Peter Schyga

Die SPD, ihre Geschichte, ihr Leid

Historische und aktuelle Wandlungen der Sozialdemokratie

Für die Struktur der Probleme der regierenden Sozialdemokratie lohnt auch ein Blick in ihre Parteigeschichte. Schließlich begann schon vor100 Jahren die Entwicklung zu einer Staatspartei. Die weit reichenden Folgen von damals muss man nicht mit aktuellen Parallelisierungen überfrachten, aber erkennbar hat die Integrationsfähigkeit, die die SPD etwa in den Siebzigerjahren einmal hatte, längst nachgelassen. Sozialdemokratische Ordnungsrahmen sind nicht mehr stark gefragt. Das Ende als Volkspartei ist absehbar.

 

Nach den heftigen Stimmenverlusten bei der Europawahl und den Landtagswahlen in Thüringen bekam das Rätselraten um die Zukunft der SPD, ihren Kurs, ja ihre Daseinsberechtigung als »Volkspartei« neue Nahrung. Wolfgang Tiefensee konstatierte in der FAS vom 20. Juni bei einem Stimmanteil um die 15 Prozent eine Marginalisierung der SPD in der Parteienlandschaft. Kurt Kister sah in seinem SZ-Leitartikel vom 19./20. Juni die »Volkspartei am Ende« und Sigmar Gabriel, der einst als Hoffnungsträger gehandelte Ziehsohn Schröders, bemühte aus seinem gegenwärtigen Goslarer Politexil zu seiner Diagnose »Wir sitzen in der Falle« die Geschichte: »Die SPD hat noch keine Antwort auf die Folgen der Globalisierung. Sie hat in 140 Jahren gezeigt, dass sie zwar gut mit nationalen Mitteln auf soziale Probleme reagieren kann. Jetzt aber zeigt sich zum ersten Mal in voller Schärfe, dass nationale Politik nichts hilft …«, ließ er in der HAZ vom 18. Juni verlauten.

Es soll aber in diesem Aufsatz nicht in erster Linie ein weiteres Mal darum gehen, sozialdemokratisches Krisenszenario zu beschreiben, strukturelle Veränderungen in der Erwerbs- und Nichterwerbsbevölkerung, die Wählermilieus zerrütten, zu konstatieren oder das kalte Herz des Kanzlers oder des Parteivorsitzenden zu beklagen. Gabriels Verweis auf die Geschichte lohnt sich nämlich tatsächlich, wenn man ihn nicht nur wie einen Spickzettel aus der Hosentasche zieht, um – wie in der Politik üblich – Mythenbildung zu pflegen oder Nebelkerzen zu werfen, sondern die Parteigeschichte der SPD als geronnene Erfahrung auch der heutigen Politikergeneration begreift.

 

Eine Wende in der SPD-Geschichte

Der neunzigste Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs lädt zur Selbstvergewisserung der SPD und zur kritischen Nachfrage an die Geschichte ein. Beides kann hier nur skizziert werden. Der 4. August 1914 bezeichnet ein Datum, das die entscheidende Wende in der Geschichte der Politik der SPD markierte, einer Wende, die bis heute wirkungsmächtig ist. Der Satz ist berühmt, mit dem damals die Mitglieder der SPD-Reichtagsfraktion nicht ohne teilweise schlechtes Gewissen, aber doch mit mehr oder minder verhaltener Emphase die Zustimmung zu den Kriegskrediten und die Unterstützung der »Vaterlandsverteidigung« durch ihren Fraktionsvorsitzenden Haase formulierten: »Da machen wir wahr, was wir immer betont haben: Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich.«(1)

