Wolfgang von Nostitz

Konsum in Zeiten der Armut

Wider den Umsatz um jeden Preis

 

 

Weil wir nicht genug konsumieren, springt die Wirtschaft nicht an, sind Staat und Gesellschaft arm – oder konsumieren wir nicht, weil wir arm sind? Solche Fragen führen zur Hinterfragung des wirtschaftlichen Generalkonsenses, der im Selbstzweck Umsatz steckt. Der Autor regt an, die bedrohliche Lage einmal nicht unter dem Diktat des Wachstums zu denken, sondern unter Aspekten des volkswirtschaftlichen Nutzens.

 

Die Staatsverschuldung ist bereits oberhalb der Maastrichtkriterien angelangt und bewegt sich am Rande der Verfassungswidrigkeit. Die Einnahmen der öffentlichen Kassen schrumpfen dramatisch, entsprechende Leistungskürzungen stehen bevor, und auch diese sind nur noch mit höheren Beiträgen, Abgaben und Steuern aufzubringen. Also, Gürtel enger schnallen! Dies gilt insbesondere für diejenigen, denen, zum wievielten Male eigentlich, »moderate« Lohnforderungen, im öffentlichen Dienst gar Nullrunden, empfohlen werden. Erst Recht natürlich für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger. Auch den Bauern stehen Einkommensverringerungen bevor.

 

Zu wenig Wachstum?

Und die Ursache dieser Misere? Die Zuwächse im wirtschaftlichen Produktionsprozess, mit denen bisher die Risse im sozialen Gefüge haben zugekleistert werden können, bleiben aus. So ist es gebetsmühlenartig aus Politik, Wirtschaft, aus den Wirtschaftsredaktionen zu hören. Die steigenden Zahlen für die Arbeitslosen sind nur zusammen mit den Zahlen für das Wirtschaftswachstum zu vernehmen, als ob es sich um Siamesische Zwillinge handelte. Die Medizinmänner am Bett dieses Wachstumskranken fordern zwar strukturelle, sie meinen grundlegende Reformen, doktern jedoch mit immer denselben Arzneien herum: weitere Handlungsspielräume für die Unternehmer, flexiblere Arbeitsmärkte, moderate Lohnforderungen. Wer kann es noch hören? So wie im Staatssozialismus die Jahrespläne das wirtschaftliche Glück jeweils hinter den nächsten Horizont verschoben, so scheint in unserem System dem Wirtschaftswachstum diese Rolle zugedacht zu sein.

Die Diskussion über die Frage, welches Mittelchen nun wieviel Wachstum erzeugt, ist müßig, weil, ganz abgesehen von den ökologischen Grenzen des Wachstums, damit weder die Zahl der Arbeitslosen gesenkt, noch die Staatsausgaben reduziert und schon garnicht die sozialen Risse, die ökologischen Schäden und das Armutsgefälle in der Welt beseitigt werden können.

Die Leitzinsen können nicht mehr relevant gesenkt werden, dem überschuldeten Staat steht das Mittel des »deficit spending« nicht mehr zur Verfügung, die Hoffnung auf den Export zieht angesichts vergleichbarer Problemlagen in den anderen Industriestaaten und mangels Geldmittel in den anderen Staaten nicht mehr, so verbleibt der Ruf nach mehr Konsum. Aber die Pferde saufen nicht mehr. Weil die einen, denen dieser Ruf wie Obszönitäten in den Ohren klingen muss, kein Geld mehr dafür haben, weil die anderen vernünftigerweise (und den Appellen nach privater Zusatzvorsorge für das Alter folgend) lieber sparen und sicher einige auch dem Irrsinn, den Teufel (Mangel) mit dem Beelzebub (Konsum) auszutreiben, nicht mehr folgen wollen.

 

Widersinniges Kurieren am falschen Symptom

Bei der Zahl für das Wirtschaftswachstum geht es um die Summe der betriebswirtschaftlichen Ergebnisse. Dazu können auch die Lohneinkünfte gerechnet werden, denn auch sie müssen ja zunächst betriebswirtschaftlich erbracht werden. Indem Wohl und Weh der Allgemeinheit an diesem Wachstum gemessen werden, wird volkswirtschaftlicher Nutzen der Summe des betriebswirtschaftlichen Nutzens gleichgesetzt. Dies ist der sorgfältig gepflegte kollektive Irrglauben. Auch wenn nicht bestritten werden kann, dass betriebswirtschaftlicher Nutzen auch dem volkswirtschaftlichen zugute kommen kann, so sind beide doch keineswegs deckungsgleich.

