Michael Opielka
Die Qualität der Quantität
Für eine
»starke« Bürgerversicherung
Die »Bürgerversicherung« ist in vieler
Munde, wird aber durchaus verschieden interpretiert und mit unterschiedlichen
Intentionen belegt. Unser Autor stellt diese vor und entwickelt danach einen
eigenen, umfassenderen Ansatz für eine Bürgerversicherung vor. In seinem
Konzept gibt es neben der Säule für Gesundheit und Pflege eine zweite Säule
Grundeinkommensversicherung. In dieser Kombination wären die Kosten geringer
und die sozialen Sicherungen stärker.
Bürgerversicherung mit und ohne »Kopfpauschale«
Während die einen (SPD, Grüne, PDS) für eine
einkommensbezogene Bürgerversicherung eintreten, die sich weitgehend an der
Praxis in Österreich orientiert, plädiert die CDU für eine »Kopfpauschale«, die
ihr Vorbild in der Schweiz hat. Hier ist gleich eine Einschränkung nötig. Denn
sowohl die Befürworter der einkommensbezogenen wie der pauschalen Beitragszahlung
sind sich nicht einig, ob sie – zumindest sofort – alle Bürger einbeziehen
sollen oder ob Beamte und weitere Privatversicherte wie bisher in
Sondersystemen verbleiben. Im CDU-Vorschlag soll die Kopfpauschale »zunächst«
nur für die Mitglieder der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gelten,
Privatversicherte sollen außen vor bleiben.(1) Damit wäre der CDU-Vorschlag nur
ein anderes Finanzierungsmodell für die GKV und keine Bürgerversicherung. Es
spricht aber viel dafür, dass auch die Kopfpauschale faktisch auf eine
Bürgerversicherung hinausläuft: Weil in den bisherigen deutschen Vorschlägen
(wie in der Schweizer Realität) die Umverteilungsleistungen (Prämiensubvention,
Übernahme der Beiträge für Kinder) weitgehend in das Steuersystem verlagert
werden, dürfte sich ein Rutschbahneffekt auch für die Privatversicherten
ergeben.
Gemeinsam ist beiden Grundmodellen, dass alle Bürger (oder
besser: alle Einwohner, also auch in Deutschland dauerhaft lebende Ausländer)
zu gleichen Bedingungen einbezogen werden sollen. Das ist der entscheidende
Unterschied zum bismarckschen Modell, das im internationalen Vergleich als
»konservativ« gilt, weil es sich am Berufsstatus orientiert und nach gut 120
Jahren versäult, ineffizient und wenig gerecht dasteht. Gemeinsam ist ihnen
auch, dass die Krankenversicherung teils mehr, teils weniger vom Lohnarbeitsverhältnis
entkoppelt wird. Aus Lohnnebenkosten werden faktisch Sozialsteuern. Was beide
Modelle trennt, ist die »sozialpolitische«, manche sagen auch: die solidarische
Seite. Während in der einkommensbezogenen Bürgerversicherung die Beiträge von
der Leistungsfähigkeit der Versicherten abhängen, werden bei der Kopfpauschale
Arme und Reiche über einen Kamm geschoren. Der soziale Ausgleich soll hier über
das Steuersystem hergestellt werden, das die Kopfpauschalen subventioniert.
Beide Modelle sind problematisch.
Die einkommensbezogene Bürgerversicherung, wie sie bislang
diskutiert wird, ändert ökonomisch gegenüber heute wenig. Im Modell der Grünen
würde etwa der durchschnittliche Beitragssatz nur von 14,1 Prozent (2004) auf
12,7 Prozent sinken. Dabei wäre der Aufwand groß: Alle Einkommensarten sollen
einbezogen werden, was komplizierte Abstimmungen mit den Finanzämtern
erfordert, und die bisher Privatversicherten (Beamte, Selbstständige,
Gutverdiener) sollen in die gesetzlichen Kassen, was politisch nicht ohne
erhebliche Kompromisse möglich sein wird, wenn überhaupt. Vor allem soll nach
den bisherigen grünen (und SPD-)Vorstellungen die aktuelle
Beitragsbemessungsgrenze (3.487 €, 2004) nicht verändert werden. Dass sich
daraus Probleme ergeben, macht auch die Bürgerversicherungs-Diskussion in der
SPD deutlich. Dort überlegt man komplizierte Beitragsabstufungen und
Freibeträge für Kapital- und Mieteinkünfte. Die Einbeziehung sämtlicher
Einkommen ohne An- oder Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze würde ansonsten
die mittleren Einkommensgruppen deutlich stärker belasten als heute. Positiv zu
werten ist gleichwohl, dass die einkommensbezogene Bürgerversicherung auch in
der bisher diskutierten »schwachen« Variante einen Einstieg in eine
universalistische Krankenversicherung bedeutet, die nicht mehr vom sozialen
Status abhängt.
