Paul Nolte

Sozialstaat, Gesundheit und Gerechtigkeit

Plädoyer für eine neue Sozialpolitik in veränderter Welt

 

Im Sommer 2003 hat die lange hinausgezögerte Debatte über die Reform des deutschen Sozialstaats einen Höhepunkt erreicht. Den meisten ist inzwischen klar, dass sich etwas Grundlegendes ändern muss – nicht einmal so sehr wegen der aktuellen wirtschaftlichen Lage, sondern vor allem wegen der langfristigen gesellschaftlichen Veränderungen von Bevölkerung und Lebenserwartung, Arbeits- und Konsumwelt, Familienstrukturen und Wertvorstellungen. Der Autor formuliert zehn Thesen für ein verändertes Verständnis vom Sozialstaat.

 

Denn auch die Befürworter von Reformen geben sich im Grunde defensiv – nach dem Motto: Es geht nicht anders, und ganz so schlimm wird es nicht sein. Mehrere Wochen lang saß die ganze Nation gebannt vor den innerparteilichen Auseinandersetzungen der SPD wie das Kaninchen vor der Schlange, anstatt die Absurdität der Tatsache anzuprangern, dass Grundentscheidungen über die Zukunft unseres Landes von der Mitgliedschaft einer Partei abhängig gemacht, statt im Parlament getroffen werden.

Wer sich darüber ärgert, muss sich jedoch auch an die eigene Nase fassen. Denn während dieses Schauspiel abläuft, legen die anderen politischen Parteien ebenso wie viele Intellektuelle die Hände in den Schoß. Von den Grünen hörte man lange Zeit nur Appelle an den Kanzler, bei diesen Auseinandersetzungen doch bitte in seiner »Agenda 2010« standhaft zu bleiben. Wo bleiben die eigenen Ideen? Ist die Regierungserklärung vom 14. März denn eine Ausbuchstabierung grünen Gedankenguts in der Sozial- und Gesellschaftspolitik? Das mag man kaum glauben. In der Opposition sieht es freilich auch kaum besser aus. Die FDP hat sich auf Grund ihrer eigenen Probleme ohnehin als ernsthafter Diskussionspartner aus der politischen Arena verflüchtigt. In den Unionsparteien herrscht weithin programmatischer Stillstand, ja geradezu Verwirrung, weil die alten Frontlinien zwischen Sozialpolitikern und Ordoliberalen, zwischen Reformern und Traditionalisten nur vorübergehend ruhig gestellt sind und der Mut zu konstruktiven Entwürfen jenseits dieser alten Gegensätze fehlt.

Das ist es, was in der gegenwärtigen Situation fehlt: Die Bereitschaft, den Sozialstaat auf eine Weise neu zu denken, die dem 21. Jahrhundert angemessen ist; die Fähigkeit, substanzielle Gründe für eine Neuausrichtung der sozialen Sicherung geben zu können, jenseits des Verweises auf leere Kassen. Wenn die Reformer dem Vorwurf der Traditionalisten, es ginge letztlich nur um »Sozialabbau«, wirkungsvoll begegnen wollen, dann müssen sie auch Konzepte für einen neuen Sozialstaat vorstellen, Wertpräferenzen deutlich machen und sozialwissenschaftliche Argumente heranziehen können. Wissenschaftlich sind die Befunde längst bekannt, die Optionen erschlossen. Aber sie finden kaum Eingang in die eingekapselten, von kurzfristigen Opportunitätsgesichtspunkten geleiteten politischen Debatten, woran beide Seiten eine Mitschuld tragen. Die folgenden zehn Thesen sollen deshalb einen kleinen Beitrag zu dieser »Diskursverknüpfung« leisten.

