What’s left?
Warum verzichtet die 68er-Generation, die allzu lange aus einer habituellen Oppositionsperspektive empfunden, gedacht und gehandelt hat, freiwillig auf politische Gestaltungsmacht und gibt ihr Mandat vorzeitig an den Souverän zurück? Weshalb hat dieses erste linke Regierungsbündnis in Nachkriegsdeutschland auch seine zweite Chance nicht nutzen können? Woran ist Rot-Grün eigentlich gescheitert? Ein Deutungsvorschlag.
Sieben Jahre lang hatte diese
Regierung Zeit, sich den schwierigen Fragen der Ökonomie zu widmen, die sich am
Ende als ihre Achillesferse erwiesen hat. Viel zu spät hat man sich dem
gesellschaftlichen Megaproblem gewidmet, das sich aus dem Zusammenhang von
globalisiertem Kapitalismus, europäischer Integration, Immigrationsdruck,
chronischer Massenarbeitslosigkeit, strapaziertem Sozialversicherungssystem,
Überalterung der Gesellschaft und Staatshaushaltsdefizit ergeben hat. Als nach
einer quälenden Phase der Konzeptlosigkeit wirtschafts-, sozial- und
steuerpolitisch endlich gehandelt wurde, geschah das halbherzig, wider Willen,
mit schlechtem Gewissen und vor allem: ohne für die dringenden Veränderungen
anders zu werben, als dass sie notwendig und alternativlos seien. Von verheerenden
Statistiken, ungünstigen Meinungsumfragen und deprimierenden Wahlniederlagen
weit stärker getrieben als von Einsichten und entsprechenden Absichten,
langfristig Wirklichkeit zu gestalten, hat man schließlich eine Agenda
gezimmert, die auf eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik und die Einschränkung
sozialstaatlicher Leistungen hinauslief. Die Erfolge sind mäßig. Es reicht eben
nicht, die alten Arbeitsämter in Agenturen für Arbeit oder gar in Job-Center
umzubenennen, die Beamten zu Fallmanagern und die Arbeitsuchenden zu Klienten
zu machen, wenn man die Krise der Erwerbsgesellschaft gar nicht auf die
Tagesordnung setzt und stattdessen an ihren Folgen herumdoktert.
Das berüchtigte
Stellschraubenmodell, mit dem Rot-Grün bis zuletzt seine Konzeptlosigkeit gerechtfertigt
hat, suggeriert mit seinen Metaphern des Einstellens und Drehens, des Grob-,
Fein- und Nachjustierens keinen politischen Führungswillen, sondern allenfalls
ein Bescheidenheitspathos, dem das Versagen schon eingeschrieben ist. Als ob
Charlie Chaplin in Modern Times, der Mensch mit den zwei
Schraubenschlüsseln am vorbeirasenden Fließband, das heimliche Vorbild wäre –
eine aberwitzige Parodie auf den Fordismus als mentale Blaupause für
Regierungshandeln im postfordistischen Zeitalter? Eine Gesellschaft kann aber
von der gewählten Regierung das verlangen, was im Englischen leadership
und good governance heißt, nämlich intelligente, mutige,
verantwortungsvolle Führung, die sich den tatsächlichen Herausforderungen auch
gegen die Stimme des Volkes stellt. Wenn eine Regierung diesen Anspruch
verweigert, darf sie sich nicht wundern, dass ihr die Gefolgschaft aufgekündigt
wird. Wer als Staat der Zivilgesellschaft einschließlich der Arbeitslosen
Unternehmertum predigt, muss im Interesse des Gemeinwesens selbst
unternehmerisch handeln, das heißt gerade in unsicheren Zeiten
Führungskompetenz beweisen. Zielorientierung, Ausdauer, Risikobereitschaft
neben der Verantwortung für das Soziale – das sind Grund- und
Gründerzeittugenden, an denen es nicht nur den postmodernen Repräsentanten des
Kapitals, sondern offensichtlich auch dem rot-grünen Personal mangelt.