Gegen das Modell der Kopfpauschalen wiederum spricht unter
anderem, dass die Finanzierung der unverzichtbaren Prämiensubvention aus
Steuermitteln ein Dauerproblem werden dürfte. Denn alle derzeit diskutierten
Steuerreformkonzepte schlagen eher einen Subventionsabbau vor. Auch die
Schweizer Erfahrungen stimmen skeptisch. Fast alle Kantone haben zuletzt an den
»Prämienverbilligungen« gespart. Die Befürworter einer Kopfpauschale basteln
deshalb an neuen Varianten, wie dem Modell einer »sozialen Gesundheitsprämie«,
bei dem die Prämiensubventionen direkt aus dem Aufkommen der Kopfpauschale
finanziert werden sollen (was diese entsprechend erhöhen würde). Bert Rürup und
der Vorsitzende des Sachverständigenrats der Konzertierten Aktion im
Gesundheitswesen, Eberhard Wille, schlagen zur Prämiensubvention einen
Einkommenszuschlag auf die Kopfpauschalen vor, wobei Rürup einen »Gesundheits-Soli«
von 3 bis 5 Prozent der Steuerschuld bevorzugt.(2) Die CSU überlegt einen Stufentarif
mit zehn Beitragsklassen von 50 bis 500 Euro im Monat.(3) Solche Kompromisse
weisen in die richtige Richtung. Aber sie sind zu zaghaft. Die politische Bereitschaft
zu einer Neuorientierung des deutschen Sozialstaats sollte für eine Reform
genutzt werden, die ihn zukunftssicherer macht.
Eine »starke« Bürgerversicherung: die erste Säule für
Gesundheit und Pflege
Eine zukunftssichere Bürgerversicherung muss die
Leistungsfähigkeit der Bürger berücksichtigen, die Finanzierung vom
Arbeitsverhältnis entkoppeln, Anreize zur Eigenvorsorge bieten und auch bei der
absehbaren Alterung der Bevölkerung nachhaltig finanzierbar sein. Eine
intelligente Mischung der österreichischen und Schweizer Erfahrungen (plus der
Lehren aus anderen Gesundheitssystemen) legt folgende drei Elemente nahe:
Erstens eine Allgemeine Krankenversicherung (AKV) mit
einem Beitragssatz von nur noch etwa 7,5 Prozent auf alle Primäreinkommen, aber
(wie die Schweizer Rentenversicherung AHV) ohne Beitragsbemessungsgrenze und
mit einem Mindestbeitrag in Höhe von 86 Euro für alle Erwachsenen (dem
derzeitigen Mindestbeitrag für freiwillig Versicherte in der GKV). Kinder
sollten beitragsfrei sein. Der Beitragseinzug erfolgt über die Finanzämter, die
Krankenversicherungen können (wie in der Schweiz) privat organisiert sein,
öffentlich-rechtlich oder gemeinnützig. Ein wirksamer Risikostrukturausgleich
und eine Selbstverwaltung allein durch die Versicherten gehören dazu, da die
paritätische Finanzierung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer, ohnehin ein
Anachronismus, bei einer Bürgerversicherung praktisch entfällt.(4)
Wie kommt der gegenüber heute extrem niedrige Beitragssatz
von 7,5 Prozent zustande? Empirische Hinweise darauf finden sich zunächst in
einem von den Grünen in Auftrag gegebenen Gutachten(5): Gegenüber dem heutigen
Durchschnittsbeitrag von 14,1 Prozent sinkt der Beitrag um 0,8 Prozent durch
die Einbeziehung aller Einkommensarten, sowie um 0,6 Prozent durch die
Einbeziehung aller Bürger, um weitere 2 Prozent durch die Aufhebung der