 

1. Gesellschaftlicher Wandel

Die westlichen Industriegesellschaften haben sich seit den späten Siebzigerjahren, seit dem Ende der prosperierenden Nachkriegszeit, fundamental gewandelt. Wandel der Arbeitsgesellschaft und Massenarbeitslosigkeit – demographische Verschiebungen durch Alterung und Kinderlosigkeit –, Einwanderung und Ethnisierung der Gesellschaft, besonders in den Unterschichten: das sind einige zentrale Stichworte dafür. Aber gerade in Deutschland gibt es immer noch Blockaden, die Reichweite, die historische Dimension dieses gesellschaftlichen Wandels zu erkennen. Dazu kommt: Die Erwartungen an Wohlstand und Konsum sind beständig weiter gewachsen; es gibt Gruppen und Verbände, die von der Kontinuität der bestehenden Institutionen der sozialen Sicherung profitieren. Es fehlt an der Fähigkeit und Bereitschaft, Konsequenzen aus diesem Wandel zu ziehen. Weithin herrscht noch die Vorstellung vor, mit ein paar Korrekturen das alte System der industriellen Erwerbsgesellschaft und ihre soziale Sicherung stabilisieren zu können. Es ist aber sehr fraglich, ob auf diese Weise die wachsende Kluft zwischen sozialen Realitäten einerseits und den Institutionen sozialer Sicherung andererseits noch überbrückt werden kann.

 

2. Sozialpolitik: Die fragwürdige deutsche Tradition

Das deutsche Modell der Sozialpolitik und des Sozialstaates wurzelt in Traditionen der frühneuzeitlichen Fürsorge und »Policy« einerseits und der bismarckschen Innen- und Gesellschaftspolitik im späten 19. Jahrhundert andererseits. Wir reden heute weithin so, als sei »der Sozialstaat« in Gefahr. In Wirklichkeit ist ein sehr spezifisch deutsches, auf die Gesellschaft des späten 19. bis mittleren 20. Jahrhunderts zugeschnittenes Modell der Sozialpolitik in die Krise geraten: Seine Ursprünge liegen im kaiserzeitlichen Obrigkeitsstaat; ihm liegt ein patriarchalisches Familien- und Erwerbsmodell zu Grunde, nämlich die Vorstellung des männlichen »Ernährers« und Alleinverdieners in der Familie; es ist ein wesentlicher Teil jener Verbändestrukturen und korporatistischen Vermachtung, die seit der vorletzten Jahrhundertwende ein Merkmal der deutschen Politik ist. Es gibt also einen doppelten Grund, an diesem System zu zweifeln: Erstens, weil es nicht mehr mit der gesellschaftlichen Realität übereinstimmt, und zweitens, weil wir weithin nicht mehr mit seinen zu Grunde liegenden Werten übereinstimmen.

 

3. Die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses

Seit den Achtzigerjahren ist das frühere »Normalarbeitsverhältnis« immer mehr erodiert und inzwischen nicht mehr der »Normalfall«. Die Arbeits- und Einkommensverhältnisse sind heute weitaus stärker zerklüftet als in der klassischen Industriegesellschaft. Wir haben es mit einer doppelten Zerklüftung zu tun: Schon immer litt das deutsche System darunter, dass es bestimmte Sondergruppen von Erwerbstätigen sowie von Einkünften gab, die aus dem Standardmodell der Erwerbstätigkeit und solidarischen sozialen Sicherung ausgeklammert blieben: die Beamten und die Selbstständigen. Inzwischen unterhöhlt die wachsende Vielfalt von Erwerbsformen und Einkunftsarten – aber auch von Familienformen und »Lebensentwürfen« – das Standardmodell auch von innen heraus. Wachsender Wohlstand und Vererbung haben dazu geführt, dass Einkünfte jenseits der Erwerbsarbeit – etwa aus Vermietung – kein Privileg der Reichen mehr sind; der riesige Bereich der Schwarzarbeit ist der sozialen Solidarität entzogen; es gibt aber auch immer mehr staatlich subventionierte Typen von Einkünften, die aus dem Solidarsystem ausgeklammert worden sind: von den 400-Euro-Jobs bis zu steuerfreien Zuschlägen für Nacht- oder Schichtarbeit. Wer solche Art von Einkünften hat, der hat Glück – wer dagegen »nur« einen normalen Arbeitsplatz hat, der hat Pech, denn er zahlt für die anderen mit. Mit anderen Worten: Unsere Sozialversicherungssysteme sind längst nicht mehr gerecht, sondern produzieren inhärent gesellschaftliche Ungerechtigkeit. Wer angesichts der anstehenden Reformen ein »Festhalten« an der Gerechtigkeit anmahnt, übersieht das zumeist.