Nun, da alles irgendwie
schief läuft, will man für das Desaster nicht länger verantwortlich sein und
mit der Verantwortung auch die zukünftige Zuständigkeit abgeben. Die Wende
zurück nach links, die sich als Ergebnis selbstkritischer Ursachenforschung
gerade andeutet, speist sich bereits aus Oppositionsfantasien. Das
sozialdemokratische Wahlprogramm enthält die Treue zur Agenda 2010 nur noch als
Lippenbekenntnis, damit Schröder sein Gesicht wahren kann. Müntefering hat mit
seiner Attacke auf den eigentlich zuständigen Kapitalismus das entscheidende
Ablenkungs- und Wendemanöver eingeleitet und als Steuermann den dümpelnden
Tanker schon auf Oppositionskurs gebracht, als der Kapitän noch zu regieren
glaubte. Auch die Grünen driften erkennbar nach links, wobei sie sich auf
andere Weise als der große Partner aus der gemeinsamen Verantwortung stehlen –
als kleinerer Partner nämlich, der sich in der Arbeitsteilung mit dem großen
nicht um alles kümmern konnte: Wir waren nicht zuständig! Beamtenmentalität –
oder doch Reste vom alten Selbstverständnis der ohnmächtigen, aber moralisch
sauberen Gegenmacht, die andere gerne die notwendige Drecksarbeit machen lässt,
um das ökonomische wie mentale Siechtum zu überwinden?
Klammheimlich wünscht man
sich Angela Merkel als deutsche Maggie Thatcher, die die Nation nach dem
Vorbild Großbritanniens einer neoliberalen Rosskur unterzieht, damit eine
unternehmerischer gewordene Gesellschaft wieder Selbstvertrauen und
Innovationskraft gewinnt. Es muss ja nicht wie auf der Insel gleich der
Sozialstaat geschleift und die öffentliche Grundversorgung auf den Hund
gebracht werden. Aber man könnte wenigstens den verheerenden Prozess der
gesellschaftlichen Desintegration stoppen, der mit massenhafter
Unterbeschäftigung verbunden ist. Eine Spur mehr Eigenverantwortung und
Risikobereitschaft, ein flexibleres Tarifrecht, eine spürbare Reduktion des
Sicherheits- und Anspruchsdenkens, ein bisschen mehr Wirtschaftswachstum, ein
paar Arbeitslose weniger dürften es allemal sein, wenn es wieder aufwärts gehen
soll. Dann würde die Linke später womöglich, wie einst Tony Blair, die Früchte
einer von Konservativen betriebenen Modernisierungspolitik ernten, ohne vom
Wähler für zwischenzeitliche Zumutungen abgestraft zu werden.
… hat die neue
Linkspartei erst hervorgebracht …
Im Schatten der
regierenden Oppositionsmentalität hat sich aber eine außerparlamentarische, die
»wahre«, Systemopposition entwickelt, die sich zu Recht die vereinigte
»Linkspartei« nennen und auf Parlamentsfähigkeit hoffen darf. Gysi und Bisky
stehen für den von den Versprechungen der Marktwirtschaft enttäuschten und
Kompensation verlangenden Osten. Oskar Lafontaine bedient wie kein anderer die
westlinke Suche nach der verlorenen Unschuld vergangener Zeiten. Sein
politischer Wiederaufstieg, so paradox es klingen mag, begann bereits mit
seinem demonstrativen Rückzug aus allen Ämtern, gleich nach der Übernahme der
Regierung durch Rot-Grün, den er mit der heroischen Geste eines Mannes
inszeniert hatte, der an der fehlenden Intelligenz der anderen und am
Widerstand des internationalen Finanzkapitals, nicht aber an sich selbst
gescheitert war. Deshalb darf der Attac-Propagandist Mathias Greffrath unter der
Überschrift »Was ist Links?« (in der Zeit) sieben Jahre danach allen
Ernstes behaupten, dass »die Steuerleute des ökonomisch-ideologischen
›Imperiums‹ Ansätze der Bürgergesellschaft gegen den Markt verhindert« hätten,
während Lafontaine »die politische Re-Regulierung der Weltmärkte« im Sinn
gehabt habe – allerdings sei »schon die Absichtserklärung politisch tödlich«
gewesen. Eine linke Dolchstoßlegende, die nicht nur das Hasardeurhafte und
Verantwortungslose an Lafontaines Aktion unterschlägt.
Damals hatte Lafontaine
nämlich seiner (behaupteten) Opposition gegen das westliche Eingreifen in die
Jugoslawienkriege die Probe auf moralische Dignität ebenso erspart wie seinem
keynesianischen Wirtschaftprogramm den Beweis auf Wirklichkeitstauglichkeit.
