Ereignisse & Meinungen

 

Balduin Winter

 

Kriegsausläufer Darfur

 

Als »größte humanitäre Katastrophe der Welt« bezeichnete der Ex-UN-Sondergesandte für den Sudan, Gerhard Baum, in der Tagesschau am 11.5. die Lage in Darfur. Wenn die internationale Gemeinschaft nicht einschreite und der Sudan sich nicht besinne, werde das Land »auseinander knallen«.

Der Sudan, zehntgrößter Flächenstaat der Welt, hat in den letzten Monaten Schlagzeilen gemacht. In der Westprovinz Darfur herrscht ein blutiger Bürgerkrieg mit Tausenden Toten und Hunderttausenden Vertriebenen und Flüchtlingen. Für sudanesische Verhältnisse ist das nichts Neues, denn seit der Unabhängigkeit 1956 wütet in diesem Land – mit einer Unterbrechung zwischen 1972 und 1983 – der längste und opferreichste Krieg Afrikas mit zahlreichen Fronten. Schon 2002 bilanziert Randolph Martin, der jahrelang vor Ort lebte, in Foreign Affairs (3–4/2002): »Mit zwei Millionen Opfern bis heute hat dieser Krieg einen höheren Blutzoll gefordert als die Kriege in Angola, Bosnien Tschetschenien, Kosovo, Liberia, am persischen Golf, in Sierra Leone, Somalia und Ruanda zusammen. Eine erschreckende Zahl von rund vier Millionen Sudanesen – aus einer Bevölkerung von etwa 29 Millionen – ist heimatlos geworden.«

Über Darfur schreibt Michael Ling in Neues Deutschland (29.5.): »Die nördliche Hälfte der Region gehört zur Sahelzone und wird von Nomaden bewohnt, die von ihren Kamelherden leben. In den anderen Teilen finden sich sesshafte Bauern und Nomaden, die auf Rinderzucht setzen. Konflikte zwischen Viehzüchtern und Ackerbauern gehören zur Geschichte Darfurs. Während die meisten afrikanischen Ethnien Ackerbauern sind, handelt es sich bei den hellhäutigeren Arabern in der Regel um Nomaden. Fruchtbarer Boden und Wasser werden immer knapper. Zum einen, weil sich die Bevölkerung innerhalb der letzten zwanzig Jahre auf sechs Millionen verdoppelt hat, zum anderen, weil die Wüste jedes Jahr um sechs Kilometer weiter nach Süden vorrückt. Seit Mitte der Achtzigerjahre wurden die Konflikte immer wieder gewaltsam ausgetragen – Hunger und Dürreperioden waren keine Seltenheit. Mit der Machtübernahme von Omar al-Bashir 1989 verschärfte sich der Konflikt, weil der als islamistischer Hardliner angetretene al-Bashir die arabischen Ethnien bevorzugte.«

Hier wird ein wichtiger Kern des Konflikts angesprochen, das ökonomische Element. Der ethnische Charakter des Krieges ist freilich ungleich komplizierter. Im Sudan gibt es 132 Sprachen, also eine enorme Vielfalt, die ethnischen Gruppen teilen sich auf in 52 Prozent Schwarze, 39 Prozent Araber und fünf Prozent Beja, nach der Religion sind 70 Prozent sunnitische Muslime, 25 Prozent Animisten und fünf Prozent Christen. Historisch gesehen ist der Sudan kein gewachsenes Land, mit der Unabhängigkeit entstand hier ein Patchwork-Staat, und jeder Diktator in Khartum, der zugleich Kriegsherr war und ist, bildete seine Allianzen je nach der Gunst der Stunde und nach taktischem Geschick. Und jeder dachte ausschließlich in den Kategorien der optimalen Machtausübung inklusive physischer Auslöschung des Gegners, wie die Opferzahlen der Kriege beweisen.

 

Darfur bewegt sich da noch in den unteren Bereichen. NGOs und Hilfsorganisationen erhoben wiederholt Anschuldigungen wie »Genozid« und »ethnische Säuberungen«. Doch Sudans Führer sind Größeres gewöhnt. Mit Genozid-Vorwürfen weiß man umzugehen. Vizepräsident Ali Osman Taha und Außenminister Mostafa Osman Ismail erklärten auf einer Versammlung von ägyptischen und sudanesischen Intellektuellen in Cairo, »der Konflikt in Sudans West-Darfur sei durch die internationale Gemeinschaft und insbesondere durch den Westen ›fabriziert‹ worden. Es seien die gleichen Beteiligten, die schon Dekaden zuvor den Krieg in Südsudan verursacht haben, die nun für den Konflikt in Darfur verantwortlich sind« (Arab News, Cairo, 11.6.). Auf der Pressekonferenz mit dem ägyptischen Amtskollegen Ahmed Maher wies der sudanesische Außenminister alle auf dem G-8-Gipfel erhobenen Anschuldigungen zurück, bezeichnete die Medienberichte als »ungerechtfertigt«, räumte zwar ein, dass es Probleme in Darfur gäbe, und warf NGOs und kirchlichen Gruppen vor, gemeinsame Sache mit den Untergrundbewegungen in Darfur und im Süden zu machen. Auch UN-Generalsekretär Kofi Annan erklärte am 17. Juni, »die Berichte erlauben mir zu diesem Zeitpunkt nicht, von Genozid zu sprechen« (Le Monde, 30.6.).