Beitragsbemessungsgrenze, weitere 0,5 Prozent durch ein negatives
Ehegattensplitting(6), um etwa 2 Prozent durch die Einführung des
Mindestbeitrages für Erwachsene(7) und schließlich noch um etwa 0,7 Prozent
durch die Ausgliederung des Krankengeldes, wie sie (weiter unten) im Modell
einer Grundeinkommensversicherung vorgeschlagen wird. Man könnte einwenden,
dass die Addition dieser Einsparungen – die jenes Gutachten nicht vornimmt –
nicht einfach möglich ist und neue Berechnungen erforderlich wären.(8) Die Schätzung
von 7,5 Prozent Beitrag kommt gleichwohl auch auf anderem Weg zustande, wenn
als Bezugsgröße der Beitragsbemessung das Primäreinkommen der privaten Haushalte
(»Volkseinkommen«) der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung von 1572 Milliarden
Euro im Jahr 2003 (9) zugrunde gelegt wird: Um mit 135 Milliarden Euro den
Betrag der Sachleistungsausgaben bei einer Einbeziehung von 10,6 Millionen (zumeist)
privat Versicherten zu den 71,6 Millionen bisher GKV-Versicherten in die
Bürgerversicherung(10) zu erzielen, wäre ein Beitrag von 8,5 Prozent
erforderlich, mit Einführung des Mindestbeitrages dürfte ein Satz von 7,5
Prozent erreichbar sein.
Eine konsequente Bürgerversicherung würde faktisch die
Beiträge für das Gesundheitssystem in Richtung einer »Sozialsteuer« entwickeln.
Steuern kennen in der Regel keine Obergrenze. Der Unterschied zur
Einkommenssteuer liegt bei der Allgemeinen Krankenversicherung im
Mindestbeitrag und im proportionalen, also nicht progressiven Beitragssatz.
Deshalb ist ein »Bürgerbeitrag« etwas völlig anderes und vor allem weitaus
ergiebiger als ein Aufschlag auf die Lohn- und Einkommenssteuer.(11) In der
auch in der Bürgerversicherungsdiskussion strittigen Frage, ob Umverteilungsaufgaben
auf das Steuersystem beschränkt bleiben sollen, weil sie angeblich nicht in die
Sozialversicherungen gehörten, nimmt das hier vorgestellte Konzept des Bürgerbeitrags
als eine Art Sozialsteuer eine vermittelnde Position ein.
Die Beitragserhebung wäre zentral, am besten durch die
Finanzbehörden sicherzustellen. Damit wäre denkbar, dass ganz unterschiedliche
Rechtsträger – also auch private Krankenversicherungen (PKV) – für die Leistungsverwaltung
der Allgemeinen Krankenversicherung zuständig sind. Die Versicherten
optieren für einen der Träger, der einen Pauschalbetrag pro Versicherten erhält,
worin zugleich der Risikostrukturausgleich berücksichtigt wird.(12) Die
Versicherungsträger können sich durch spezifische Leistungen oder
Beitragserstattungen (beispielsweise bei Selbstbehalten oder der Beteiligung an
Präventionsprogrammen) unterscheiden. Ein solches Modell würde das
wettbewerbliche Moment der Kopfpauschalen, vor allem eine (entsprechend der
Schweizer Praxis) mögliche Anbieterrolle der PKV, mit dem Solidarmoment der
einkommensbezogenen Beiträge verknüpfen und dies auf einem gegenüber heute
deutlich geringeren Beitragsniveau. Zudem wäre die Beitragshöhe rechtlich und
politisch völlig vom Arbeitslohn entkoppelt. Der AKV-Beitrag gehört nicht mehr
zu den Lohnnebenkosten.