Diese Aussage, fast so berühmt wie der erste Satz des Kommunistiischen Manifests und tausendfach Anlass zu Kritik und Interpretation, war der Auslöser für die Spaltung der SPD. Der in ihm ausgedrückte vermeintliche Kurswechsel von einer Partei der sozialistischen Internationale zu einer Vaterlandspartei wurde zum Zündfunken für die ideologische Spaltung der internationalen Arbeiterbewegung. Mit Verve und Herzblut, leider auch im wirklichen Sinne des Wortes, wurde um diesen Kernsatz der Resolution gestritten. Es soll deshalb die Frage aufgeworfen werden, wieweit diese Entscheidung der SPD zum doppelten »Wehrbeitrag« für das Deutsche Reich Ausdruck eines Staatsbeitrags war, der die Partei bis heute prägt. Die historische Dimension der damaligen Entscheidung ist unter dem Aspekt zu betrachten, inwieweit die Sozialdemokratie in den Staatsapparat integriert werden wollte, ohne die Macht zu beanspruchen – damit also Teil der Legislative und Exekutive zu werden, ohne sich auf wesentliche Teile der Machtinstrumente stützen zu können.

Die Aussage des legendären Satzes vom 4. August bestätigte die außenpolitische Programmatik der SPD und formulierte deren innenpolitische Wendung.

1. Die Sozialdemokratie hat ihre programmatische Grundlage und politische Linie zu Krieg und Frieden mit dieser Erklärung nicht verraten. Spätestens seit Engels’ Beiträgen zur Militärfrage aus den Jahren 1892 und 1893, auf die sich alle Strömungen innerhalb der SPD nach seinem Tod berufen haben, musste eigentlich klar sein, dass ein Krieg in Europa unvermeidlich ist, wenn keine Abrüstung gelingt, und es war klar, dass in einem Krieg die Internationale zerbrechen würde. Arthur Rosenberg(2) hat als solidarischer Kritiker der Arbeiterbewegung früh erkannt, dass die SPD 1914 keine reale Alternative zur Bewilligung der Kriegskredite hatte, wie sehr auch KritikerInnen wie Rosa Luxemburg analytisch brillant und moralisch ehrenwert, doch realpolitisch den Horizont der Parteien der Internationalen verkennend, diesen Kurs bekämpften. Bebels Einsicht lange vor Kriegsbeginn, dass ein europäischer Krieg von der SPD nicht verhindert werden könnte, war absolut realistisch.(3)

2. Falsch war der Satz insofern, dass die innenpolitischen Implikationen der Resolution nicht von der Vorkriegsprogrammatik und -politik gedeckt waren. Der Abschluss des »Burgfriedens« bedeutete nicht nur die Einstellung der Opposition gegen die Regierung des Kaisers zu Kriegszeiten. Weitaus folgenreicher und entscheidender für die gesamte Politik und Geschichte dieser Partei war die mit dieser Entschließung verbundene prinzipielle Unterstützung der Politik des Deutschen Reichs als Staat. Mit einem Satz war der ganze innerparteiliche Streit um Revolution oder Reform, revolutionären Massenstreik oder allmähliche Wohlstandsmehrung, Hoch auf Kaiser und Vaterland oder nicht schlicht erledigt. Unbestritten waren die diesem Beschluss folgenden verbalen und tätlichen Auseinandersetzungen um den Kurs der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung historisch bedeutende und politisch bewegende Ereignisse, doch die deutsche Sozialdemokratie hatte sich entschieden: Ihr ging die Teilhabe am Staat über alles. Die entscheidende Zäsur war vollzogen.

Das vage Versprechen der Reichsregierung, die SPD in staatliche Entscheidungen einzubinden, die vage Hoffnung, bei einer Änderung des preußischen Dreiklassenwahlrechts die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse zu Gunsten einer staatlichen Integration der Partei zu verändern, ließ die SPD den Schritt von einer Interessenpartei der Arbeiterklasse zu einer Staatspartei beschreiten. Es sei hier betont: Nicht Volkspartei zu werden war ihr Interesse, sondern die Integration der Arbeiterklasse in den Staat zu organisieren. Es war nicht nur Kanzler Bethmann-Hollwegs schlaue Politik der verbalen Versprechen ohne handfeste Zugeständnisse, durch die sich die SPD immer wieder aufs Kriegsende vertrösten ließ, wenn sie Mitsprache erbat. Es lag auch an der Mentalität und politischen Sozialisation führender Köpfe der Sozialdemokratie, dass sie glücklich waren, zu informellen Entscheidungsprozessen hinzugezogen zu werden. Als wenige Wochen vor Kriegsende der stellvertretende Vorsitzende der Generalkommission der Freien Gewerkschaften Gustav Bauer zum Arbeitsminister und Philipp Scheidemann zum Staatssekretär ohne Portefeuille von Kanzler Prinz Max von Baden ins Kabinett berufen wurden, sah sich die Reichtagsfraktion in ihrer Politik des 4. August bestätigt. Es gibt kompetente Zeugen dieses Prozesses, die einer möglichen retrospektiven Fehldeutung entgegenstehen.(4)

