Martin Altmeyer

 

What’s left?

 

Konsequenzen aus den romantischen Irrtümern der Linken

 

 

 

Warum verzichtet die 68er-Generation, die allzu lange aus einer habituellen Oppositionsperspektive empfunden, gedacht und gehandelt hat, freiwillig auf politische Gestaltungsmacht und gibt ihr Mandat vorzeitig an den Souverän zurück? Weshalb hat dieses erste linke Regierungsbündnis in Nachkriegsdeutschland auch seine zweite Chance nicht nutzen können? Woran ist Rot-Grün eigentlich gescheitert? Ein Deutungsvorschlag.

 

Die heimliche Sehnsucht nach Opposition und Unzuständigkeit …

Sieben Jahre lang hatte diese Regierung Zeit, sich den schwierigen Fragen der Ökonomie zu widmen, die sich am Ende als ihre Achillesferse erwiesen hat. Viel zu spät hat man sich dem gesellschaftlichen Megaproblem gewidmet, das sich aus dem Zusammenhang von globalisiertem Kapitalismus, europäischer Integration, Immigrationsdruck, chronischer Massenarbeitslosigkeit, strapaziertem Sozialversicherungssystem, Überalterung der Gesellschaft und Staatshaushaltsdefizit ergeben hat. Als nach einer quälenden Phase der Konzeptlosigkeit wirtschafts-, sozial- und steuerpolitisch endlich gehandelt wurde, geschah das halbherzig, wider Willen, mit schlechtem Gewissen und vor allem: ohne für die dringenden Veränderungen anders zu werben, als dass sie notwendig und alternativlos seien. Von verheerenden Statistiken, ungünstigen Meinungsumfragen und deprimierenden Wahlniederlagen weit stärker getrieben als von Einsichten und entsprechenden Absichten, langfristig Wirklichkeit zu gestalten, hat man schließlich eine Agenda gezimmert, die auf eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik und die Einschränkung sozialstaatlicher Leistungen hinauslief. Die Erfolge sind mäßig. Es reicht eben nicht, die alten Arbeitsämter in Agenturen für Arbeit oder gar in Job-Center umzubenennen, die Beamten zu Fallmanagern und die Arbeitsuchenden zu Klienten zu machen, wenn man die Krise der Erwerbsgesellschaft gar nicht auf die Tagesordnung setzt und stattdessen an ihren Folgen herumdoktert.

Das berüchtigte Stellschraubenmodell, mit dem Rot-Grün bis zuletzt seine Konzeptlosigkeit gerechtfertigt hat, suggeriert mit seinen Metaphern des Einstellens und Drehens, des Grob-, Fein- und Nachjustierens keinen politischen Führungswillen, sondern allenfalls ein Bescheidenheitspathos, dem das Versagen schon eingeschrieben ist. Als ob Charlie Chaplin in Modern Times, der Mensch mit den zwei Schraubenschlüsseln am vorbeirasenden Fließband, das heimliche Vorbild wäre – eine aberwitzige Parodie auf den Fordismus als mentale Blaupause für Regierungshandeln im postfordistischen Zeitalter? Eine Gesellschaft kann aber von der gewählten Regierung das verlangen, was im Englischen leadership und good governance heißt, nämlich intelligente, mutige, verantwortungsvolle Führung, die sich den tatsächlichen Herausforderungen auch gegen die Stimme des Volkes stellt. Wenn eine Regierung diesen Anspruch verweigert, darf sie sich nicht wundern, dass ihr die Gefolgschaft aufgekündigt wird. Wer als Staat der Zivilgesellschaft einschließlich der Arbeitslosen Unternehmertum predigt, muss im Interesse des Gemeinwesens selbst unternehmerisch handeln, das heißt gerade in unsicheren Zeiten Führungskompetenz beweisen. Zielorientierung, Ausdauer, Risikobereitschaft neben der Verantwortung für das Soziale – das sind Grund- und Gründerzeittugenden, an denen es nicht nur den postmodernen Repräsentanten des Kapitals, sondern offensichtlich auch dem rot-grünen Personal mangelt.