Überfällig ist zweitens eine Professionalisierung
des Gesundheitswesens statt seiner schlichten Vermarktlichung, wie sie von
einigen Interessengruppen gefordert wird. Weder trägt nämlich die Ausweitung
marktlicher Steuerung automatisch zur Kostensenkung bei (aufgrund von
monopolartiger Anbietersteuerung, Informationsbeschränkung der Nachfrager
usf.), noch erhöht sich die Leistungsqualität. Für das erste Problem werden
beispielsweise Positivlisten, für das zweite verbindliche Verfahren der
Qualitätskontrolle vorgeschlagen. Beide Elemente fehlten im
GKV-Modernisierungsgesetz von 2003. Kostensenkungen von 10 bis 20 Prozent gegenüber
den heutigen Ausgaben sind möglich, wenn die (tatsächlich selbst verwalteten)
Krankenversicherungen und die Leistungserbringer nicht nach versäulten
Interessen, sondern nach dem wirklich Erforderlichen entscheiden können. Die
AKVs werden Modelle einer integrierten Versorgung anbieten (einschließlich so
genannter Health Maintenance Organisations/HMO, die sich bereits in der Schweiz
bewähren), die Wahlmöglichkeiten der Versicherten werden im jeweiligen
Abrechnungszeitraum etwas eingeschränkt, doch Qualität und Prävention werden
verbessert. Hier kann Deutschland von den Erfahrungen beispielsweise im
steuerfinanzierten Gesundheitswesen Dänemarks oder auch der Bürgerversicherung
in Österreich einiges lernen. Die Qualität der Gesundheitsversorgung hängt vom
Professionalisierungsniveau der Beteiligten ab. Dabei ist aber ein breites
Professionalisierungs- und Professionskonzept notwendig, das die
eigentherapeutischen Kompetenzen der Menschen (Selbsthilfe usf.) genauso
berücksichtigt wie sachgerechte Organisationsformen, die sich nicht an
Privilegien, sondern am »Kunden« orientieren. Eine Professionalisierung des
Gesundheitswesens bietet einen Ausweg aus der »Gesundheitsfalle«(13) und
durchaus eine »Gesundheitsrevolution«.(14)
Derzeit beträgt der Pflegeversicherungsbeitrag mit 1,7
Prozent etwa 12 Prozent des durchschnittlichen GKV-Beitrages von 14,1 Prozent.
Würden die Kosten des Gesundheitswesens durch den Professionalisierungsschub um
10 bis 20 Prozent sinken, so könnten die jetzigen Leistungen der
Pflegeversicherung von der AKV übernommen werden. Damit würde sich der
Bürgerbeitrag für den gesamten Bereich des Gesundheits- und
Pflegesektors auf 7,5 Prozent des je verfügbaren Primäreinkommens der privaten
Haushalte begrenzen. Manche werden einwenden, dass der Beitrag infolge neuer
Leistungsangebote des Gesundheitswesens oder der Alterung der Bevölkerung künftig
erhöht werden müsste. Dies gilt für andere Finanzierungsformen allerdings
gleichermaßen. Ein weiterer Einwand könnte lauten, dass eine solch universalistische,
alle Bürger einschließende Krankenversicherung – ähnlich wie im
steuerfinanzierten Gesundheitswesen Großbritanniens (National Health Service) –
zu einer Basisversorgung verkümmere und sich schließlich doch zu einer
Zwei-Klassen-Medizin entwickele.(15) Dagegen bleibt nur ein gewisses Vertrauen
in die Demokratie und in die Transparenz des neuen Finanzierungssystems, vor
allem aber in die zentrale Werte-Botschaft der hier skizzierten Krankenversicherung:
dass nämliche alle Bürger ein Recht auf die bestmögliche Versorgung haben, weil
sie nach besten Kräften zur Finanzierung beitragen.