 

Nationale Karte, Disziplin und Ordnung

Seiner von der Rezeption der Parteigeschichte weitgehend ignorierten Analyse des Zustands der SPD nach dem Kriegsausbruch gab Paul Lensch im Mai 1916 die sinnige Überschrift: Die Sozialdemokratie, ihr Ende und ihr Glück. In einer bemerkenswert offenen, auch die eigenen Positionen radikal verwerfenden Schrift kam er zu dem Schluss: »Nicht das Nationalbewusstsein, sondern das Staatsbewusstsein erwachte, und erst von diesem Tage ab wurde die Sozialdemokratie aus einer vorwiegenden Agitationsgruppe eine im echten Sinne des Wortes politische Partei.«(5) Sie habe sich befreit aus der »Enge in der Auffassung des Klassengegensatzes« und könne nun mit dem »Industrieproletariat als Kerntruppe« andere Teile der Gesellschaft gewinnen. »Gerade damit wird sie auch wieder zur Partei der Intellektuellen, die ihr im letzten Menschenalter im steigenden Maße den Rücken zugekehrt hatten, nicht zuletzt auch die Partei der Beamten und Offiziere.« (Hervorhebungen P. S.) Weitsichtig und ohne Umschweife spricht er das für viele damals Undenkbare aus: In einer Zeit, da der Staatsapparat mit seinen Beamten das Versammlungs- und Koalitionsrecht beschneidet, Zensur über die Presse verhängt und Arbeiterführer einsperrt, da Offiziere ihre Soldaten in den Tod jagen und drangsalieren, in der die Intellektuellen (man denke nur an den Aufruf der Professoren vom Herbst 1914 oder Thomas Manns deutschnationale Bekenntnisse) in ihrer Mehrzahl im imperialistischen Taumel delirieren, bekennt sich die SPD zur Gewinnung der staatstragenden Eliten für ihre neuen Ideen des Staats. Diesen von Lensch formulierten Paradigmenwechsel, und ich spreche hier mit der kuhnschen Konnotation dieses Begriffs, hatte damals kaum einer begriffen; einzig Rosa Luxemburg erfasste in ihrem »Junius-Artikel« annähernd die Dimension dieses Schritts. Jahrelang war es innerhalb der SPD um Strategien zur Gewinnung von Teilen der neben dem Proletariat unterdrückten Volksklassen – den kleinen Angestellten und Gewerbetreibenden, den Bauern und subalternen Beamten – gegangen. Die Literatur zum »Revisionismusstreit« ist überfüllt mit parteiinternen und -externen Stellungnahmen. Und nun sollte die Sozialdemokratie auf die Gewinnung der Armee und des wilhelminischen Beamtenapparates ein wichtiges Augenmerk richten. Transportiert wurde diese Hinwendung zum Staat durch zwei wichtige Elemente der Parteientwicklung:

1. Das Setzen auf die nationale Karte machte den ideologischen Verrenkungen, die auf den Kongressen der Internationale üblich waren, ein Ende. Wie befreit von der Last des Hochhaltens der internationalen Solidarität des Proletariats verwies E. David 1915 auf die rhetorischen Eiertänze, die die viel kleineren sozialistischen Parteien Europas aufführten, um mit patriotischer Selbstverständlichkeit ihre Krieg führenden Regierungen zu unterstützen. Seine Konsequenz war sozialdemokratisch schlüssig: »Solange aber dieses Ziel nicht erreicht, solange die Gegner zum Frieden nicht geneigt sind, solange sie die Hoffnung nähren, das Deutsche Reich niederwerfen, politisch zerreißen und wirtschaftlich erwürgen zu können – so lange gebietet uns die Pflicht der nationalen Selbsterhaltung auszuharren in dem blutigen Ringen mit Einsetzung unserer ganzen Kraft. An dem Stahlblock der deutschen Einheit werden die Zerschmetterungspläne einer Welt von Feinden zerschellen.«(6) Und um noch einmal Lensch mit einer griffigen Formulierung zu bemühen: »Klassenbewusstsein und Nationalbewusstsein hatten sich zu unzerreißbarer Einheit verwoben.« Die damalige Nation wurde repräsentiert durch den »autoritären Nationalstaat« (W. J. Mommsen), der bis zu diesem historischen Augusttag von der Sozialdemokratie bekämpft worden war. Es ist ja keine Anekdote, sondern Ausdruck sozialdemokratischen Bewusstseins, dass Bebel stolz darauf war, niemals mit den verhassten Regierungsvertretern des Wilhelminismus verhandelt zu haben. Das hatte sich nun geändert.

2. Ein nicht zu unterschätzendes Element sozialdemokratischer Anfälligkeit für ihren Etatismus speiste sich aus den Prinzipien der inneren Organisation der Partei und besonders des Gewerkschaftsapparats. Ohne R. Michels soziologische Analyse des Parteiwesens von 1926 bemühen zu müssen, reicht ein kursorischer Blick in die damalige Partei- und Gewerkschaftspresse, um eine Lieblingslosung sozialdemokratischer Funktionäre zu finden: Disziplin und Ordnung. Der Spruch, eine deutsche Revolution finde nicht ohne Lösen einer Bahnsteigkarte statt, hat in diesen Begriffen seinen Ursprung und seine Wahrheit. Mit unverhohlenem Stolz haben Funktionäre der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften die Schlagkraft des Proletariats im Krieg auf die durch ihre Organisationen antrainierte Disziplin und Ordnung zurückgeführt. Die Schriftenreihe »Kriegsprobleme der Arbeiterklasse« der »Internationalen Korrespondenz« legt beredt Zeugnis ab. Gustav Noskes autobiografischer Bericht über die gewaltsame Zerschlagung der revolutionären Bestrebungen 1918/1919 durch Reichswehr und Freikorps unter seinem Kommando ist vom Leitmotiv der Herstellung von Ordnung durchzogen. In dieser Phase der Parteigeschichte wurde das in Zeiten der Verfolgung notwendig eingeübte und tradierte Prinzip von Disziplin und Ordnung ohne Umschweife als Ausweis der Befähigung zur Staatsführung propagiert und praktiziert. Man bemühte sich nachzuweisen, dass das einst diskreditierte obrigkeitsstaatliche Prinzip durch erlernte Parteiordnung glänzend ersetzt werden könnte. Persönliche Eitelkeiten und typische Aufsteigermentalitäten ließen die Partei- und Gewerkschaftsführer oft gar nicht merken, dass sie als Mitglieder der deutschen Staatsnation nur am Katzentisch der Machthaber saßen. Im Rückblick auf die scharfen Auseinandersetzungen um die Annahme des Friedensvertrags von Versailles im Frühjahr 1919 kokettierte G. Noske ein Jahr später mit der Möglichkeit einer Militärdiktatur unter seiner Führung: »Es ist behauptet worden, damals habe die Absicht, bestanden mit mir eine Diktatur zu errichten. Richtig ist, dass mir die Truppenführer versicherten, sie hätten unbedingtes Vertrauen zu meiner Führung und gingen mit mir durch dick und dünn, oder wie ein General temperamentvoll ausrief: ›Für Sie Herr Minister, lasse ich mich in Stücke hauen und meine Landjäger auch.‹«(7)