 

4. Individualisierung von Chancen – Kollektivierung von Risiken?

Auf diese Weise hat sich in den vergangenen Jahrzehnten eine wachsende Kluft aufgetan zwischen der Individualisierung von Chancen auf der einen und der Kollektivierung von Risiken auf der anderen Seite. Der Trend zur »Individualisierung« in unserer Gesellschaft wird seit längerem von Soziologen wie Ulrich Beck beschrieben, und diese Individualisierung lässt sich auch nicht rückgängig machen. Der Individualismus ist aber auf gefährliche Weise einseitig geblieben. Individuelle Chancen, die Nutzung individueller Vorteile wurden prämiiert, doch dem entsprach keineswegs eine wachsende Bereitschaft zur Übernahme individueller Risiken und Verantwortung. Die Risiken der Lebensführung werden nur zu bereitwillig kollektiviert. Wenn der Vater davonläuft und die allein erziehende Mutter Sozialhilfe beansprucht; wenn der Risikosport eine kostspielige Behandlung und Rehabilitation zur Folge hat: Der Staat oder die Sozialversicherungssysteme kommen für die Konsequenzen der individualisierten Chancengesellschaft auf. Dem Einzelnen ist daraus nicht unbedingt ein Vorwurf zu machen – wohl aber dem System, das dies zulässt.

 

5. Der Wandel der »sozial Schwachen«

Der gesellschaftliche Wandel hat auch die Struktur derjenigen Gruppen verändert, die auf die Funktionsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme temporär oder dauerhaft besonders angewiesen sind: der sozialen Unterschichten, der »sozial Schwachen«, wie es heute meistens heißt. Soziale Marginalität hat immer noch viel mit der Erwerbsgesellschaft oder dem Ausschluss daraus zu tun – das klassische Problem der Arbeitslosigkeit. Andere Ursachen der Randständigkeit und Bedürftigkeit sind hinzugekommen, die unsere Gesellschaft kulturell und politisch noch nicht hinreichend verarbeitet hat, etwa die partielle Auflösung der klassischen Familie (Stichwort: allein erziehende Mütter) oder die Ethnisierung der Unterschichten durch Migration und fehlende Integration.

Die selbst erklärten Anwälte der sozial Schwachen im Lager der traditionalistischen Linken, zumal die Gewerkschaften, haben ihr Denken auf diese Verschiebungen immer noch nicht eingestellt; ihre Konzeptionen beruhen weiterhin auf den Risikolagen der klassischen männlichen Arbeitnehmergesellschaft. Nur vor diesem Hintergrund jedenfalls macht die Verteidigung der bisherigen Sozialstaatslösungen Sinn. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob es richtig ist, den »sozial Schwachen« auch in Zukunft vor allem im Modus der Fürsorge und der Abnahme von Verantwortung zu begegnen. Die bisherigen Regelungen haben es zugelassen, dass in den Unterschichten Kulturen der Unselbstständigkeit und Unmündigkeit entstanden sind, die wir den Betroffenen nicht länger zumuten sollten. Eine Diskussion darüber ist fast überall geführt, in Deutschland jedoch bisher weitgehend verweigert worden. Auch hier könnte es übrigens lohnend sein, auf aktuelle Debatten in der Sozialtheorie und Sozialphilosophie zu blicken, zum Beispiel auf den Disput zwischen Theoretikern der sozialen »Umverteilung« wie Nancy Fraser und Fürsprechern der sozialen »Anerkennung« wie Axel Honneth.

 