Der betriebswirtschaftliche Nutzen dient der Erzeugung notwendiger Güter, er schafft Arbeitsplätze und ist die Voraussetzung für Einnahmen des Staates. Wer wollte dies bestreiten. Wenn jedoch die im DAX vertretenen, also die erfolgreichen Unternehmen keine Steuern zahlen, wenn ihr Erfolg wesentlich von möglichst geringem Einsatz von Arbeitskräften abhängt, dann besteht doch Veranlassung darüber nachzudenken, ob diese Erkenntnis uneingeschränkt gilt.

Es muss darüber nachgedacht werden, ob die Steigerung jeder Produktion durch welchen Betrieb und welche Verfahrensweise denn auch immer dem Gemeinwohl dient. Dies sollte zentrale Aufgabe der Politik sein, also gegenüber den Partikularinteressen das Gemeinwohl zu definieren. Gegenüber der betriebswirtschaftlichen muss auch die volkswirtschaftliche Rechnung aufgemacht werden. Diese Kosten-Nutzen-Analyse ist zum Gegenstand öffentlicher Diskussion zu machen, statt sie mit immer neuen Rufen nach Wachstum zu verhindern.

 

Der Markt entscheidet?

Welche unternehmerischen Tätigkeiten nützen oder schaden dem Gemeinwohl, welche Maßnahmen fördern die nützlichen und drängen die unnötigen, gar schädlichen zurück? Dabei gilt es zunächst, sich über den Vorhalt hinwegzusetzen, über Nutz und Unnutz, Erfolg und Misserfolg doch tunlichst den Markt entscheiden zu lassen und nicht einen Plan oder gar eine Ideologie an die Stelle des mündigen Bürgers zu setzen.

Die Berufung auf den Markt als eines Ortes demokratischer Entscheidungsfindung steht allerdings nur denen zu, die sich mit ihren Produkten auch tatsächlich freien und marktwirtschaftlichen Entscheidungen stellen. Dies setzt ein Spiel von Angebot und Nachfrage voraus, bei dem die ehrlich errechneten Kosten auch vom Käufer dieser Ware oder Abnehmer dieser Dienstleistung bezahlt werden. Es gibt jedoch gewichtige Kreisläufe in unserer Wirtschaft, in denen die tatsächlichen Kosten, insbesondere die ökologischen und sonstigen Folgekosten nicht eingerechnet werden, oder in denen zu den Preisen von dritter Seite zugesteuert wird. Eine Rechtfertigung durch Hinweis auf den Markt ist hier also nicht zulässig.

Aber auch bei Produktionen, die über die Preise finanziert werden, kann die Erörterung eines vom betriebswirtschaftlichen Nutzen möglicherweise abweichenden volkswirtschaftlichen Nutzen oder gar Schadens durch Hinweis auf den Markt nicht unterbunden werden, da der Markt sich ja nicht im luftleeren, sondern von politischen Rahmenbedingungen mitgeprägten Raum abspielt. Dies wird zum Beispiel schon dadurch deutlich, dass, getreu dem kollektiven Irrglauben an die Segnungen jedes Wirtschaftswachstums, mit steuerlichen Vergünstigungen (steuerliche Absetzbarkeit von Betriebsfahrzeugen jeder Luxusklasse) oder Subventionen (Transrapid) nachhaltig in den so genannten freien Markt eingegriffen wird.

 

Beispiele von Verschwendung

Zu jedem im Folgenden aus der Sicht des Gemeinwohls oder des volkswirtschaftlichen Nutzens erörterten und als unnütz bezeichneten Beispiel wird es Aufschreie der Empörung von Betroffenen und ihren Interessenverbänden geben. Diese – durchaus verständlich – stützen sich jedoch immer auf partikulare, also betriebswirtschaftliche Interessen. Aller zu erwartenden Proteste zum Trotz, geht es bei den nachfolgenden Einzelfällen darum, ob sie in Zeiten der Armut weiterhin gefördert werden sollen.

Werbung. Sie gehört zur Marktwirtschaft, jedoch nur, soweit sie den Kunden Informationen für die Auswahl des von ihnen Benötigten gibt. Soweit Werbung, und darauf entfällt der größte Teil der in Deutschland dafür jährlich ausgegebenen 25 Milliarden Euro, nicht auf Eigenschaften von Produkten hinweist, sondern mit Assoziationen (Abenteuer und Freiheit), Markennamen (Sponsoring) Bedürfnisse erzeugt, drängt sich die Frage auf, ob der gewaltige Aufwand (zum Vergleich: Kultur wird in Deutschland mit 8 Milliarden Euro staatlich gefördert) tatsächlich dem volkswirtschaftlichen Nutzen dient und nicht nur dem betriebswirtschaftlichen, und ob dieser Aufwand darüber hinaus nicht Kaufkraft auf Güter lenkt, die in Anbetracht der wirtschaftlichen Lage als Luxus bezeichnet werden müssen.