Wichtig bleibt zu konstatieren, dass die sozialdemokratische Führungselite sich mit Engagement und Dynamik zur »Partei der Bosse« gewandelt hat. Sie konnte seitdem bis 1930 den Spagat zwischen Bedienung großer Teile ihrer starken Klientel und den Weimarer Machteliten in Reichswehr, Staatsapparat und Wirtschaft einigermaßen austarieren. Was die SPD aber nie geschafft hat, was aus ihrem inneren Verständnis und ihrer Verfasstheit auch nie gelingen konnte, war die Integration der Gesellschaft in eine demokratische Republik. Es gelang ihr nicht, die »negative Integration« (D. Groh) aus der Zeit des Kaiserreichs aufzubrechen und sich den radikaldemokratischen, liberalen, antitraditionalistischen Kreisen der Weimarer Gesellschaft zu öffnen. Sozialdemokratischer Traditionalismus war mit den neuen kulturellen Entwicklungen der Gesellschaft nur marginal kompatibel. Die SPD stand nicht für einen antiautoritären Nationalstaat, sondern für einen demokratischen Nationalstaat des aufgeklärten Autoritarismus. Dass der obrigkeitsstrukturierte Charakter des Staates in der Weimarer Republik nicht aufgebrochen werden konnte in eine Richtung, die wir heute mit Zivilgesellschaft bezeichnen würden, lag natürlich nicht nur an der Sozialdemokratie. Doch ihre Politik der Befriedung der Gesellschaft durch materielle Wohltaten an die proletarische Klientel, Nachsicht gegenüber den Feinden der Republik von rechts und Festhalten am autoritären Charakter der Staatsorgane machte sie zu einem Pendel divergierender Interessen, ließ kaum Möglichkeiten für konstruktive, haltbare gesellschaftliche Veränderungen. Die Sozialdemokratie war die einzige Partei, die die Republik bis zum Schluss verteidigte, und dass die Weimarer Republik zerschlagen wurde, hat sie nicht zu verantworten. Dass allerdings die Gesellschaft der Gewalt alter und neuer totalitärer Eliten weichen musste, konnte ihre Politik auch nicht verhindern.

Und nun?

 

Anpassung und Integration

»Doch das Erfolgsgeheimnis der Sozialdemokratie lag nie in der Treue zu sozialistischen Idealen, sondern in der Anpassungsfähigkeit an die vorgegebene Ordnung. Nur unter stabilen Verhältnissen konnte sie die schrittweise materielle und soziale Integration der Arbeiterklasse in die bürgerliche Gesellschaft realisieren. War der Ordnungsrahmen, in dem sie operierte, gefährdet, trat sie als dessen Verteidigerin auf und verlangte ihrer Klientel notfalls schmerzliche Opfer ab« (R. Herzinger, Zeit, 7.4.04). Dieser lakonische Kommentar über das ewige Strukturproblem der SPD, das sie heute wieder einmal einhole, spricht eine bittere Wahrheit gelassen aus. Uta Vogt, Mitglied des SPD-Parteivorstands, äußerte sich am 21.6. in einer NDR-Fernsehdiskussion auf eben diese Vorhaltung (»Wer hat uns verraten, Sozialdemokraten«) mit dem Hinweis, dass die SPD als einzige Partei 1933 gegen das Ermächtigungsgesetz gestimmt habe. Dazu bemühte sie ein Bild, das Carlo Schmid einmal gemalt habe: dass die SPD der Schirm sei, unter dem sich bei Regen die Unterprivilegierten sammeln könnten, um nicht zu arg nass zu werden. Sie hat nicht begriffen, dass das sozialdemokratische Selbstbild einer politischen Schutzpatronin der Underdogs eine Schimäre ist, dass die SPD die politische Einheit darstellt, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, in schwierigen Zeiten die Widersprüche zwischen Staat und Gesellschaft zu Gunsten des Staates zu glätten – und das bis zur erzwungenen Kapitulation wie 1933 oder bis zur Selbstaufgabe, die ihr heute zumindest im Osten der Republik tatsächlich droht, denn dort tritt mit der PDS eine Partei an, die dieselbe Aufgabe angenommen hat, nur mit einer Sozialrhetorik, die ihr mancher noch abnimmt.

