Wilhelm Pauli
Ausbruch aus dem Christiansen-Kosmos»
Im Lichte späterer Gewinne« sollten wir uns heute schon gruseln
Helmut Wiesenthals Aufsatz »Das Ende des
Modell Deutschlands« hat Diskussionen ausgelöst, Zustimmung und Ablehnung
erfahren. Unser Diskutant stellt hier den ganzen Grundansatz in Frage, der von
immerwährendem Wachstum ausgeht.
Es gäbe viele Fragen an die siebenunddreißigtausendste und
ausführliche Verabschiedung des Modells Deutschland durch Helmut Wiesenthal:
Mit den von ihm ins Feld geführten politischen Eliten geht es schon los. Man hätte
sie gerne einmal kennen gelernt. Mein Gewährsmann am Curry-Corner, der
mittlerweile seit Jahren über Jargon, Wortschöpfungen und Argumentationen der
möglicherweise von Wiesenthal unter politische Eliten gemeinten Diskursschänder
freihändig verfügt – er wettet ein Sixpack, dass der Begriff »schwarze Null«,
den er gerade in seiner Gewerkschaftszeitung aufgeschlabbert hat, vor einer
großen Karriere steht –, hat zumindest im Gegensatz zu jenen begriffen, jedenfalls
den Mut, es in seinen Pappteller zu nuscheln, dass er nicht gleichzeitig
Sparschwein und Konsumkasper sein kann; dass, wenn er jetzt auch noch arbeiten
würde wie besengt (was er nicht vorhat), bald gar keine Arbeit mehr da wäre;
dass, wenn die Steuern fallen, die Sterne der innovativen Hochrationalisierungen
steigen; und zur Angebotspolitik sagt er: Ich kann ja gar nicht so viel kotzen,
wie ich fressen soll. Was auch bedeuten will, irgendjemand muss das Zeug ja
letztlich fressen – egal ob meine Nachfrage stimuliert wird oder nicht – und
wenn es die Kumpels in Asien, Lateinamerika oder Exost sind, die derart bedient
werden, dass sie nicht mehr »papp« sagen und ihrerseits nichts anbieten können.
Die Abkürzungen, für die Institutionen, die solcherart Globalisierung
bewerkstelligen, kriegt er heute zwar nicht hin, aber, fragt er völlig richtig:
Wozu is’n meine Ökonomie eigentlich da? Wobei er das untrügliche Gefühl
entwickelt, dass produktive Entwicklung und sein soziales Leben in völlig
entkoppelten Parallelwelten stattfinden. Warum dreh’n sie trotzdem an mir
ständig Stellschrauben? Fragt er: Ich kann ja schon kaum noch bluten.
Fragte man sich hinein in den Abschied vom Modell
Deutschland, bewegte man sich sofort auf Nimmerherauskommen auf falschem
Terrain.
Für Helmut Wiesenthal und Eliten ist die
Ökonomie offenbar dazu da, dass sie funktioniert. Und dazu bedarf es immer
weiterer grundlegender gesellschaftspolitischer Enthemmungen, wobei auch die
üblichen verdächtigen Blockierer, auf die sich in ihrer Rat- &
Hilflosigkeit die pol. el. Diskursschänder in schon geradezu biblischer Sündenbock-Mythologenese
geeinigt haben, nicht fehlen dürfen. Außer dass also die kapitalistische
Hirnlosigkeit befreit auf neuer Stufenleiter zu schnurren hat, scheinen
kapitalistische Ökonomie und ihre Betriebsunfälle dazu da zu sein, und das hat
wirklich überrascht, im Komfortbereich der »postmateriellen Wähler«, die sich
eines wachsenden Sadismus beziehungsweise Metzgerismus befleißigen, die Grünen
als »rationale Universalisten« zum Blühen zu bringen. Die Zeitschleife des
Symptomgefummels durchbricht Wiesenthal nur zur Schmierung der nächsten Marktschleife.
Früher sprachen minder begabte Marxisten von den höheren Stufenleitern des kapitalistischen
Rasens, die je aus den Knochen der Ausgebeuteten geschnitzt worden waren. Da
sie allzu ungeduldig auf den finalen Fall der Profitraten setzten, hat man
ihnen gleich ihre ganze Wissenschaft wegdiskreditiert. Aber Vorsicht, Nachsicht,
Rücksicht (Klaus & Klaus), wenn der Sozialingenieur sich leichtfertig
seiner Werkzeuge entledigt, bevor ihr Einsatz überhaupt ansteht, kann er im
Havariefall ziemlich alt aussehen! Auch Wiesenthal weiß natürlich, dass von
weiteren Markträuschen kein Heil mehr für die Zivilgesellschaften kommen kann,
und beruhigt mit einem fast verborgen eingestreuten, wenige Anschläge ernsten,
arbeitsunabhängigen Einkommen, das nicht nur in der Schleife oder Schraube der
um die letzten hungrigen Märkte und Ressourcen konkurrierenden globalen
Kapitale eine höchst prekäre Angelegenheit ist, sondern bei entkoppelter
Parallelwelt und ihrer nur noch ideologischen Zurichtung durch Arbeitsmythos
und Leistungswahn und Ausbildung des Nachwuchses zu Konkurrenzkrüppeln auch
unkalkulierbare gesellschaftliche Kosten aufwirft, die mit dem Schweigen des
Gentlemans von jenseits des Zaunes übergangen werden, wie wir uns überhaupt
über die Abwesenheit natürlichen Lebens bei der Verabschiedung des Modells D
ein bisschen wundern müssen. Tatsächlich befindet sich Wiesenthal in dem, was
ich den »Christiansen-Kosmos« nennen möchte, wenn er auch feiner schnetzelt und
akademisch überbäckt. Es eilt aber ein bisschen, aus diesen Schleifen der
Systemimmanenz oder betäubenden Quasselstrippen-Netzen herauszufinden.