Unterstützung fand die sudanesische Führung beim jüngsten Gipfel der Afrikanischen Union (AU), der ebenfalls die Klassifikation der Massaker als Genozid vermied, was von Beobachtern als »diplomatischer Sieg der sudanesischen Regierung« gewertet wird (Le Monde, 9.7.). Natürlich findet auch die Arabische Liga kein Wort der Verurteilung, wie auch Vertreter arabischer Länder in der UN-Menschenrechtskommission (z. B. Syrien) jede schärfere Resolution torpedieren.

Vom ehemaligen Premierminister Sadiq al-Mahdi von der oppositionellen Umma-Partei hingegen ist zu hören, dass al-Bashir »eine Politik der verbrannten Erde in Darfur« betreibt, ein Vorwurf, den auch Colin Powell erhoben hat. Diese Politik, so al-Mahdi, sei »gekennzeichnet durch grobe Verletzungen der Menschenrechte und internationalen Rechts«; er bezeichnet die Massaker der arabischen Janjaweed-Milizen als Kriegsverbrechen, die angestiftet und unterstützt worden seien durch die Regierung. Diese habe Öl in die ethnischen Spannungen gegossen, verschiedene Gruppen gegeneinander ausgespielt, mit »zügelloser Korruption und Nepotismus« die arabische Minderheit protegiert und die »Sozialstruktur zerrissen« (Al-Ahram, 28.6.). Der Anführer dieser Milizen, Musa Hilal, spricht in einem Interview selbst offen von der Zusammenarbeit mit der Regierung, die diese stets leugnet (woz, 24.6.).

Al-Mahdi stellt noch einen größeren Zusammenhang her: »Die sudanesische Regierung glaubte, dass sie mit den Friedensgesprächen in Kenia ihr Gesicht verlieren würde.« Wenn schon Frieden im Süden, und damit Teilung der Macht mit der Südsudanesischen Befreiungsbewegung (SPLA), so wollte sich die Regierung die Widerstandsbewegung in Darfur, die SPLA, unterwerfen, zumal ein Teil davon, die JEM, der Opposition nahe steht. Die islamistische Regierungspartei Nationale Islamische Front (NIF) hatte sich in den Achtzigerjahren in den al-Turabi- (PCP) und den al-Bashir-Flügel gespalten. Al-Bashir muss fürchten, so al-Mahdi, dass sich der nunmehr oppositionelle al-Turabi in Darfur eine Machtbasis schafft; er versuchte, dem mit Gewalt zu begegnen, verkalkulierte sich jedoch in Bezug auf die Reaktionen des Westens, den er mit dem Friedensabkommen von Naivasha (Kenia) ruhig gestellt zu haben glaubte (Al-Ahram, 28.6.).

 

Nun hat sich die Welt nie allzu viel um den Sudan gekümmert. Über weite Strecken war er ein sehr armer und international isolierter Staat, umgeben von Staaten, die ebenfalls von inneren Konflikten erschüttert waren oder noch sind: Libyen, Äthiopien, Eritrea, Uganda, Kongo, Zentralafrikanische Republik, Tschad. Lediglich die Nachbarn Ägypten und Kenia kann man als gefestigtere Staaten bezeichnen.

Brisant wurde der Nord-Süd-Krieg durch die Entdeckung reicher Erdölvorkommen im Süden bei Bentiu in der Provinz Western Upper Nile im Jahre 1978. Damit kam erstmals, so Randolph Martin, in größerem Umfang ausländisches Kapital in den Sudan, repräsentiert durch Agip (Italien), TotalFinaElf (Frankreich/Belgien), Lundin Oil (Schweden/Schweiz), OMV (Österreich) und BP (Großbritannien). Eine Pipeline quer durchs Land nach Port Sudan wurde gebaut, 1999 die Förderung aufgenommen. Die Erdölregion war die am härtesten umkämpfte, ging es doch für beide Seiten um die Einnahmen, mit denen jeder den Krieg für sich zu entscheiden hoffte. Ein erstes Friedensabkommen mit genauer Quotierung und Aufteilung der Ämter von April 1997 blieb folgenlos. Absoluter Tiefpunkt war die Ächtung des Landes als Unterstützer des islamistischen Terrorismus, wobei sich allerdings die US-Strafaktion gegen die zivile Shifa-Pharmafabrik nach dem Terroranschlag gegen die US-Botschaft in Nairobi als Willkürakt erwies. In der Folge fuhr die Regierung al-Bashir einen flexibleren internationalen Kurs und führte auch innenpolitisch ein paar Lockerungen in Gestalt von Good-Governance-Maßnahmen durch. Gegenüber den USA war sie um Tauwetter bemüht und trat, zumindest formal, 2001 der Anti-Terror-Koalition bei. Mit den Nachbarn wurden sukzessive diplomatische Beziehungen intensiviert, 2000 wurden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen abgehalten, von der Opposition boykottiert, von der Arabischen Liga als »frei, fair, friedlich und ruhig« bezeichnet, von Capital als »demokratische Öffnung« (28.6.01) gepriesen. In einem Teil der Wahlkreise konnten, so das Auswärtige Amt in seinem Länderbericht, überhaupt keine Wahlen durchgeführt werden.