Die Grundeinkommensversicherung als zweite Säule
Drittens gehört zum Schritt von Bismarck zum Bürger auch eine
Gesamtreform der Einkommensleistungen. Hierfür wurde jüngst das Modell einer Grundeinkommensversicherung
(GEV) vorgeschlagen(16), das sämtliche Geldleistungen des
deutschen Sozialstaats – angelehnt an das Modell der Schweizer AHV – in einem
System vereinigt: Renten (ab 67(17)), Arbeitslosengeld, Kindergeld,
Erziehungsgeld, Krankengeld, Ausbildungsgeld und statt Sozialhilfe oder dem
künftigen »Arbeitslosengeld II« die erwerbsunabhängige, aber einkommensbezogene
Garantie einer Grundsicherung in Form eines »Bafög für alle«, das heißt,
erwerbsfähige, aber nicht vermittlungsbereite Grundeinkommensbezieher erhalten
50 Prozent des Grundeinkommens als Darlehen. Dieser Darlehensanteil entfällt
bei gemeinnütziger Arbeit in angemessenem Umfang. Die
Grundeinkommensversicherung beinhaltet damit zwei Formen des Grundeinkommens:
Wer »im System« ist, erwerbstätig ist oder Kinder erzieht und sich am
Arbeitsmarkt orientiert, der hat Anspruch auf das Grundeinkommen ohne
Anrechnung sonstiger Einkommen und Unterhaltsansprüche. Wer sich dem Arbeitsmarkt
nicht zur Verfügung stellt, wird behandelt wie heute Studenten. Dennoch ist die
Botschaft eine andere als heute oder bei dem ab 2005 geltenden »Arbeitslosengeld
II« (»Hartz IV«). Es ist eine Botschaft der Wahlfreiheit, keine der Arbeitsverpflichtung.
Die Zielrichtung ist ein unbedingtes existenzsicherndes Grundeinkommen, ohne Darlehensanteil
und ganz vom Arbeitsmarkt entkoppelt, als reines Bürgerrecht.
Mit Ausnahme der (pauschalierten) Grundsicherung sind in
einer Grundeinkommensversicherung alle Leistungen nach unten und oben
gedeckelt: die existenzsichernde Mindestleistung liegt auf der Höhe des
Grundeinkommensniveaus (Grundsicherung), die Höchstleistung beträgt 200 Prozent
davon. Letztere erhält man, wenn man etwa das Fünffache dessen an Beiträgen
bezahlt hat, die für die Grundsicherung genügen. In der GEV werden also die
geringen Beitragsleistungen angehoben, die hohen abgesenkt. Damit entsteht ein
Korridor begrenzter Äquivalenz von Beitrag und Leistung. Diesen Volks- oder
Bürgerversicherungs-Sozialismus schätzen die Schweizer Bürger seit mehreren
Jahrzehnten an ihrer Rentenversicherung AHV.(18) Deren Grundstruktur wurde in
mittlerweile elf Volksabstimmungen bestätigt – aber natürlich auch, weil der
Sozialismus nicht zu weit geht und sich beispielsweise in der Schweizer
Rentenversicherung auf einen Beitrag von 10,1 Prozent beschränkt – deutlich
weniger als die 19,5 Prozent (2004) der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV)
in Deutschland.
Für die Grundeinkommensversicherung – die praktisch
sämtliche Geldleistungen des deutschen Sozialstaats umfasst – wäre ein Beitrag
von etwa 17,5 Prozent auf alle Primäreinkommen der privaten Haushalte nötig
(bei einem Mindestbeitrag von ca. 40 bis 50 Euro pro Monat) – im Gegenzug
könnte zumindest rechnerisch die Lohn- und Einkommenssteuer abgeschafft werden,
da die heutigen sozialpolitischen Geldleistungen der Gebietskörperschaften so
hoch sind wie ihr gesamtes Aufkommen.