Nun, da alles irgendwie schief läuft, will man für das Desaster nicht länger verantwortlich sein und mit der Verantwortung auch die zukünftige Zuständigkeit abgeben. Die Wende zurück nach links, die sich als Ergebnis selbstkritischer Ursachenforschung gerade andeutet, speist sich bereits aus Oppositionsfantasien. Das sozialdemokratische Wahlprogramm enthält die Treue zur Agenda 2010 nur noch als Lippenbekenntnis, damit Schröder sein Gesicht wahren kann. Müntefering hat mit seiner Attacke auf den eigentlich zuständigen Kapitalismus das entscheidende Ablenkungs- und Wendemanöver eingeleitet und als Steuermann den dümpelnden Tanker schon auf Oppositionskurs gebracht, als der Kapitän noch zu regieren glaubte. Auch die Grünen driften erkennbar nach links, wobei sie sich auf andere Weise als der große Partner aus der gemeinsamen Verantwortung stehlen – als kleinerer Partner nämlich, der sich in der Arbeitsteilung mit dem großen nicht um alles kümmern konnte: Wir waren nicht zuständig! Beamtenmentalität – oder doch Reste vom alten Selbstverständnis der ohnmächtigen, aber moralisch sauberen Gegenmacht, die andere gerne die notwendige Drecksarbeit machen lässt, um das ökonomische wie mentale Siechtum zu überwinden?

Klammheimlich wünscht man sich Angela Merkel als deutsche Maggie Thatcher, die die Nation nach dem Vorbild Großbritanniens einer neoliberalen Rosskur unterzieht, damit eine unternehmerischer gewordene Gesellschaft wieder Selbstvertrauen und Innovationskraft gewinnt. Es muss ja nicht wie auf der Insel gleich der Sozialstaat geschleift und die öffentliche Grundversorgung auf den Hund gebracht werden. Aber man könnte wenigstens den verheerenden Prozess der gesellschaftlichen Desintegration stoppen, der mit massenhafter Unterbeschäftigung verbunden ist. Eine Spur mehr Eigenverantwortung und Risikobereitschaft, ein flexibleres Tarifrecht, eine spürbare Reduktion des Sicherheits- und Anspruchsdenkens, ein bisschen mehr Wirtschaftswachstum, ein paar Arbeitslose weniger dürften es allemal sein, wenn es wieder aufwärts gehen soll. Dann würde die Linke später womöglich, wie einst Tony Blair, die Früchte einer von Konservativen betriebenen Modernisierungspolitik ernten, ohne vom Wähler für zwischenzeitliche Zumutungen abgestraft zu werden.

 

… hat die neue Linkspartei erst hervorgebracht …

Im Schatten der regierenden Oppositionsmentalität hat sich aber eine außerparlamentarische, die »wahre«, Systemopposition entwickelt, die sich zu Recht die vereinigte »Linkspartei« nennen und auf Parlamentsfähigkeit hoffen darf. Gysi und Bisky stehen für den von den Versprechungen der Marktwirtschaft enttäuschten und Kompensation verlangenden Osten. Oskar Lafontaine bedient wie kein anderer die westlinke Suche nach der verlorenen Unschuld vergangener Zeiten. Sein politischer Wiederaufstieg, so paradox es klingen mag, begann bereits mit seinem demonstrativen Rückzug aus allen Ämtern, gleich nach der Übernahme der Regierung durch Rot-Grün, den er mit der heroischen Geste eines Mannes inszeniert hatte, der an der fehlenden Intelligenz der anderen und am Widerstand des internationalen Finanzkapitals, nicht aber an sich selbst gescheitert war. Deshalb darf der Attac-Propagandist Mathias Greffrath unter der Überschrift »Was ist Links?« (in der Zeit) sieben Jahre danach allen Ernstes behaupten, dass »die Steuerleute des ökonomisch-ideologischen ›Imperiums‹ Ansätze der Bürgergesellschaft gegen den Markt verhindert« hätten, während Lafontaine »die politische Re-Regulierung der Weltmärkte« im Sinn gehabt habe – allerdings sei »schon die Absichtserklärung politisch tödlich« gewesen. Eine linke Dolchstoßlegende, die nicht nur das Hasardeurhafte und Verantwortungslose an Lafontaines Aktion unterschlägt.