6. Gerechtigkeit und Solidarität.

An welchen Werten soll sich ein Umbau des Wohlfahrtsstaates, speziell auch die Gesundheitspolitik einschließlich der Reform der Krankenversicherung, orientieren? Die alten Werte der »Gerechtigkeit« und der »Solidarität« werden dabei von fast allen Parteien zuerst angeführt. Wir können und sollten in der Tat an diesen Werten festhalten, wenn wir uns darüber im Klaren sind, dass sie auf teils radikale Weise neu definiert werden müssen. Es geht nicht darum, Gerechtigkeit im alten Sinne zu »bewahren«, weil die bestehenden Institutionen längst mehr Ungerechtigkeit als Gerechtigkeit produzieren. Ein neues Leitbild der Gerechtigkeit muss dem fundamentalen gesellschaftlichen Wandel ebenso Rechnung tragen wie der inzwischen gewonnenen Einsicht, dass materielle Umverteilung zwar bequem ist, aber oft zu spät kommt: Aktive Bildungsförderung und Integration in gesellschaftliche Teilhabe werden insofern als Instrumente der Gerechtigkeitspolitik wichtiger. Ein neues Leitbild der Solidarität kann deshalb kein einfaches Zurück zur kollektivistischen »Wir-für-dich-Solidarität« sein, sondern muss eine »Ich-für-euch-Solidarität« einschließen: Der Einzelne muss mit der Gemeinschaft solidarisch sein und rechtfertigen können, warum und inwiefern er dieser Gemeinschaft die Kosten seiner eigenen Risiken aufbürden kann.

 

7. Verantwortung und Mündigkeit

Um einen solchen Wandel abstützen zu können, reicht der Bezug auf Gerechtigkeit und Solidarität – auch in neu definierter Form – jedoch nicht aus. Eine neue Sozialpolitik, gerade auch Gesundheitspolitik, muss ergänzt werden durch die Leitbilder der Verantwortung und der bürgerlichen Mündigkeit. »Verantwortung« heißt dabei wesentlich mehr als der gängige Kurzschluss von der Eigenverantwortung zur Zuzahlung des Patienten. Es geht überhaupt um mehr als nur um Geld, obwohl man die Symbolfunktion des Geldes, der Ökonomie für gesellschaftliche Wertvorstellungen nicht unterschätzen sollte. – Erstens schließt Verantwortung immer auch Verantwortung für Dritte ein, schlägt also eine Brücke zur Solidarität – das markiert eine Grenze des bloßen neoliberalen Appells an die individuelle Eigenverantwortung. Zweitens ist individuelle Verantwortung ein fundamentales sozialtheoretisches Prinzip: die Verantwortlichkeit für die eigene Person schließt die »Sorge um sich« (Michel Foucault) und damit auch die Sorge um den eigenen Körper mit ein. Die Integrität des eigenen Körpers, das gesundheitliche Wohlbefinden liegen heute mehr als jemals zuvor in der Verantwortung des Einzelnen, sind an sein Risikoverhalten gekoppelt. Verantwortung für die eigene Lebensführung zu tragen heißt deshalb auch, diese Risiken zu kennen und gegebenenfalls auch materiell mitzutragen, sie also nicht vollständig oder umstandslos der Solidargemeinschaft aufzubürden.

Die bestehenden Mechanismen unserer Sozialpolitik sind jedoch mit dieser Form der Verantwortung inkompatibel. Zumal die gesetzliche Krankenversicherung fördert die Unverantwortlichkeit, weil sie die Klienten in völliger Unmündigkeit hält. Sie verweigert ihnen zum Beispiel die Rechenschaft über die Kosten von Krankheit und Gesundheit, insbesondere über die Kosten der Arztbehandlung. Erst wenn nicht nur die Privatpatienten, sondern jeder Patient und jede Patientin vom Arzt eine Rechnung über die Behandlungskosten geschickt bekommt, kann sich mündiges Patientenbewusstsein und verantwortliches Patientenhandeln herausbilden.

 

8. Das problematische Versicherungsprinzip

Der deutsche Sozialstaat beruht ihm Kern auf solidargemeinschaftlichen Versicherungsleistungen, die an das Erwerbsverhältnis gekoppelt sind: Rentenversicherung, Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung und neuerdings auch Pflegeversicherung. Um eine wirkliche »Versicherung« hat es sich dabei jedoch nie gehandelt, und die Merkmale einer echten Versicherung gegen Risikofälle sind in den letzten Jahrzehnten eher zurückgedrängt worden. Daraus resultiert eine Unsicherheit der Klienten über die Art von Leistungen, die sie sozialpolitisch erwarten dürfen. Zum Beispiel ist in einer Versicherung die Versicherungsleistung in der Regel von der Dauer des Vertrages unabhängig: Wenn ich schon vierzig Jahre eine Hausratversicherung habe, bekomme ich den Diebstahl genauso ersetzt wie eine Woche nach Vertragsabschluss. Für die Arbeitslosenversicherung gibt es jedoch eine breite Erwartung, dass sich die Leistungen nach der Dauer der Einzahlung richten, wie in der Rentenversicherung, für die die Bezeichnung »Versicherung« ohnehin völlig irreführend ist.

