Das französische und
niederländische Nein zur Verfassung,
der gescheiterte Finanzgipfel in Brüssel – die Union scheint Konflikte zu
benötigen, um ins politische Bewusstsein breiter Kreise ihrer Bürger zu
gelangen. Viel Papier wurde seither um die Feststellung der Krise bedruckt,
über die ein Kommentator der Washington Post sanft spottete, sie wäre
schon längst da, nur hätten die Europäer sie in ihrer ängstlichen Bedachtnahme
auf alle möglichen Stati quo, aus denen alle möglichen Gruppen ihren Nutzen
ziehen, nicht wahrgenommen (»The End of Europe«, 15.6.). Wobei der Autor von
etwas anderen Problemen spricht als die meisten europäischen
Krisendiagnostiker. »Europa geht langsam aus dem Geschäft«, wegen der
zunehmenden Überalterung und seinen Problemen mit der Immigration; beides wirke
sich lähmend auf die Wirtschaft aus. Europa möge keine Ausländer, fürchte die
Globalisierung und schrecke vor größeren Veränderungen zurück. Sein Ausländerproblem
beginne in der Union selbst, zwischen Ost- und Westeuropa.
Für diese Differenz steht
neuerdings der polnische Klempner, ein Beau mit Muskeln und Rohrzange, auf
Plakaten des polnischen Tourismusamtes an den Fernstraßen nahe den
deutsch-polnischen Grenzen und verkündet auf Französisch: »Ich bleibe in Polen.
Kommt zahlreich.« Es ist die ironische Antwort auf die nationalistische Kampagne
des Radikalkatholiken Philippe de Villiers. Frankreichs reformbedürftiger
Arbeitsmarkt weist hohe Arbeitslosenzahlen auf, für den »Souveränisten«
Resultat der zügellosen Zuwanderung, womit er Anhänger bis weit hinein in die
Gewerkschaften findet. Das Schreckgespenst des polnischen Lohndumping- oder gar
Schwarzarbeiters ist in Zahlen geringfügig: Laut FAZ arbeiten nur 150
Polen in Frankreich als Klempner. »Von 65000 Polen, die seit dem EU-Beitritt am 1. Mai
2004 in andere EU-Staaten auswanderten, gingen nach Angaben des polnischen
Arbeitsministeriums nur rund 5500 nach Frankreich.«
Eine »arg enttäuschte Liebe«
nennt der Warschauer Erfolgsautor Antoni Libera die Beziehung zwischen
Frankreich und Polen (Welt, 2.6.) und wird von Adam Krzeminski in der Polityka
am 31.5. sekundiert: »Die Franzosen gelten als Partner, auf die man im
Ernstfall nicht unbedingt zählen kann und die sich in der Stunde der Wahrheit
der Verantwortung entziehen.« Das waren freilich unmittelbare Reaktionen,
verständlich in ihrer Gereiztheit, denn die in Gutsherrenmanier vorgetragene
Polenschelte Chiracs anlässlich der Entscheidung für Bushs Irak-Invasion oder
gar das »Trojanische Pferd« des EU-Parlamentspräsidenten Joseph Borrell
anlässlich der polnischen Ukraine-Diplomatie sind noch nicht vergessen, woran
Adam Michnik im L’Express-Interview (6.6.) erinnert – bezeichnenderweise
unter der Headline: »Ehre dem polnischen Klempner«.
In diesen Erregungen macht sich lange Angestautes Luft. Die »Neuen«
bringen Argumente vor, die die »Alten« gar nicht gern hören – wie es überhaupt
ein Merkmal der Alten ist, den Neuen nur schlecht oder gar nicht zuzuhören. Das
kritisierte schon anlässlich des Beitritts der Zehn Bronislaw Geremek in einem
Beitrag (»Wider die Erweiterungsskepsis«) in der Zeitschrift Osteuropa
(5-6/04): »Die Vereinigung Europas ist durch den gesellschaftlichen Kampf im
Osten möglich geworden, aber sie konnte nicht von diesem Augenblick des
Enthusiasmus und der Freiheit profitieren, sie fand keine klare Unterstützung
bei den europäischen politischen Eliten.« Auch bei den intellektuellen Eliten
wurde der osteuropäische Beitrag vernachlässigt oder gar übergangen. Stefan
Auer rekurriert in derselben Nummer auf »das Erbe von 1989«: »Die Erfahrungen
der postkommunistischen Nationen Ostmitteleuropas besetzen in den Diskussionen
über die entstehende europäische Identität keine prominente Stelle. Habermas’
Versuch europäischer Identitätsbildung beruht auf seiner antiamerikanischen
Haltung, auf dem Säkularisierungsgedanken, dem Ideal des Wohlfahrtsstaats und
dem Kampf der europäischen Völker für den Frieden, richtet sich aber, wenn
überhaupt, nicht an, sondern gegen die intellektuellen Dissidenten in Ostmitteleuropa.«
Auch in Habermas’ jüngster Stellungnahme zu Europas »Wahl-GAU« (»Europa ist uns
über die Köpfe gerollt«, SZ, 6.6.) kommt das andere Europa, aus dem ja
durchaus Impulse kommen, nicht vor.