Damals hatte Lafontaine nämlich seiner (behaupteten) Opposition gegen das westliche Eingreifen in die Jugoslawienkriege die Probe auf moralische Dignität ebenso erspart wie seinem keynesianischen Wirtschaftprogramm den Beweis auf Wirklichkeitstauglichkeit. Heute verkauft der Ex-Kanzlerkandidat, Ex-SPD-Vorsitzende und Ex-Superminister eben diese Positionen als Alternative zum neoliberalen Einheitskurs der Berliner Parteien und passt sie in den globalisierungskritischen Generaldiskurs ein. Was ein vom Willy Brandt-Enkel zum Bild-Kolumnisten abgestiegener politischer Abenteurer wirklich im Sinn hat, erfahren wir aus seinen Brandreden. Wenn der neue Volkstribun die Immigranten ins Visier nimmt, die deutschen Arbeitern und ihren Familien den Arbeitsplatz raubten, tut er das nicht nur, um am rechten Rand politökonomischer Unzufriedenheit nach Stimmen zu fischen. Das Spiel mit der Nazi-Rhetorik läuft letzten Endes auf eine Politik ökonomischer und kultureller Abschottung des alten Europa hinaus – die praktische Konsequenz der Dauerpropaganda gegen Lohndumping und Sozialabbau. Während die Gegner der europäischen Integration in Frankreich ungeniert den »plombier polonais« als Sündenbock präsentieren, belässt es Lafontaine beim anonymen »Fremdarbeiter«. Hinter beiden Eindringlingen verbirgt sich jedoch der arme Schlucker aus Osteuropa und seine vielen Verwandten; demnächst, so muss man befürchten, wird der Zigeuner aus dem beitrittsbereiten Rumänien am Pranger stehen, bevor der Türke an die Reihe kommt.

Das mit fremdenfeindlichen Parolen angefachte Ressentiment gegen Menschen aus dem Osten und Süden, die das Armutsgefälle über Migration zu überwinden beginnen, verbindet sich im Volk mit der düsteren Ahnung, dass Massenarbeitslosigkeit, Schwarzarbeit und Arbeitsimmigration irgendwie zusammenhängen. Aber statt nach europäischen Antworten auf diesen unbestreitbaren Sachverhalt zu suchen, hat unsere Linke das Problem der ökonomisch motivierten Armutsflucht zunächst moralisch auf ein Asylproblem und dann auf den Schutz der Einheimischen gegen Lohn- und Sozialdumping heruntergebracht. Mit der Folge, dass das derart verkürzte Gerechtigkeitsthema nun den Stoff für populistische Mobilisierungen gibt.

Hier kocht nicht nur die Rechte ihre braune Suppe, sondern auch die Retrolinke um Lafontaine und Gysi, wobei der erste gezielt »das Rechte im Linken« (Oskar Negt) anzapft und der zweite den Sympathiebonus einfährt, den er immer noch genießt. Diese beiden Selbstdarsteller, die in schwierigen Zeiten politische Verantwortung gescheut haben wie der Teufel das Weihwasser, dürfen jetzt wieder als sozialistische Heilsbringer auftreten und dem Drama des begabten Kindes im Vorruhestandsalter ein weiteres Kapitel anfügen, indem sie in die Rolle des Mannes aus dem Volke treten, der die Interessen der »kleinen Leute« vertritt.

Doch der volkstümliche Antikapitalismus ist gar nicht so antikapitalistisch, wie er sich geriert – und in seiner Sozialnostalgie alles andere als kosmopolitisch. Eigentlich geht es darum, den Sozialkapitalismus westeuropäischer Prägung – die »soziale Marktwirtschaft« oder »das europäische Sozialstaatsmodell« – für die eigenen Leute zu reservieren und entsprechende Abwehrzäune zu errichten. Das erklärt die für die traditionell internationalistisch eingestellte Linke doch erstaunliche Weigerung, ihre Lieblingsforderung nach sozialer Gerechtigkeit im globalen Maßstab zu buchstabieren. Dagegen sträubt sich die neue Volksfront aus mittelmäßigen Intellektuellen, mäßig revolutionären Arbeitern und sozialistischen Träumern, da sie die Gerechtigkeitsfrage dann anders beantworten müssten, als sie es tun. Im Grunde ihres Herzens hoffen sie, das Gespenst der Globalisierung möge endlich vorübergehen und die privilegierte Welt der Bundesrepublik zurückkehren. Am Wohlstand und der Zivilisiertheit der guten alten BRD konnte sich auch der Berufsoppositionelle herzlich erfreuen, weil er für internationale Solidarität, bewaffneten Befreiungskampf und Entwicklungshilfe eintreten und auch sonst den Armen dieser Welt alles Gute wünschen durfte. Sobald die Ausgebeuteten, Unterdrückten und Entrechteten dieser Erde aber die Wanderschuhe anziehen, um in den kapitalistischen Paradiesen ihr Glück zu machen, ist offenbar Schluss mit lustig.