Die Kranken- und Unfallversicherung könnte man noch am ehesten als eine »echte« Versicherung gegen Risikofälle verstehen. Doch sind medizinische Leistungen, anders als im späten 19. Jahrhundert, ein so alltägliches Gut geworden, dass es sich bei der gesetzlichen Krankenversicherung im Grunde um etwas anderes handelt: nämlich um die Kollektivierung einer Grundfunktion der Daseinsvorsorge – in weiten Bereichen der Alltagsmedizin also vergleichbar der Ernährung, Wohnung oder Bildung. Dabei gibt sich jeder Einzelne der Illusion hin, mehr aus der »Versicherung« zu erhalten, als er selber einzahlt – sonst würde es sich ja nicht »lohnen«, Teil dieser Gemeinschaft zu sein. Auch deshalb gilt wieder: Den Preis für medizinische Leistungen bewusst und wählbar zu machen, kann ein lohnenderes Ziel sein als die ganz und gar unrealistische »Kostendämpfung«, der die Politiker wie einer Chimäre hinterherlaufen.

 

9. Bürgerversicherung: Plädoyer für einen Systemwechsel

Nach alldem dürfte mein konkretes Plädoyer nicht mehr überraschend sein: Wir brauchen einen wirklichen Systemwechsel in manchen Grundpfeilern unseres Sozialstaates – nicht um diesen abzuschaffen, sondern um ihn auf die fundamental gewandelten gesellschaftlichen Verhältnisse neu auszurichten. Wir brauchen einen Systemwechsel von der historischen Dimension der bismarckschen Politik, einen Systemwechsel, der über die bisherigen Zäsuren in der Sozialpolitikgeschichte der Bundesrepublik – die Rentenreform von 1957 oder die Neuordnung der Armenfürsorge als Sozialhilfe 1961 – hinausgeht. Die Koppelung der Krankenversicherung an das Erwerbsverhältnis ist weder länger gerecht noch produktiv. Sie muss vollständig aufgegeben werden; der bisherige Arbeitgeberanteil wird als Lohn ausgezahlt. Die Krankenversicherung sollte stattdessen als eine Bürgerversicherung organisiert werden. Es muss sich um eine Pflichtversicherung handeln, und ihre notwendigen Grundleistungen, ihr »Basispaket«, muss staatlich abgesichert sein. Die Gesundheitskosten für Kinder werden nicht innerhalb der Versicherung als Umlage finanziert, sondern über eine Art staatlichen »Voucher«. Diese Leistungen müssen von der gesamten Bürgergemeinschaft getragen, also steuerfinanziert werden.

Ein solches Konzept sozialer Sicherung nähert sich in mancher Hinsicht den früheren Debatten über eine staatliche »Grundsicherung« oder ein »Bürgergeld« an. Diese Debatte müsste wieder aufgenommen werden. Der internationale Vergleich und wissenschaftliche Untersuchungen über verschiedene Grundformen wohlfahrtsstaatlicher Regime zeigen, dass steuerfinanzierte Modelle sozialer Sicherung meist in ihrer Wirkung egalitärer sind als das korporatistische Modell Deutschlands, bei dem Leistungen sehr stark nach sozialer Lage und Einkommen gestaffelt vergeben werden, nicht nach Bedürftigkeit. Dieser Gesichtspunkt ließe sich viel offensiver, als das bisher geschieht, als Argument für einen (Teil-)Ausstieg aus dem deutschen Sozialversicherungssystem alter Provenienz vertreten.

Wenn Verantwortung und Mündigkeit in diesem System eine Chance haben sollen, dann ist Wettbewerb eine unverzichtbare Voraussetzung – außerdem auch aus Gründen der Kostentransparenz und des Kostenwettbewerbes. Die Lösung ist also nicht eine staatliche Einheitsversicherung, wie sie in der Rürup-Kommission gefordert wird, sondern eine größtmögliche Öffnung; die Lösung ist keine Verdrängung der privaten Krankenversicherungen, sondern im Gegenteil: die Umstellung des gesamten Systems auf das Modell der privaten Krankenversicherung; gewissermaßen: die Privatisierung der AOK unter staatlicher Aufsicht und staatlichen Regularien.