Heute verkauft der Ex-Kanzlerkandidat, Ex-SPD-Vorsitzende und Ex-Superminister
eben diese Positionen als Alternative zum neoliberalen Einheitskurs der
Berliner Parteien und passt sie in den globalisierungskritischen Generaldiskurs
ein. Was ein vom Willy Brandt-Enkel zum Bild-Kolumnisten abgestiegener
politischer Abenteurer wirklich im Sinn hat, erfahren wir aus seinen
Brandreden. Wenn der neue Volkstribun die Immigranten ins Visier nimmt, die
deutschen Arbeitern und ihren Familien den Arbeitsplatz raubten, tut er das
nicht nur, um am rechten Rand politökonomischer Unzufriedenheit nach Stimmen zu
fischen. Das Spiel mit der Nazi-Rhetorik läuft letzten Endes auf eine Politik
ökonomischer und kultureller Abschottung des alten Europa hinaus – die
praktische Konsequenz der Dauerpropaganda gegen Lohndumping und Sozialabbau.
Während die Gegner der europäischen Integration in Frankreich ungeniert den
»plombier polonais« als Sündenbock präsentieren, belässt es Lafontaine beim
anonymen »Fremdarbeiter«. Hinter beiden Eindringlingen verbirgt sich jedoch der
arme Schlucker aus Osteuropa und seine vielen Verwandten; demnächst, so muss
man befürchten, wird der Zigeuner aus dem beitrittsbereiten Rumänien am Pranger
stehen, bevor der Türke an die Reihe kommt.
Das mit fremdenfeindlichen
Parolen angefachte Ressentiment gegen Menschen aus dem Osten und Süden, die das
Armutsgefälle über Migration zu überwinden beginnen, verbindet sich im Volk mit
der düsteren Ahnung, dass Massenarbeitslosigkeit, Schwarzarbeit und
Arbeitsimmigration irgendwie zusammenhängen. Aber statt nach europäischen
Antworten auf diesen unbestreitbaren Sachverhalt zu suchen, hat unsere Linke
das Problem der ökonomisch motivierten Armutsflucht zunächst moralisch auf ein
Asylproblem und dann auf den Schutz der Einheimischen gegen Lohn- und
Sozialdumping heruntergebracht. Mit der Folge, dass das derart verkürzte
Gerechtigkeitsthema nun den Stoff für populistische Mobilisierungen gibt.
Hier kocht nicht nur die
Rechte ihre braune Suppe, sondern auch die Retrolinke um Lafontaine und Gysi,
wobei der erste gezielt »das Rechte im Linken« (Oskar Negt) anzapft und der
zweite den Sympathiebonus einfährt, den er immer noch genießt. Diese beiden
Selbstdarsteller, die in schwierigen Zeiten politische Verantwortung gescheut
haben wie der Teufel das Weihwasser, dürfen jetzt wieder als sozialistische
Heilsbringer auftreten und dem Drama des begabten Kindes im Vorruhestandsalter
ein weiteres Kapitel anfügen, indem sie in die Rolle des Mannes aus dem Volke
treten, der die Interessen der »kleinen Leute« vertritt.
Doch der volkstümliche
Antikapitalismus ist gar nicht so antikapitalistisch, wie er sich geriert – und
in seiner Sozialnostalgie alles andere als kosmopolitisch. Eigentlich geht es
darum, den Sozialkapitalismus westeuropäischer Prägung – die »soziale
Marktwirtschaft« oder »das europäische Sozialstaatsmodell« – für die eigenen
Leute zu reservieren und entsprechende Abwehrzäune zu errichten. Das erklärt
die für die traditionell internationalistisch eingestellte Linke doch
erstaunliche Weigerung, ihre Lieblingsforderung nach sozialer Gerechtigkeit im
globalen Maßstab zu buchstabieren. Dagegen sträubt sich die neue Volksfront aus
mittelmäßigen Intellektuellen, mäßig revolutionären Arbeitern und
sozialistischen Träumern, da sie die Gerechtigkeitsfrage dann anders
beantworten müssten, als sie es tun. Im Grunde ihres Herzens hoffen sie, das
Gespenst der Globalisierung möge endlich vorübergehen und die privilegierte
Welt der Bundesrepublik zurückkehren. Am Wohlstand und der Zivilisiertheit der
guten alten BRD konnte sich auch der Berufsoppositionelle herzlich erfreuen,
weil er für internationale Solidarität, bewaffneten Befreiungskampf und
Entwicklungshilfe eintreten und auch sonst den Armen dieser Welt alles Gute
wünschen durfte. Sobald die Ausgebeuteten, Unterdrückten und Entrechteten
dieser Erde aber die Wanderschuhe anziehen, um in den kapitalistischen
Paradiesen ihr Glück zu machen, ist offenbar Schluss mit lustig.