Einmal in ihrer Geschichte hatte die Partei die Chance, die Logik des eigenen Selbstverständnisses und ihrer gesellschaftlichen Funktion zu ändern. In den Sechziger- und Siebzigerjahren hatte es die SPD erstmals in ihrer Parteigeschichte geschafft, eine zunehmend kritische Gesellschaft gegen den »CDU-Staat« (Neddelmann/Schäfer), die mit der SPD ursprünglich wenig am Hut hatte, unter der brandtschen Parole »Mehr Demokratie wagen« für die Erreichung der parlamentarischen Macht zu gewinnen. Zum ersten Mal in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus war 1972 die SPD mit gestiegener Stimmenzahl als Regierungspartei bestätigt worden. Der Versuch, gesellschaftlichen Wandel durch mehr Partizipation und Chancengleichheit, wofür die Bildungsreform und der Ausbau der Mitbestimmung standen, zu erreichen, endete im »Modell Deutschland«, mit dem unter dem Primat staatlich verordneter antizyklischer Konjunkturpolitik die ökonomischen Strukturkrisen bewältigt werden sollten bei gleichzeitiger materieller Befriedung gesellschaftlicher Widersprüche, die sich aus dem ersten spürbaren Strukturwandel internationaler Produktions- und Kapitalverhältnisse der Nachkriegszeit entwickelten. Die SPD als Regierungspartei musste auf die Ölkrise, die Stahl- und Kohlekrise, die Werftkrise, die Textilindustriekrise, die Unterhaltungsindustriekrise – man kann die Aufzählung weiterführen – reagieren, um die Auswirkungen weltweiter Veränderungen der Produktions- und Kapitalstrukturen auf die Bundesrepublik zu bewältigen. Das war nichts anderes als das, was heute mit Globalisierung gemeint ist.

Trotz massiver Eingriffe ins soziale Netz konnte die Klientel, die die Sozialdemokratie fester an sich gebunden hatte, zufrieden gestellt werden, konnte die SPD ein skeptisches Wählerreservoir durch materielle Zugeständnisse und Anreize zur Statusverbesserung für sich gewinnen. Dass sie sich mit einer Tarifpolitik abfinden musste, die, verbunden mit dem Namen des damaligen ÖTV-Chefs Kluncker, an Erpressung grenzte, ist ein Beleg dafür. Die Aufblähung des Staatsapparats im Sozialverwaltungs- und Bildungsbereich, das gedeihliche Wachsen des Gewerkschaftsapparats, die kostenträchtige soziale Abfederung des Niedergangs der Schwerindustrie in der sozialdemokratischen Hochburg Nordrhein-Westfalen bei gleichzeitiger unaufhörlicher Steigerung der Arbeitslosigkeit schuf der SPD eine dankbare, sozial abgesicherte Klientel. Die in diesem Prozess sozial Marginalisierten bekamen das Versprechen auf bessere Zeiten und glaubten es. Das Zurückdrängen bürgerlicher miefiger Hegemonie in Wissenschaft und Kultur wurde bezahlt mit deren Verstaatlichung und mit, um es einfach zu sagen, Bestechung der nachwachsenden Akteure. Der »Gang durch die Institutionen« blieb in diesen stecken. Die Bildungsreform spülte eine hohe Anzahl derjenigen, die angetreten waren Demokratie zu wagen, in die Lehrkörper von Universitäten und Schulen, die Mitbestimmungsgesetze boten auch schlichten Gemütern gut bezahlte Lebensstellungen. Die Ära der Sozialdemokratie war die große Zeit der sozialen Aufsteiger, solange die den ehernen Gesetzen der sie verschlingenden Apparate gehorchten, und eines davon hieß: »Dankbarkeit wählt SPD«. Mit dem schmidtschen »Modell Deutschland« wurde der Status quo sozialdemokratisch geleiteter Staatspolitik festgezurrt, Visionen und Hoffnungen, die noch im Begriff »wagen« enthalten waren, im stehenden Wasser der Fleete des Hamburger Kanzlers versenkt. So war denn auch die »bleierne Zeit« des Kanzlers Kohl nicht sonderlich gewöhnungsbedürftig.