Liegt es daran, dass Ideen
aus dieser Region nicht ganz ins gewohnte Denken der Fünfzehner passen? Konrad
Schuller verweist in der FAZ (3.5.) hinsichtlich der Grenzen Europas auf
alte historische Bündnisse, die im westlichen Denken einfach nicht bedacht werden.
In der polnischen Debatte spiele der 2000 verstorbene Herausgeber der
polnischen Exilzeitschrift Kultura, Jerzy Giedroyc, eine große Rolle mit
seiner Idee von »Polens großer Mission im Osten«, auf den sich sowohl
Kwasniewski und Parlamentspräsident Cimoszewicz auf der Linken als auch Jan
Rokita von der Bürgerplattform berufen. Giedroyc sah in der multikulturellen,
religiös toleranten polnisch-litauischen Adelsrepublik des 17. und 18.
Jahrhunderts ein Vorbild, sein »Gedanke, dass Polen der Europäischen Union
sowie der Nato vor allem deswegen beitreten solle, ›um die Ausdehnung dieser
Institutionen in den Osten voranzutreiben‹, ist in Polen Konsens. … Die Idee
des ost-mitteleuropäischen ›Raumes‹ bahnt sich gegenwärtig ihren Weg in die
Diskussion um die ›Finalität‹ der EU.« Dabei geht der Blick weit über die
Ukraine, Weißrussland und Moldawien hinaus. »Wenn die Türkei einmal Mitglied
der EU ist, werden Georgien, Armenien und Aserbeidschan unsere direkten
Nachbarn«, sagte Cimosziewicz.
Da mag das U-Wort die Runde
machen – aber hat nicht auch der völlige Mangel an Utopien die Diskussion um
Sinn und Zweck der EU-Verfassung trocken gelegt? Außerdem scheint zwischen dem
Baltikum und Malta noch ein frischerer Wind zu wehen, nicht nur, was das Denken
in großzügigen Perspektiven betrifft, sondern auch das Handeln. So fasste die NZZ
am 29.4. ein Jahr Mitgliedschaft als Erfolg für die EU zusammen, insbesondere auch
im außenpolitischen Handeln: »Unter der Führung Polens … versuchten etliche
ostmitteleuropäische Staaten frühzeitig, vermittelnd und steuernd auf die epochalen
Ereignisse in Kiew Einfluss zu nehmen. Anders als die westeuropäischen
Politiker, für die die Ukraine jahrelang nicht mehr als ein Ärgernis war,
erkannten Polens Staatschef Kwasniewski und sein litauischer Amtskollege
Adamkus sofort die Bedeutung der ›orangefarbenen Revolution‹ und verhalfen mit
geschickter Mediation dem diskreditierten Regime Kutschma zu einem zwar nicht
ehrenhaften, aber einigermaßen friedlichen Abgang. Von dieser erfolgreichen
Arbeit profitierte indirekt auch die EU, die den Ostmitteleuropäern eiligst
Solana hinterherschickte.« Denn in den Polen mutmaßen manche Amerika-Kritiker
in der EU – siehe den Borrell-Fauxpas – eine fünfte Kolonne der USA; und
überhaupt stünde die hohe Diplomatie nur den erfahrenen Großen zu. Doch, so
auch Dominik Hierlemann in der Financial Times Deutschland am 20.4.,
»das Vertrauen der Ukrainer genossen in erster Linie die Polen. Seit Jahren
schon halten sie engen Kontakt zu allen politischen Kräften. … Warschau ist und
bleibt aufgrund seiner geographischen Lage, seiner Geschichte und seiner Kultur
die wichtigste Brücke zwischen der Ukraine und dem Westen Europas.«
Von einer »gefährlichen
Situation« spricht Günther
Verheugen, Vizepräsident der EU-Kommission in einer klugen Rede an der
Humboldt-Universität in Berlin (»Europa ist dort stark, wo es gemeinsam
handelt«, 30.6.; http://europa.eu.int/rapid/pressReleasesAc