Wenn man diesen Ansatz weiterdenkt und ausbaut, lässt er sich auch auf andere Bereiche der sozialen Sicherung, zum Beispiel die Rentenversicherung, übertragen. Auch hier gilt ja: ein viel zu geringer Teil der tatsächlich erzielten Einkünfte wird in die kollektivierte, solidarische Altersversorgung einbezogen. Das gilt wiederum für die quasi-ständischen Sondergruppen, die in historischer deutscher Tradition aus diesem System immer noch freigestellt sind: vor allem die Beamten; es gilt aber erneut auch, und in wachsendem Maße, für die ausfransenden »Ränder« unserer Erwerbsgesellschaft, für Gelegenheitsjobs, Nebeneinkünfte und nicht zuletzt die Schwarzarbeit. Ein möglicher Weg ist, diese Einkünfte außerhalb der Lohnarbeit in die kollektivierte Altersversorgung einzubeziehen: Bei den Beamten ist das überfällig, bei Einkünften aus Vermögen oder Vermietung wird das diskutiert, bei der Schwarzarbeit ist es unmöglich. Die Alternative wäre auch hier, die Alterssicherung im klassischen Sinne von der Kopplung an das Lohneinkommen zu lösen, individuelle Vorsorge verpflichtend zu machen und zu prämiieren, eine Mindestabsicherung vorzuschreiben und eine Grundsicherung im Alter staatlich zu garantieren. Erneut kann man nur davor warnen, in der Verwirklichung eines solchen Modells das Ende des Wohlfahrtsstaates überhaupt zu sehen: Das wäre pure nationale Borniertheit, denn die meisten sozialen Sicherungssysteme jenseits der deutschen Grenzen funktionieren nach solchen oder ähnlichen Prinzipien.

Schließlich lässt sich das hier skizzierte Prinzip der Verantwortung und individuellen Absicherung bei staatlich garantierter Grundleistung auch auf andere gesellschaftliche Bereiche jenseits des Wohlfahrtsstaates in einem engeren Sinne ausweiten, etwa auf das Bildungssystem und seine Finanzierung. Auch hier geht es ja ganz zentral um Fragen der Gerechtigkeit, gerade bei den heiß umstrittenen Studiengebühren. Ist es gerecht, dass die Abiturienten, meist nicht die Kinder aus sozial schwachen Familien, eine kostenlose Ausbildung mit dem Ziel eines relativ hohen Einkommens im späteren Beruf genießen? Ist es gerecht, dass alle Steuerzahler den Familien der Mittelschicht das Studium finanzieren?

 

10. Markt oder Staat? Eine falsche Alternative

Die Reform des Sozialstaates darf sich nicht in erster Linie an ideologisch vorgegebenen Alternativen orientieren: Sie muss vor allem von einer klaren Erkenntnis der Dimensionen des gesellschaftlichen Wandels ausgehen und daraus die Bereitschaft zu einem grundlegenden Umbau der sozialen Sicherung, aber auch zu einer Veränderung der spezifischen Mentalitäten, die sich an den deutschen Sozialstaat angelagert haben, ableiten. Auch im internationalen Vergleich brauchen wir in Deutschland in mancher Hinsicht nicht Markt oder Staat, sondern »mehr Markt und mehr Staat zugleich«. Wir brauchen mehr Staat, weil elementare soziale Sicherung in der postklassischen Arbeits- und Konsumgesellschaft besser durch unmittelbare staatliche Leistungen zu gewährleisten ist, und weil diese Leistungen steuerfinanziert sein sollten. Wir brauchen mehr Markt, weil Sozialpolitik im Allgemeinen, Gesundheitspolitik im Besonderen des Wettbewerbs und der Wahlmöglichkeiten bedürfen, wenn sie Bestandteil einer zugleich offenen und gerechten bürgerlichen Gesellschaft sein sollen.

 

Vortrag auf der Tagung »Staat, Markt und Gesellschaft« der Heinrich-Böll-Stiftung Bremen am 26.4.2003. Von der Redaktion gekürzt.