Die Politik des Nachtrabens hinter dem Koloss aus Oggersheim durch die neuen Länder war nicht Ausdruck fehlender Alternativen zur Gestaltung der Vereinigung. Aber sozialdemokratischer Parteilogik lag es fern, der Politik des massiven Staatsinterventionismus gekoppelt mit Belohnungen für Freibeutertum entgegenzutreten. Im Gegenteil: Die oberste Repräsentantin dieses Systems, Birgit Breuel, wurde für ihre desaströse Treuhandpolitik reich belohnt, indem man ihr die Chance gab, die EXPO in Hannover finanziell auch noch in den Sand zu setzen. Sozialdemokratische Parteilogik hat die Furcht vor radikal- und basisdemokratischen Elementen so sehr verinnerlicht, dass ihr Breuel lieber war als alle »Foren« und »Bürgerbewegungen« im Osten zusammen. Oskar Lafontaines damalige Haltung, durch Verhandlungen mit dem noch DDR-Staat sowie seinen nachfolgenden Repräsentanten die Vereinigung zu entschleunigen, entsprang nicht der Angst um ruinierte Staatshaushalte, sondern der Furcht vor Elementen staatlichen Ungehorsams. Wer sich 1990/91 an sozialdemokratische Furcht vor einer Destabilisierung des polnischen Staates durch die Volksbewegung »Solidarnosc« erinnern konnte, dem fiel eine Analogie in der sozialdemokratischen Befindlichkeit unmittelbar ein. Der massive sozialdemokratische Widerstand gegen das Aufkommen einer Debatte um eine Verfassungsänderung im Zuge der Vereinigung ist dafür nur ein kleines Indiz.

Kohl konnte seine Kanzlerschaft durch die Aufstockung seiner Klientel im Osten mit den Mitteln des ökonomischen Hasardspiels sichern. Schröder kam an die Macht mit dem Versprechen, dies zu konsolidieren. Da dies ein Widerspruch in sich ist, konnte es nicht gelingen. Jetzt hat Schröder das Pech, an der Regierung zu sein. Da die Klientelbefriedungspolitik nicht mehr funktionieren kann, weil sie an finanzielle Grenzen stößt, findet die SPD keine Wähler mehr. Die viel beklagte Partei der Nichtwähler wächst nicht grundlos unaufhörlich. Ein Arbeitsloser, der zu Beginn des nächsten Jahres wegen Hartz IV aus der Wohnung fliegt (es würden Hunderttausende werden, wenn es genug billigen Wohnraum gäbe) hat genauso wenig Grund SPD zu wählen wie ein Lehrer oder Sozialarbeiter, der noch ein paar Jahre bis zur Pensionierung aussitzen muss. Der Lernprozess Tausender Arbeitnehmer, dass ein Arbeitsplatz in großen Industriebetrieben ebenso wenig mehr gesichert ist wie beim Händler um die Ecke oder in einer Großbank, erzeugt keinen Antrieb, Schröder zu unterstützen, und erst recht nicht die Aussicht, nach dreißigjähriger Arbeitskraftvernutzung für 635 Euro/Monat in die Langzeitarbeitslosigkeit und Armut, denn das wird Sozialpolitik für Millionen ab nächstem Jahr bedeuten, zu versinken.

 

»Verstaatlichung« gescheitert

Um es auf den Punkt zu bringen: Das ewige sozialdemokratische Projekt, sich und die Gesellschaft zu verstaatlichen, ist wieder einmal gescheitert. Dass die Dynamik kapitalistischer Verwertungsprozesse dauerhaft nicht mit Mitteln staatlicher Beruhigung zu bewältigen ist, erst recht nicht in Zeiten, da nationalstaatliche Eingriffe internationale Kapitalströme überhaupt nicht tangieren, müsste sich in der Partei irgendwann einmal herumsprechen. Juso-Lektüre von vor dreißig Jahren, wie »Lohnarbeit und Kapital«, reicht für diese Einsicht wahrscheinlich nicht.