 

Nie hat es in den vergangenen Jahrzehnten so viele diplomatische Aktivitäten gegeben wie derzeit um Darfur. Kurz hintereinander statteten US-Außenminister Colin Powell und UN-Generalsekretär Kofi Annan Besuche ab, telefonierte Bush mit al-Bashir und dem Führer der südlichen Rebellenfront, John Garang, gaben verschiedene internationale Organisationen, NATO, EU und zahlreiche führende Politiker Erklärungen ab. Das liegt nicht einfach daran, dass nach Ruanda die Sensibilität höher geworden wäre, sondern vor allem daran, dass sich die politische Lage in der Welt deutlich verändert hat. Die USA haben seit dem Ende des kalten Krieges neue Zeichen in ihrer Afrikapolitik gesetzt. »Eine Partnerschaft für das 21. Jahrhundert« war das Motto der US-amerikanisch-afrikanischen Ministerkonferenz in Washington im März 1999. Die US-Administration hat seither eine Reihe regionaler Initiativen gesetzt und einige politische Prozesse angeregt (siehe dazu: »Deadly Legacy: U.S. Arms to Africa and the Congo War« by William D. Hartung and Bridget Moix, http://www.worldpolicy.org/projects/arms/reports/congo.htm).

Im Sudan unterstützte sie die Widerstandsbewegungen des Südens und stand bei den Friedensverhandlungen im Hintergrund. 2002 schickte sie Sonderbotschafter John Danforth, der auch von den UN autorisiert wurde. Im Mai 2004 kam es zu einer vorläufigen Vereinbarung zwischen dem Präsidenten al-Bashir und dem SPLA-Führer John Garang. Darin wurde die Aufteilung der Öleinkommen festgelegt, Gebietseinteilungen für ein autonomes Südsudan vereinbart, das in sechs Jahren ein Referendum für seine Unabhängigkeit abhalten soll (Washington Post, 24.6.). Auch die US-Medien haben diesem »failed state« erstaunlich viel Aufmerksamkeit gewidmet.

Es mag sein, wie manche Kommentatoren feststellen, dass die USA in ihrer Sudan-Politik den Konflikt in Darfur falsch eingeschätzt haben. Tatsächlich haben sie in dieser Region Politik gemacht und einige Dinge weitergebracht. In Darfur hätte das Morden so selbstverständlich und unbeachtet weitergehen können wie jahrzehntelang zuvor im Süden oder gegen die Nuba im Norden. Und vielleicht kann es in Darfur auf diese Weise weitergehen, wie es Arne Perras im Leitartikel der SZ am 28.6. skizziert: »Erstens darf das Regime in Khartum, das die Hauptschuld trägt an der Tragödie, nicht mehr den Eindruck gewinnen, der Rest der Welt interessiere sich nicht für die Opfer. Das Gewicht der Supermacht USA kann im Sudan, der nach internationaler Anerkennung strebt, große Wirkung zeigen. Gleichzeitig aber müsste der UN-Sicherheitsrat Darfur wieder auf die Tagesordnung setzen und statt vager Erklärungen endlich eine Resolution verabschieden, die Khartum auffordert, seine brutale Vertreibungspolitik aufzugeben und die Milizen zu entwaffnen – unter Androhung scharfer Sanktionen. Khartum fürchtet die Isolation, und die Generäle werden Nutzen und Kosten ihres Krieges sehr genau abwägen. Wenn es gelingt, ins sudanesische Ölgeschäft involvierte Staaten – China, Russland, Indien, aber auch Frankreich – auf eine schärfere Gangart gegen Khartum einzuschwören, wäre dies ein Schritt nach vorne.

Zweitens muss die Weltgemeinschaft den Hilfsorganisationen genügend Geld geben, um eine Hilfsoperation vorzubereiten, wie es sie seit der Katastrophe in Ruanda vermutlich nicht mehr gegeben hat. Die Arbeit in der Wüste ist mühsam, zermürbend und teuer. Für eine Hand voll Dollar wird sie nicht zu haben sein.

Und drittens gilt es, ... den Krieg politisch zu entschärfen. Dazu braucht man keine riesige Blauhelmtruppe, sondern politischen Einsatz. Die Amerikaner müssen die Regierung in Khartum und die Darfur-Rebellen an einen Tisch zwingen, und zwar sofort. Die ethnische Vertreibung im Sudan hat Züge eines Völkermords. François Mitterrand wurde einmal mit dem Satz zitiert, dass ein Genozid in Afrika ›nicht so wichtig‹ sei. Damals ging es um Ruanda. Die Welt könnte beweisen, dass das zynische Wort zumindest zehn Jahre später keine Geltung mehr hat.«