherung nähert sich in
mancher Hinsicht den früheren Debatten über eine staatliche »Grundsicherung«
oder ein »Bürgergeld« an. Diese Debatte müsste wieder aufgenommen werden. Der
internationale Vergleich und wissenschaftliche Untersuchungen über verschiedene
Grundformen wohlfahrtsstaatlicher Regime zeigen, dass steuerfinanzierte Modelle
sozialer Sicherung meist in ihrer Wirkung egalitärer sind als das
korporatistische Modell Deutschlands, bei dem Leistungen sehr stark nach
sozialer Lage und Einkommen gestaffelt vergeben werden, nicht nach
Bedürftigkeit. Dieser Gesichtspunkt ließe sich viel offensiver, als das bisher
geschieht, als Argument für einen (Teil-)Ausstieg aus dem deutschen Sozialversicherungssystem
alter Provenienz vertreten.
Wenn Verantwortung und Mündigkeit in diesem System eine
Chance haben sollen, dann ist Wettbewerb eine unverzichtbare Voraussetzung –
außerdem auch aus Gründen der Kostentransparenz und des Kostenwettbewerbes. Die
Lösung ist also nicht eine staatliche Einheitsversicherung, wie sie in der Rürup-Kommission
gefordert wird, sondern eine größtmögliche Öffnung; die Lösung ist keine Verdrängung
der privaten Krankenversicherungen, sondern im Gegenteil: die Umstellung des
gesamten Systems auf das Modell der privaten Krankenversicherung; gewissermaßen:
die Privatisierung der AOK unter staatlicher Aufsicht und staatlichen
Regularien.
Wenn man diesen Ansatz weiterdenkt und ausbaut, lässt er
sich auch auf andere Bereiche der sozialen Sicherung, zum Beispiel die
Rentenversicherung, übertragen. Auch hier gilt ja: ein viel zu geringer Teil
der tatsächlich erzielten Einkünfte wird in die kollektivierte, solidarische
Altersversorgung einbezogen. Das gilt wiederum für die quasi-ständischen
Sondergruppen, die in historischer deutscher Tradition aus diesem System immer
noch freigestellt sind: vor allem die Beamten; es gilt aber erneut auch, und in
wachsendem Maße, für die ausfransenden »Ränder« unserer Erwerbsgesellschaft,
für Gelegenheitsjobs, Nebeneinkünfte und nicht zuletzt die Schwarzarbeit. Ein
möglicher Weg ist, diese Einkünfte außerhalb der Lohnarbeit in die
kollektivierte Altersversorgung einzubeziehen: Bei den Beamten ist das
überfällig, bei Einkünften aus Vermögen oder Vermietung wird das diskutiert,
bei der Schwarzarbeit ist es unmöglich. Die Alternative wäre auch hier, die
Alterssicherung im klassischen Sinne von der Kopplung an das Lohneinkommen zu
lösen, individuelle Vorsorge verpflichtend zu machen und zu prämiieren, eine
Mindestabsicherung vorzuschreiben und eine Grundsicherung im Alter staatlich zu
garantieren. Erneut kann man nur davor warnen, in der Verwirklichung eines
solchen Modells das Ende des Wohlfahrtsstaates überhaupt zu sehen: Das wäre
pure nationale Borniertheit, denn die meisten sozialen Sicherungssysteme
jenseits der deutschen Grenzen funktionieren nach solchen oder ähnlichen Prinzipien.
Schließlich lässt sich das hier skizzierte Prinzip der
Verantwortung und individuellen Absicherung bei staatlich garantierter
Grundleistung auch auf andere gesellschaftliche Bereiche jenseits des
Wohlfahrtsstaates in einem engeren Sinne ausweiten, etwa auf das Bildungssystem
und seine Finanzierung. Auch hier geht es ja ganz zentral um Fragen der
Gerechtigkeit, gerade bei den heiß umstrittenen Studiengebühren. Ist es
gerecht, dass die Abiturienten, meist nicht die Kinder aus sozial schwachen
Familien, eine kostenlose Ausbildung mit dem Ziel eines relativ hohen Einkommens
im späteren Beruf genießen? Ist es gerecht, dass alle Steuerzahler den Familien
der Mittelschicht das Studium finanzieren?
10. Markt oder Staat? Eine
falsche Alternative
Die Reform des Sozialstaates darf
sich nicht in erster Linie an ideologisch vorgegebenen Alternativen orientieren:
Sie muss vor allem von einer klaren Erkenntnis der Dimensionen des
gesellschaftlichen Wandels ausgehen und daraus die Bereitschaft zu einem
grundlegenden Umbau der sozialen Sicherung, aber auch zu einer Veränderung der
spezifischen Mentalitäten, die sich an den deutschen Sozialstaat angelagert
haben, ableiten. Auch im internationalen Vergleich brauchen wir in Deutschland
in mancher Hinsicht nicht Markt oder Staat, sondern »mehr Markt und mehr
Staat zugleich«. Wir brauchen mehr Staat, weil elementare soziale Sicherung in
der postklassischen Arbeits- und Konsumgesellschaft besser durch unmittelbare
staatliche Leistungen zu gewährleisten ist, und weil diese Leistungen
steuerfinanziert sein sollten. Wir brauchen mehr Markt, weil Sozialpolitik im
Allgemeinen, Gesundheitspolitik im Besonderen des Wettbewerbs und der
Wahlmöglichkeiten bedürfen, wenn sie Bestandteil einer zugleich offenen und
gerechten bürgerlichen Gesellschaft sein sollen.
Vortrag auf der Tagung »Staat,
Markt und Gesellschaft« der Heinrich-Böll-Stiftung Bremen am 26.4.2003. Von der
Redaktion gekürzt.