BALDUIN WINTER

 

Editorial

 

 

Euphorie lässt der »Vertrag über eine Verfassung für Europa« nicht ohne weiteres aufkommen. Zwar wurde nach der Einigung der Staats- und Regierungschefs der EU im Juni begeistert von einem historischen Moment gesprochen. Aber die Stunde der Wahrheit kommt erst, wenn die einzelnen Staaten den Vertrag ratifizieren werden, per Parlament oder per Volksabstimmung.

Es gibt jede Menge Kritik an diesem Dokument. Dass sich damit politisch punkten lässt, zeigten bereits die Europawahlen. Zwei Beispiele: In England wurde die Unabhängigkeitspartei, die die Verfassung zum Menetekel des Königreichs diabolisiert hat, drittstärkste Kraft. In Polen schob sich die national-katholische »Liga der polnischen Familien« auf Rang zwei; ihr Chef, Roman Giertych, behauptet, die Verfassung erniedrige Polen

»zu einer Provinz Brüssels«. Das liegt nicht weit entfernt von der unterkomplexen Kritik französischer Linker, die Osterweiterung wäre eine »Akkumulationsoffensive«, moderiert aus den Kommandoebenen der EU.

Es gibt jede Menge Kritik aus Expertenkreisen. Das ist kein Wunder, denn hinter dem Vertrag steckt langes und zähes politisches Feilschen, das nicht immer Blüten kühler Vernunft hat sprießen lassen. Falsch wäre es jedenfalls, den Vertrag mit der amerikanischen Verfassung zu vergleichen, die gern als »Mutter aller Konstitutionen« gewürdigt wird. Sie entstand in einer gänzlich anderen historischen Situation für einen ganz anderen Staatstypus. Die Union hingegen ist eine Assoziation von verfassten Nationalstaaten, die im Begriff sind, etwas historisch völlig Neues zu unternehmen. Dieses Neue vollzieht sich nicht im Bruch zum Alten, es zieht auch nicht aus der Alten in eine neueste Welt; es wächst nicht einmal aus dem Alten heraus, sondern mit ihm zusammen und versucht, so langweilig das auch manchmal erscheinen mag, aus dem Vorhandenen ein Instrumentarium zu erstellen, das neu und doch vertraut ist.

Falsch wäre es auch, in diesem Vertrag etwas »Endgültiges« zu sehen. Es ist ein Vertrag, der einen Zwischenstand festschreibt. Die große Mehrheit der europäischen Nationalstaaten schließt sich zu einer »Union« zusammen und sorgt sich zugleich um zu große Souveränitätsverluste. Mit eher unspektakulären Schritten ist man in knapp einem halben Jahrhundert sehr weit gekommen. Dramatische Schritte sucht man auch für die Zukunft eher zu meiden. Europa wird sein Gesicht aber noch sehr verändern, sein Äußeres, seine Strukturen. Es kann sein, dass unsere Enkel für das nationalstaatliche Gewusel nur mehr ein mitleidiges Lächeln übrig haben; und von dieser Verfassung werden sie vielleicht wie von der Steinzeit reden.

Man muss dieses Vertragswerk nicht erst mit Steuerartikeln vergleichen, wie Joschka Fischer in einem Interview in der SZ (25.6.), um seine Güte zu betonen. Das Misstrauen liegt auch weniger in der mangelnden Qualität begründet, wie das manche Kritiker behaupten. Vielmehr ist eine alte Crux der Union und ihrer Vorläufer die mangelnde Bürgernähe. Für die Mehrzahl seiner Bürger ist »Europa« ebenso selbstverständlich wie vage. Obwohl politische, ökonomische und kulturelle Grenzen gefallen sind, bleiben die EU- Institutionen, ihre Verträge und Auswirkungen im allgemeinen Bewusstsein etwas relativ Exotisches.

Eine »Emnid«-Umfrage ergab kürzlich, dass 77 Prozent der deutschen Bevölkerung nicht einmal Grundkenntnisse über die neue Verfassung aufweisen; gerade mal 16 Prozent fühlten sich »gut informiert«. Im Kenntnistest der alten EU-Staaten liegt Deutschland auf Platz elf. Das sind enttäuschende Werte. Ein weites Feld für populistische Europafeinde. Vor allem aber müsste hier die Politik vermittelnd tätig werden, denn Deutschland scheint viel zu sehr in sich selbst zu ruhen und viel zu wenig in Europa.

Dieselbe Umfrage ergab auch, dass 78 Prozent der Deutschen einen Volksentscheid über die – weitgehend unbekannte – Verfassung wünschen. Das ist schwer wiegend, auch wenn das Grundgesetz prinzipiell kein Referendum vorsieht. Das Volk wird in den meisten Ländern entscheiden. Volksabstimmungen sind in Irland und Dänemark bei Abtretung von Souveränitätsrechten zwingend, sie wurden in Großbritannien und in den Niederlanden (noch heuer) angekündigt, weiter in Spanien, Portugal, Tschechien und zuletzt in Frankreich. Luxemburg und Belgien werden unverbindliche Referenden zusätzlich zu den Parlamentsentscheidungen abhalten, in einigen östlichen Ländern wird ebenfalls der Volksentscheid erwogen. Gerade dort war die Wahlbeteiligung bei den Europawahlen sehr niedrig (im Gesamtschnitt 26,4 %), und die Euroskeptiker werden alle Trommeln rühren. Ein Referendum zwingt geradezu zu einer Informationsoffensive um Hirne und Herzen der Mehrheit zu gewinnen.

Fischer hat im Interview einen Vorschlag für eine mögliche Fragestellung gemacht: »Ja heißt: Weiter und mit dieser Verfassung. Nein heißt: Raus aus der EU.« Ob es wirklich sinnvoll ist, die Frage so zu stellen? Das bleibt Deutschland »erspart«. Das Volk darf bestimmt nicht abstimmen, und der Bundestag wird bestimmt zustimmen. Die Ablehnung einer Verfassungsänderung zur Durchführung des Volksentscheids, so ein Kommentator in der NZZ, wird »mitunter ganz offen damit begründet, dass ein Referendum einen unerwünschten Ausgang nehmen

könne« ...