Berufssport. Die Zuschauer einer Fußball- oder irgend einer anderen Berufssportveranstaltung tragen mit ihren Eintrittsgeldern nur mit einem zu vernachlässigenden Anteil an den Kosten des gewaltigen Aufwandes bei. Dies gilt auch für die Einnahmen aus den Fernsehübertragungsrechten, soweit damit nicht die Schleichwerbung bezahlt wird. Das ganze Aus- und Unmaß des heutigen Berufssports wird im Wesentlichen über Werbung, also über die Kaufpreise für die beworbenen Produkte finanziert. Und zwar ohne dass die Käufer gefragt werden, ob sie, etwa beim Kauf eines Autos des Sponsors des FC Bayer, die finanziellen Auswüchse dieses Sportes auch wirklich unterstützen wollen. Die Dimensionen des heutigen Berufssports (so der Bau eines weiteren Fußballstadions in der von Insolvenz bedrohten Stadt München) sind also durch das Zuschauerinteresse und damit durch marktwirtschaftliche Nachfrage nicht gerechtfertigt. Die Frage nach ihrem volkswirtschaftlichen Nutzen drängt sich daher auf.

Mobilität. Dass sie eine Notwendigkeit ist, inclusive PKW und Flugzeug, steht außer Frage. Ob allerdings der heutige Stellenwert des Automobils, die Zahl der gefahrenen Kilometer, Geschwindigkeit, Ausstattung der Fahrzeuge, Typenvielfalt et cetera insgesamt der Allgemeinheit mehr Nutzen als Schaden bringt, muss hinterfragt werden. Dies gilt ebenso für das Ausmaß des Flugverkehrs. Ebenso für die Spitzengeschwindigkeiten des Zugverkehrs bei gleichzeitiger Einstellung von Nebenstrecken.

Wenn hier marktwirtschaftliche Grundsätze angewandt, also von den Nutzern auch die echten Kosten (die Kosten für den Straßenbau, für die Umweltschäden) verlangt würden, wären viele Auswüchse schnell beseitigt. Wenn zugunsten des Massentourismus nicht penetrante Werbung betrieben würde, ihm kostendeckende Preise auferlegt würden, fände auch in diesem Bereich eine Besinnung statt. Wer stellt etwa den volkswirtschaftlichen Vorteilen der mit innerdeutschem Flugverkehr oder gar Transrapid gewonnenen Minuten den dadurch verursachten Schäden und die dadurch verbrauchten Ressourcen gegenüber?

Verschleiß und Nicht-Reparatur.  Längst belegt und von denjenigen, die noch ein altes Radio aus den Fünfzigern oder einen Mixer aus den Sechzigern des vorigen Jahrhunderts nutzen, längst durch Erfahrung bestätigt ist, dass die meisten Produkte heute nicht mehr für möglichst lange Lebensdauer, sondern für schnellen Umsatz entwickelt und gebaut werden. Der betriebswirtschaftliche Nutzen dieser eingebauten Kurzlebigkeit liegt hier ebenso auf der Hand wie der volkswirtschaftliche Schaden. Wie viele Handwerksbetriebe dadurch eingegangen sind, wie viele Arbeitsplätze dadurch vernichtet wurden, dass die Betriebe mehr und mehr nur noch Verkauf- und Einbau-, statt auch Reparaturstellen sind, wäre einer volkswirtschaftlichen Untersuchung wert. Auch die Vertreter des Handwerks sind dieser Aufgabe noch nicht nachgekommen.

Wertlose und ungesunde Nahrungsmittel.  Auch die Verdrängung der bäuerlichen durch die industrielle Nahrungsmittelherstellung hat die Steigerung der Arbeitslosigkeit bewirkt. Diese Belastungen der Allgemeinheit wären dem betriebswirtschaftlichen Nutzen gegen zu rechnen. Zu dieser Rechnung gehören die Kosten für die dadurch bedingten Umweltschäden. Dass die Gesundheitsschäden, bedingt durch denaturierte Nahrungsmittel, nicht an vorderster Stelle der Diskussion über die Reform des Gesundheitswesens stehen, ist einer der großen Unterlassungen der Politik.