Am Ende zahlen alle Bürger einen Beitrag von etwa 25 Prozent
für den Sozialstaat, für alle großen Risiken und für den sozialen Ausgleich –
7,5 Prozent für die Allgemeine Krankenversicherung (einschließlich
Pflegerisiko) plus 17,5 Prozent für die Grundeinkommensversicherung. Das wäre
eine Bürgerversicherung strong. Vermutlich muss die Einkommenssteuer in
gewissem Umfang bleiben, sei es, um endlich keine neuen Staatsschulden
aufzunehmen und die alten abzuzahlen, oder weil ihre Progression Verteilungsvorteile
mit sich bringt. Aber ihre Sätze könnten sehr viel geringer sein. Eine
Maximalsteuer von 15 – oder notfalls auch 25 – Prozent wäre denkbar. Das ist
deutlich weniger, als die Modelle von Friedrich Merz, Paul Kirchhof oder der
FDP planen und macht das Nachdenken über eine »duale Einkommenssteuer«, also
geringere Steuersätze für Kapitaleinkommen, überflüssig.(19)
Zusammen mit den Bürgerversicherungen für Krankheit und
Einkommen hätte niemand mehr als 40 Prozent (oder 50 Prozent) Belastungen auf
sein Einkommen, was genügend Spielraum lässt für private Vorsorge. Ob diese
durch den Staatshaushalt gefördert werden soll (wie die »Riester-Rente« in
Deutschland) oder gar obligatorisch ist (wie die betriebliche Altersrente in
der Schweiz oder in den Niederlanden), kann offen bleiben. Liberale Stimmen
würden dem Bürger diese Entscheidung nicht abnehmen, ein sozial- oder
christdemokratischer Paternalismus wiederum befürchtet, dass der Bürger dann
für sein Alter nicht genug vorsorgt. Wenn die Bürgerversicherung auskömmlich
ist, jedem Bürger den Zugang zu den sozial notwendigen Gesundheits- und
Pflegeleistungen sowie ein Grundeinkommen garantiert, das sich bei
entsprechender Beitragsleistung bis zum Doppelten erhöht, dann können bescheidene
Bürger, die in funktionierenden Familienverbänden leben oder anderweitig auf
Freunde und Dritte vertrauen können, auch ohne zusätzliche monetäre Vorsorge
auskommen – oder einfach für Notfälle und das Alter sparen. Das sollte man
ihnen nicht verwehren.
Wishful
thinking oder thinkful wishing?
Entscheiden über eine
Bürgerversicherung sollten am Ende aber die Bürger, wie in der Schweiz: Die
Einführung von Plebisziten auf Bundesebene wäre für diese Reform das
Richtige. Davor würde über die Qualität der Quantität diskutiert, in aller Öffentlichkeit.
Die Eliten müssten deutlich machen, was sie mit ihren Reformvorschlägen wollen.
Eine starke Bürgerversicherung würde dabei gut abschneiden. Könnte sie auch auf
dem parlamentarischen Weg realisiert werden, unterstützt durch ein Votum bei
der Bundestagswahl 2006? Hier sind Zweifel erlaubt. Die derzeitige Debatte
(2004) wogt zwischen dem grün-roten Modell einer Kranken-Bürgerversicherung,
die bislang keine Lösung für die privaten Krankenkassen, nur unbeträchtliche
Beitragssenkungen und zugleich einen ungemeinen Aufwand verspricht, und auf der
anderen Seite einer Koalition von Kopfpauschalenbefürwortern, die von dem
Sozialdemokraten Rürup bis zur CDU reicht und deren Annahmen über die
dauerhafte Finanzierbarkeit der Prämiensubventionen heroisch erscheinen. Man
muss befürchten, dass die deutschen Eliten, ohnedies durch den neoliberalen Diskurs
des Ökonomen-Mainstream mental irritiert, am Ende pragmatisch irgendeine Reform
beschließen, die letztlich keiner wirklich wollte. Über die Irrationalität des
Sozialstaats klagen ist leicht, die Bürger in einer Demokratie ernst nehmen,
ist hilfreicher. Eine Bürgerversicherung, die von den Bürgern per
Volksabstimmung selbst auf den Weg gebracht wurde, wird ihren Namen verdienen.
Am 9. Juli 2004, dem Tag der Verabschiedung von »Hartz
IV«, wurde im Wissenschaftszentrum Berlin das deutsche »Netzwerk Grundeinkommen«
gegründet. Unser Autor, sozialpolitischer Berater der Grünen, ist einer der
fünf Sprecher (neben Birgit Zenker/Vors. Kath. Arbeitnehmerbewegung, Ronald
Blaschke/Arbeitslosenverband, Wolfram Otto/BAG Soziahilfeinitiativen und Katja
Kipping/stv. Vors. PDS): – www.grundeinkommen.de
1
So heißt es im Beschluss des 17.