Um es am immer wieder totschlagartig und christbarmherzig
eingebrachten Generationenvermächtnis kurz irrlichternd aufrufen: Warum soll
der Nachwuchs nicht blechen? Er bekommt doch alles hingestellt. Und er wird
materiell so großzügig ausgestattet, sagt mir gerade das Münchner Institut für
Jugendforschung (also zumindest der postmateriellen Wähler – die andern müssen
ja vermehrt zum Sozialamt), dass die verzweifelten Hightech-Produzenten auf der
Suche nach Produktwundern, mit denen sie ihm das gute Bare wieder aus der
Tasche leiern und ihre Sackgassenökonomie fließen lassen können, unterdessen
wahrscheinlich am masturbationsfähigen Handy, das Live-Bilder tief aus dem
Innern überträgt, arbeiten. Selbst ein alles zerlegender Weltkrieg hat die
Großväter und Väter nicht daran gehindert, das Land bezugsfertig zu übergeben.
Alles ist da. Und kein Krieg in Sicht! Eine unlösbare Aufgabe für die
kapitalistischen Marktstrolche.
Aber eigentlich ist doch ein Menschheitstraum greifbar nahe:
Wir müssen nur noch (nach-)arbeiten, um zu leben. Die Produktivität hat einen Stand
erreicht, dass wir sogar die Zeit hätten – um einen Joke der famosen
»Glücklichen Arbeitslosen« anzuwenden –, uns die Ärsche wieder selbst abzuwischen
und keiner mehrfach entwürdigten Dienstleistungshopper bedürften (s. dazu auch
die ekelhaften Dienstbotinnenträume von Horx in Smart Capitalism. Das Ende
der Ausbeutung). Wir hätten das Potenzial, das vielleicht etwas biedere
Erbe ins Zeitgemäße zu verschönen. Wie dumm etwa die Eliten, gemessen an den
Fachkräften vom Curry-Corner sind, am Beispiel einer kleinen
Hans-Olaf-Henkel-Episode (weil auch Wiesenthal den Zwang zum
Bits-&-Bytes-gerechten Verhalten verspürt): Als Hans-Olaf sein wegweisendes
Buch Jetzt oder nie schrieb, vermerkte er eingangs voller Stolz auf sein
neues Laptop: »Die Texte wurden via Internet zwischen Köln und Konstanz hin-
und her geschickt ... War das Buch wieder einmal elektronisch unterwegs, konnte
ich an der Ost-West-Regatta teilnehmen oder auch mal im See baden.« Wenn es die
Kapitel mit der Post verschickt hätte, das Dummerle, hätte es noch viel länger
baden können! (Und niemand hätte das Elite-Buch je vermisst, wäre die Post
abhanden gekommen. Ein typisches Bits-&-Bytes-Phänomen.)
Aber das ist nur die Genussseite des Problems. Das
substanzlose und menschenferne Weiterrennen des Kapitalismus, sei es in
befreiten und geschmierten Schleifen, auf höheren Stufenleitern oder was auch
immer, verunmöglicht schon heute weitgehend jegliche freie Entscheidung der uns
angeblich so am Herzen liegenden, in den Generationsvertrag zu fesselnden Nachrückenden,
über ihre eigenen Lebenswünsche und Perspektiven. Je mehr den kapitalistischen
Marktkräften die Leine gelassen wird, desto fester wickelt sie sich um den Hals
der kommenden Generationen und unterwirft sie den von diesen bestimmten und
festgerammelten Sachzwängen. Wie viel Scheiße wollen wir also noch fressen?
Alle Reden, die sich um Reformstaus, Blockaden, Flexibilitäten, Lohnspreizungen
und -absenkungen, Lohnnebenkosten, Alterspyramiden (wie großartig und gnädig
ist doch Mutter Natur oder die Natur der Mütter, dass sie ihren Ausstoß nach
den Umwelt- und Reproduktionsbedingungen einzupegeln wissen) und und und
ranken, hängen schon in den Seilen des Christiansen-Kosmos. Wann, wie, wo
behandeln wir endlich die wieder gänzlich untergegangenen Fragen: Wie wollen,
wie können wir leben? Wie sind Prozesse so zu organisieren, dass sie aufkündbar
bleiben? Und können wir uns andere überhaupt noch gestatten? Warum sind gerade
jetzt, wo’s drauf ankäme, die Ideen vom »guten Leben« oder der
»Entschleunigung« in den Keller geräumt worden?
Es müssen die Fragen an die Zukunft also gerade umgekehrt
denn im um Wachstums- und Beitragsprozente herumkaspernden Christiansen-Kosmos
gestellt werden. Dann wird man auch sehen, wer etwas zur »Zukunftsfähigkeit«
beizutragen hat. Andernfalls empfiehlt es sich, der amerikanischen
(Kriegs-)Politik zur Globalisierung fugenlos beizutreten.