Informationstechnologie.  Mit den Versprechungen bei der Entwicklung dieser Technologie sollte in den Achtziger- und Neunzigerjahren die Volkswirtschaft sich wie am eigenen Zopf aus dem Sumpf der Massenarbeitslosigkeit ziehen. Hier geht es nicht um den unbestrittenen Nutzen, den diese Technologie für Wirtschaft, Wissenschaft und Politik hat. Es geht um das Ausmaß des betriebenen Aufwandes, der in dem etwa 85-prozentigen Anteil von Spaß und Sex an der Internet- und Handynutzung zum Ausdruck kommt. Im IT-Sektor wurden Arbeitsplätze geschaffen. Die Frage ist, wie viele davon dauerhaft und wie viele zu Lasten anderer Wirtschaftszweige entstanden sind. Mit IT wurde eine Börsenhausse erzeugt. Die Frage ist, ob diese Hausse nicht den Anfangserfolgen eines Schneeballsystems glich.

 

Umsatz als Selbstzweck

Umsatz, egal mit welchen Produkten, das ist das ökonomische Goldene Kalb, um das die Politiker (einschließlich nunmehr der Grünen) im Schlepptau des BDI, angetrieben von den Gewerkschaften und eingestimmt von Wirtschaftsredakteuren aller größeren Zeitungen ihren Tanz vollführen. Als ob Umsatz ein Selbstzweck wäre. Wie bei jedem Unternehmen und bei jedem privaten Haushalt sollte es auch bei der Volkswirtschaft primär um den Gewinn gehen, um den Umsatz nur unter dem Gesichtspunkt des Gewinns und der Vermögensbildung. Diese Grundregel wäre so manchen Wirtschaftswissenschaftlern und -journalisten  in Erinnerung zu rufen.

Der volkswirtschaftliche Gewinn sollte öffentlich zunächst der Befriedigung primärer Bedürfnisse dienen. Welche Bedürfnisse gehören dazu, etwa welche Gesundheitsvorsorge, welche Umwelt, welcher Sicherheitsstandard? Sodann müssten Produktionen gefördert werden, die Werte schaffen, die also künftiger Bedürfnisbefriedigung oder dem Sparen künftigen Aufwandes (Energie) dienen. Hierzu gehört der Bereich der Ausbildung, Bildung und Kultur. Bei den dann zur Debatte stehenden Gütern, die der Annehmlichkeit des Lebens dienen, sollte es auch um eine Abwägung gehen, welche Genüsse und Bequemlichkeiten der politischen und wirtschaftlichen Gesamtlage angemessen sind.

Diese Diskussion hat natürlich im politischen Raum stattzufinden. Unerlässlich dafür ist, dass Rahmenbedingungen geschaffen werden, die auch zu diesem Thema die Meinungsvielfalt gewährleistet. Dies ist gegenwärtig insofern nicht der Fall, als die Medien von Werbeeinnahmen, damit von der Umsatzförderung der Wirtschaft abhängig sind.

Eine ehrliche Darstellung der wirtschaftliche Lage der Gesellschaft würde sich dann ergeben. Auch dies findet gegenwärtig insofern nicht statt, als bei der wirtschaftlichen Gesamtrechnung nicht wie in jedem ordentlichen Unternehmen Rückstellungen auf der Passivseite der Bilanz ausgewiesen werden. Solche Rückstellungen erscheinen in Anbetracht drohender Umweltkatastrophen und terroristischer Anschläge dringend geboten.

Eine wesentliche Ursache für das wertevernichtende Wirtschaften ist in dem erdrückenden Stellenwert der Werbung bei der öffentlichen Meinungsbildung zu sehen. Bevor an Verbote, wie für Werbung für Waffen, Drogen, gedacht wird, kommen Beschränkungen der steuerlichen Absetzbarkeit, etwa auf 5 Prozent der Verkaufspreise eines Gutes, infrage.

Eine weitere politische Maßnahme wäre die Herstellung von Waffengleichheit zwischen Unternehmern und Verbrauchern, wie sie im Arbeitsrecht zwischen Arbeitgebern und –nehmern gesetzlich geschaffen wurde. Warum ist Werbung mit nichtsachlichen Mitteln erlaubt, ein Boykottaufruf durch einen Verbraucherverband dagegen verboten? Hier sind auch Überlegung über die Förderung von Verbraucherverbänden ebenso wie über die Erleichterung der Prozessführung wegen schädlicher oder untauglicher Produkte anzustellen.

Die Verteuerung von Energie, Rohstoffen und Transporten bei Verbilligung der Arbeit würde zwar den Umsätzen schaden, sicherlich jedoch mehr Arbeitsplätze schaffen, als es Prozente von undifferenziertem Wachstum bewirken.