Parteitags der CDU »Deutschland fair ändern«: »Die CDU lehnt eine
›Bürgerversicherung‹ ab, die alle Bürger in eine gesetzliche
Pflichtversicherung, sei es mit einkommensabhängigen Beiträgen oder Prämien,
zwingt« (S. 23), doch zugleich: »Die CDU tritt dafür ein, dass die heute in der
gesetzlichen Krankversicherung Versicherten zunächst dort versichert bleiben« –
was aber soll das Wort »zunächst« anders bedeuten, als dass eine Universalisierung
auf alle Bürger nicht zumindest erwogen wird?
2
Vgl. Der Spiegel, Heft 29/04, lt. Spiegel-Online
v. 10.7.04. Die Kopfpauschale solle demnach 170 Euro im Monat betragen und –
wie in der Schweiz – auch für Kinder fällig sein. Rürup schlägt hier 75 Euro
monatlich vor, die aus einer steuerfinanzierten »Familienkasse« bezahlt werden
sollen. Das Finanzierungs-Konzept besteht somit aus einer stärkeren Belastung
der Gesamtbevölkerung – also auch der Privatversicherten – via
Steuerfinanzierung.
3
Vgl. Der Spiegel, Heft 26/04, S. 17.
4
Eine Gruppe grüner Funktionsträger hat in einem
ausführlichen Papier – Stephan Schilling u. a.: »Solidarisch – Gerecht –
Leistungsfähig – Nachhaltig. 10 Punkte für eine Grüne BürgerInnenversicherung«,
in: FR, 25.6.04 (Dokumentation) – begründet, warum sie an der
paritätischen Finanzierung und Selbstverwaltung der Krankenversicherung
festhalten wolle: die Arbeitgeber seien dadurch an der Ausgabenentwicklung des
Gesundheitswesens beteiligt und hätten »weiterhin ein Interesse an effizienzsteigernden
Strukturreformen, die sich ohne ihre Unterstützung nur schwer durchsetzen
ließen«. Dies beweise die allein von den Arbeitgebern finanzierte Unfallversicherung,
wo es »kaum« Kostensteigerungen, dafür jedoch betriebliche Gesundheitsverbesserungen
und Unfallrückgänge gebe. Die grüne Gruppe sitzt dabei einem Mythos auf: die
Ausgaben der gesetzlichen Unfallversicherung stiegen bspw. 1992–1998 um 19,8
Prozent (der GKV: nur 16,5 Prozent). Empirische und theoretische Belege für die
Parität finden sich nicht, auch nicht im internationalen Vergleich. Warum
sollten Arbeitgebervertreter kompetent über Leistungen und Organisation von
häuslicher Pflege oder Diabetesbehandlung entscheiden können?
5
Stephanie Sehlen, Wilhelm F. Schräder, Guido Schiffhorst: Bürgerversicherung
Gesundheit – Grünes Modell. Simulationsrechnungen zu Ausgestaltungsmöglichkeiten,
Berlin: IGES, Mai 2004.
6
Darunter ist zu verstehen, dass die Gesamteinkommen des
Haushalts hälftig auf die Ehepartner verteilt werden, so dass die Einkommen,
die bei einem Alleinverdiener bereits die Beitragsbemessungsgrenze
überschreiten, nun für den Ehepartner noch bis zu einer
Beitragsbemessungsgrenze beitragspflichtig werden. Beim negativen
Ehegattensplitting ist damit der Beitrag der Ehepartner zur Bürgerversicherung
– wegen der Beitragsdegression oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze – generell
höher als die Summe der Beiträge der einzelnen Ehepartner ohne Anwendung des
Splittings. Quasi werden Haushaltseinkommen oberhalb der Bemessungsgrenze unter
diese Grenze »geholt« und verbeitragt (vgl. Sehlen u. a. 2004, S. 65).
7
Bei Sehlen u. a. 2004, S. 70<|>f. wird allerdings
ein Mindestbeitrag für Kinder simuliert. Insoweit wären die Einsparungen bei
einer Beitragsbeschränkung auf Erwachsene geringer.