Welche Blüten das antikapitalistische Ressentiment unter den Bedingungen der Globalisierung treiben kann, hat uns der in allen Feuilletons irrlichternde Slavoj Zizek (in seinem Zeit-Kommentar zur Visa-Affäre) wieder einmal demonstriert: Die Zuwanderung aus Osteuropa entspringe weder dem Wunsch der Zuwanderer noch einer naiven Multi-Kulti-Idee von Rot-Grün, sondern einer perfiden Strategie der Kapitalisten, um gezielt Löhne und Sozialleistungen zu drücken. Sic!

 

… und enthüllt die romantischen Vorbehalte gegenüber der Moderne

Zu Recht erhebt Rot-Grün den Anspruch, für ein republikanisches, seiner Geschichte bewusstes, weltoffenes Deutschland zu stehen und ökologisch, kulturell sowie im Staatsbürgerrecht und in der Einwanderungspolitik einer überfälligen Modernisierung die Tür geöffnet zu haben. Das so hoffnungsvoll begonnene Projekt ist erst ins Schlingern geraten, als diese Öffnung zur Moderne auf einen sozial- und wirtschaftspolitischen Korporatismus stieß, der im kollektiven Unbewussten der Nation stabil verankert ist. Geld verdienen, Profit machen und Konkurrenz gelten in Deutschland als irgendwie anrüchig, weswegen der Kapitalismus bei uns keinen guten Ruf genießt. Anders als in den urkapitalistischen USA, dem Mutterland der Moderne, oder in den Schwellenländern und neuen Tigerstaaten des Südens (wo die demokratische der kapitalistischen Entwicklung freilich um einiges hinterher hinkt) oder in Osteuropa mit seinen realsozialistischen Erfahrungen und entsprechenden Freiheitsbedürfnissen, haben sich hierzulande die romantischen Vorbehalte gegenüber der Moderne gehalten.

Im Schlagwort von der »sozialen Kälte«, einem system- und globalisierungskritischen Kampfbegriff erster Güte, steckt mehr identitätsstiftende Romantik, als so mancher aufgeklärte Kritiker des Neoliberalismus sich träumen lässt. Dabei wissen wir doch längst (und hätten es auch vor Götz Alys Buch schon wissen können), dass auch die faschistische Massenbewegung in Deutschland von einem antibürgerlichen, antikapitalistischen, sozialrebellischen Ressentiment getrieben war, das vom nationalsozialistischen Wohlfahrtsstaat durchaus bedient und in der wärmenden Volksgemeinschaft nur allzu gerne ausgelebt wurde. Und ebenfalls sollte uns zu denken geben, dass ein vergleichbares Affektsyndrom im totalitären Islamismus zu finden ist. Das Zerrbild vom ökonomisch habgierigen, sozial kaltherzigen und moralisch verderbten Westen beruft sich nicht zuletzt auf die Traditionen der spezifisch deutschen Modernekritik.(1)

Karl Marx teilte die romantischen Vorbehalte gegen die Moderne bekanntlich nicht. Ganz im Gegenteil, im Kommunistischen Manifest hat er nicht nur die Umrisse der kapitalistischen Globalisierung vorgezeichnet, sondern diese in der unvergleichlichen Dynamik dieses Wirtschaftssystems begründete Entwicklung ausdrücklich begrüßt: Die Universalisierung der Warenform und die Herstellung des Weltmarkts seien Voraussetzungen für die Emanzipation der Menschheit. Angesichts einer unübersehbaren Renaissance des Marxismus sollten wir uns diese verloren gegangene Einsicht des großen Kapitalismustheoretikers noch einmal aneignen und ihr hinzufügen: Das Gespenst des Kommunismus hat sich historisch zum Glück verflüchtigt, aber das Gespenst der repräsentativen Demokratie (vgl. Dick Howard, The Specter of Democracy) könnte an seine Stelle treten. Vielleicht würde sich damit die ideologische Leere füllen lassen, die der unbewältigte Utopieverlust auf der Linken hinterlassen hat. Und wir hätten statt der halbierten Moderne wieder eine ganze – und nebenbei wieder eine geschichtsphilosophische These, von der es sich lohnt, sie gegen ihre totalitäre Antithese entschieden zu verteidigen.

 

1

Avishai Margalit und Ian Buruma haben in ihrem Buch Okzidentalismus. Der Westen in den Augen seiner Feinde darauf hingewiesen, dass die in islamistischen Kreisen intellektuell höchst einflussreiche Muslimbruderschaft in Ägypten, die dieses hasserfüllte Klischee verbreitet, unter anderen auch die Lektüre von Ernst Jünger oder Martin Heidegger pflegt.

 

 

»Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur«, Ausgabe 4/05.