Welche Blüten das
antikapitalistische Ressentiment unter den Bedingungen der Globalisierung
treiben kann, hat uns der in allen Feuilletons irrlichternde Slavoj Zizek (in
seinem Zeit-Kommentar zur Visa-Affäre) wieder einmal demonstriert: Die
Zuwanderung aus Osteuropa entspringe weder dem Wunsch der Zuwanderer noch einer
naiven Multi-Kulti-Idee von Rot-Grün, sondern einer perfiden Strategie der
Kapitalisten, um gezielt Löhne und Sozialleistungen zu drücken. Sic!
… und enthüllt die
romantischen Vorbehalte gegenüber der Moderne
Zu Recht erhebt Rot-Grün
den Anspruch, für ein republikanisches, seiner Geschichte bewusstes,
weltoffenes Deutschland zu stehen und ökologisch, kulturell sowie im
Staatsbürgerrecht und in der Einwanderungspolitik einer überfälligen
Modernisierung die Tür geöffnet zu haben. Das so hoffnungsvoll begonnene
Projekt ist erst ins Schlingern geraten, als diese Öffnung zur Moderne auf
einen sozial- und wirtschaftspolitischen Korporatismus stieß, der im
kollektiven Unbewussten der Nation stabil verankert ist. Geld verdienen, Profit
machen und Konkurrenz gelten in Deutschland als irgendwie anrüchig, weswegen
der Kapitalismus bei uns keinen guten Ruf genießt. Anders als in den
urkapitalistischen USA, dem Mutterland der Moderne, oder in den
Schwellenländern und neuen Tigerstaaten des Südens (wo die demokratische der
kapitalistischen Entwicklung freilich um einiges hinterher hinkt) oder in
Osteuropa mit seinen realsozialistischen Erfahrungen und entsprechenden
Freiheitsbedürfnissen, haben sich hierzulande die romantischen Vorbehalte
gegenüber der Moderne gehalten.
Im Schlagwort von der
»sozialen Kälte«, einem system- und globalisierungskritischen Kampfbegriff
erster Güte, steckt mehr identitätsstiftende Romantik, als so mancher
aufgeklärte Kritiker des Neoliberalismus sich träumen lässt. Dabei wissen wir
doch längst (und hätten es auch vor Götz Alys Buch schon wissen können), dass
auch die faschistische Massenbewegung in Deutschland von einem
antibürgerlichen, antikapitalistischen, sozialrebellischen Ressentiment
getrieben war, das vom nationalsozialistischen Wohlfahrtsstaat durchaus bedient
und in der wärmenden Volksgemeinschaft nur allzu gerne ausgelebt wurde. Und
ebenfalls sollte uns zu denken geben, dass ein vergleichbares Affektsyndrom im
totalitären Islamismus zu finden ist. Das Zerrbild vom ökonomisch habgierigen,
sozial kaltherzigen und moralisch verderbten Westen beruft sich nicht zuletzt
auf die Traditionen der spezifisch deutschen Modernekritik.(1)
Karl Marx teilte die
romantischen Vorbehalte gegen die Moderne bekanntlich nicht. Ganz im Gegenteil,
im Kommunistischen Manifest hat er nicht nur die Umrisse der kapitalistischen
Globalisierung vorgezeichnet, sondern diese in der unvergleichlichen Dynamik
dieses Wirtschaftssystems begründete Entwicklung ausdrücklich begrüßt: Die
Universalisierung der Warenform und die Herstellung des Weltmarkts seien
Voraussetzungen für die Emanzipation der Menschheit. Angesichts einer
unübersehbaren Renaissance des Marxismus sollten wir uns diese verloren
gegangene Einsicht des großen Kapitalismustheoretikers noch einmal aneignen und
ihr hinzufügen: Das Gespenst des Kommunismus hat sich historisch zum Glück
verflüchtigt, aber das Gespenst der repräsentativen Demokratie (vgl. Dick
Howard, The Specter of Democracy) könnte an seine Stelle treten.
Vielleicht würde sich damit die ideologische Leere füllen lassen, die der
unbewältigte Utopieverlust auf der Linken hinterlassen hat. Und wir hätten
statt der halbierten Moderne wieder eine ganze – und nebenbei wieder eine
geschichtsphilosophische These, von der es sich lohnt, sie gegen ihre
totalitäre Antithese entschieden zu verteidigen.
1
Avishai Margalit und Ian Buruma haben in ihrem Buch Okzidentalismus.
Der Westen in den Augen seiner Feinde darauf hingewiesen, dass die in
islamistischen Kreisen intellektuell höchst einflussreiche Muslimbruderschaft
in Ägypten, die dieses hasserfüllte Klischee verbreitet, unter anderen auch die
Lektüre von Ernst Jünger oder Martin Heidegger pflegt.
»Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur«, Ausgabe
4/05.