8
So würde die Beitragsreduktion durch das »negative Ehegattensplitting«
bei einer Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenzen kaum möglich. Allerdings
beruhen die meisten der genannten Größen auf Schätzwerten. Die Einführung eines
Mindestbeitrages dürfte beispielsweise bei Sozialhilfe- und künftigen Arbeitslosengeld
II-Empfängern zu Mehrbelastungen im Bundeshaushalt führen.
9
Quelle: Statistisches Bundesamt 2004 (www.destatis.de). Die
Werte des Arbeitskreises »Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder« liegen
geringfügig höher (vgl. www.statistik-bw.de/Arbeitskreis_VGR).
10
Vgl. Sehlen u.<|>a. 2004, S. 36. Die Einbeziehung der
PKV-Mitglieder erfolgt zu den Leistungen der GKV.
11
Wie er z.<|>B. von Gernot Kiefer, Dirk Ruiss:
»Gesetzliche Krankenversicherung als Bürgerversicherung – Solidarisch,
praktisch, realistisch?«, in: Sozialer Fortschritt, Heft 6/04, S.
152–159, hier: S. 156 diskutiert wird. Ein Aufschlag auf die Einkommensteuer
zur vollständigen Finanzierung der Krankenversicherung müsste mehr als 50
Prozent (!) betragen, was die Chancen nicht gerade erhöht, vgl. Michael
Opielka: »Sozialpolitische Entscheidungen in der Gesundheitspolitik.
Reflexionen zu Bürgerversicherung und Gesundheitsprämie«, in: WSI-Mitteilungen,
Heft 1/04, S. 3–10.
12
Für das Jahr 2007 wurde die Einführung des
morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs bereits gesetzlich
beschlossen.
13
Vgl. Klaus Dörner: Gesundheitsfalle, München: Econ
2003.
14
Vgl. Ellis Huber, Kurt Langbein: Gesundheitsrevolution,
Berlin: Aufbau 2004.
15
In diese Richtung z. B. Bert Rürup:
»Gesundheitspolitik: Befunde und Perspektiven«, in: Sozialer Fortschritt,
Heft 6/04, S. 159–163.
16
Michael Opielka (Hrsg.): Grundrente in Deutschland,
Wiesbaden: VS Verlag 2004, sowie ders.: »Grundeinkommensversicherung. Schweizer
Erfahrungen, deutsche Perspektiven?«, in: Sozialer Fortschritt, Heft
5/04, S. 114–126.
17
Die allgemeine Altersgrenze auf 67 Jahre zu erhöhen, erfordert
eine gewisse Übergangszeit, um die Arbeitswelt altersfreundlicher zu machen.
Die Erhöhung ist angesichts der steigenden Lebenserwartung sinnvoll. Eine
Seiteneffekt ist eine deutliche Kostensenkung der Rentenausgaben.
18
Vgl. Erwin Carigiet: Gesellschaftliche Solidarität.
Prinzipien, Perspektiven und Weiterentwicklung der sozialen Sicherheit,
Basel: Helbing & Lichtenhahn 2001.
19
Die vom Sachverständigenrat zur Begutachtung der
gesamtwirtschaftlichen Entwicklung favorisierte »duale Einkommenssteuer« –
proportionale Steuer auf Kapitaleinkommen (z.<|>B. 25 Prozent),
progressive Steuer auf Arbeitseinkommen – mag als »Reformmodell der politischen
Mitte« gelten, wie Steffen Ganghof (Wer regiert in der Steuerpolitik?,
Frankfurt am Main, New York: Campus 2004) argumentiert. Sie verhindert die
Kapitalabwanderung. Der hier vertretene Vorschlag des »Bürgerbeitrags« als
»Sozialsteuer« löst das Problem schlichter: 25 Prozent muss man auf alle Einkommensarten
zahlen. Die Einkommenssteuer – mit maximal 15 oder notfalls 25 Prozent – können
selbst Großverdiener reduzieren, wenn sie spenden und stiften, was trotz
Steuervereinfachung möglich bleiben wird und muss.