Der sozialdemokratisch gestrickte Ordnungsrahmen staatlicher Politik passt weder den Akkumulationsbedürfnissen des Kapitals noch ihren Repräsentanten. Da kann der BDI-Präsident den Kanzler noch so aufmuntern und dieser sich vom Lob der Bosse geschmeichelt fühlen. Die Streicheleinheiten aus den Vorstandsetagen der Konzerne und ihrer Verbände erhalten Schröder und Freunde nur deshalb, weil die Hemmschwelle der Getretenen zuzubeißen zurzeit noch geringer ist als bei Merkel & Co. Die gleichen Leute wissen, dass die neoliberalen Szenarien der Börsenjunkies Staat und Gesellschaft in heftige Zerreißproben stürzen würden. Die SPD wähnt sich mit ihrer Agenda-2010-Politik als nationaler Akteur sich ständig verändernder internationaler ökonomischer Konkurrenzbedingungen. Wie sehr sie mit dieser Auffassung hinterm Mond ist, hat sie auf ihrem letzten Parteitag bewiesen, als ausgerechnet ein in urige Trachten gekleideter Bergmannschor »Wir schreiten Seit an Seit« intonierte.

Sigmar Gabriel schwant wenigstens (s. o.), dass diese Politik einiges mit Donquichotterie zu tun hat. Indem die Partei dabei aber diejenigen trifft, auf deren Wahlkreuz sie zum Regierungsverbleib angewiesen ist, bastelt sie an ihrer Zwanzig- bis Dreißig-Prozent-Nische. Darüber sollte sich die Partei nicht grämen, die Größenordnung entspricht dem historischen Rahmen deutscher Parteienlandschaft. Einmal hatte sie in ihrer 140-jährigen Geschichte so große Teile der Gesellschaft hinter sich sammeln können, dass sie politikbestimmend werden konnte. Das ist ihr nur auf Zeit gelungen. Der Regenschirm von Carlo Schmid ist seither zu klein geworden. Viele wollen gar nicht mehr darunter, weil dieser Schirm ihre Patchwork-Biografien auch nicht verhindern konnte. Viele finden unter ihm auch einfach keinen Platz mehr. Ob sie jedoch weiterhin geduckt wie nasse Pudel durch die Gegend streifen, ist nicht sicher.

Angesichts dieser Tatsachen sollte sich die SPD schon an den 27. März 1930 erinnern. Damals schaltete sie sich mit dem Rücktritt von Reichskanzler Müller im Ringen um die Richtung der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik selbst aus der Reichspolitik aus. Damit schulterte sie ihre »Verantwortung für den entscheidenden inneren Wendpunkt der Weimarer Republik« (E. Kolb).

 

(1) »Erklärung der SPD-Reichstagsfraktion vom 8. August 1914«, in: Karl Grünberg: Die Internationale und der Weltkrieg, 1. Abteilung, Leipzig 1917, S. 77.

(2) Vgl. Arthur Rosenberg: Entstehung der Weimarer Republik, Frankfurt am Main 1972 (14).

(3) Vgl. dazu: Helmut Bley: Bebel und die Strategie der Kriegsverhütung 1904–1913, Göttingen 1975.

(4) Es sei hier nur auf das Kriegstagebuch des Reichtagsabgeordneten Eduard David 1914–1918 verwiesen.

(5) Paul Lensch: Die Sozialdemokratie, ihr Ende und ihr Glück, Leipzig 1916, S. 209<|>ff. Nach dem Zeugnis seines Freundes August Winnig, ab 1917 Vorsitzender der Bauarbeitergewerkschaft, zog sich Lensch um die Jahreswende 1915/1916 in sein Kämmerlein zurück und wandelte sich vom linken Kritiker der Partei- und Fraktionsführung zum strammen nationalen Sozialdemokraten.

(6) Eduard David: Die Sozialdemokratie im Weltkrieg, Berlin 1915, S. 9.

(7) Gustav Noske: Von Kiel bis Kapp. Zur Geschichte der deutschen Revolution, Berlin 1920, S. 153–154.