tion.do?reference=SPEECH/05/405&format=HTML). Es habe wenig Sinn, tausend
negative Beispiele zu suchen und arrogant die Nase zu rümpfen über ein osteuropäisches
Volk, über »die Tschechen« oder »die Polen«. In einem Strategiepapier des
Münchener »Centrums für angewandte Politikforschung (CAP)« vom Frühjahr 2005
wird ein –freilich etwas statisches – Bild gezeichnet, das die unterschwelligen
Ängste des wohlhabenden Westens andeutet: »Die Erweiterung von 2004 hat das
durchschnittliche Wohlstandsniveau der EU verringert und die
Einkommensunterschiede zwischen den ärmsten und reichsten Mitgliedstaaten
verdoppelt. Entsprechend größere Unterschiede in den Faktorkostenrelationen und
damit Wettbewerbspositionen der nationalen Ökonomien beschränken die
gemeinschaftlichen Spielräume für weitere Integrationsschritte. Ärmere Mitgliedstaaten,
deren komparative Vorteile auf niedrigeren Lohnkosten und Steuertarifen basieren,
sind in geringerem Maße an sozial- und umweltpolitischen EU-Standards
interessiert, die ihre Wettbewerbsfähigkeit verschlechtern. … In den reicheren
Mitgliedstaaten wird die Niedriglohn- und Niedrigsteuerkonkurrenz aus Osteuropa
umgekehrt als Bedrohung der eigenen Wirtschafts- und Sozialordnung
wahrgenommen. In diesem öffentlichen Klima weigern sich Nettozahlerstaaten, die
ihre finanziellen Möglichkeiten angesichts eigener Haushaltslöcher ohnehin
überfordert sehen, die zahlreichen neuen Mitgliedstaaten weiter so wie die
bisherigen Kohäsionsländer zu unterstützen.«
Aber was sagt schon der
Vergleich der Einkommensunterschiede aus? Laut einer in Japan, den USA,
Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Österreich und Schweden durchgeführten
Studie des tschechischen Außenamtes sind »Tschechen arme Dorfbewohner, die
Sonnenblumenöl und Turmuhren herstellen« (Mlada fronta Dnes, 4.7.). Doch
stellt Jan Cervenka vom Meinungsforschungsinstitut CVVM dazu fest, »dass die
Eigentums- und Einkommensunterschiede bei weitem nicht so groß sind und hier
zum Beispiel das Problem der Armut relativ gering ist. Der Anteil der Menschen,
die unter der Armutsgrenze leben, beträgt nach offiziellen Angaben acht
Prozent.« Damit liegt Tschechien noch vor dem reichsten Staat der EU, Luxemburg.
Außerdem haben die Neumitglieder einen enormen Marathon an Übernahmen der
EU-Normen für ihre Volkswirtschaften und Gesellschaften hinter sich. Dass sie
ihre eigenen wirtschaftspolitischen Maßnahmen treffen, etwa in der
Steuerpolitik, wie jedes Altmitglied auch, ist ihre Angelegenheit. Sie tun es
mit offensichtlichem Erfolg, streiten auch untereinander reichlich darüber wie
etwa Tschechen und Slowaken über die Steuer- und Sozialpolitik und treten
neuerdings auch mit deutlicher Kritik auf. In der polnischen Wprost vom
12.6. stellt Jerzy Marek Nowakowski fest: »Die Bewohner des alten Europa
fürchten die Folgen der Erweiterung. Ihre sozialistische Rentnermentalität
führt zur Furcht vor Konkurrenz beim Anstehen für Sozialleistungen und lässt
sie nicht erkennen, dass die neuen Mitgliedstaaten der EU auch eine neue
wirtschaftliche Dynamik bringen. … Frankreich klebt an seinem Wirtschafts- und
Sozialmodell, das sich in einer tiefen Krise befindet. Dieses Modell beruht auf
der Macht der Bürokratie. Die Tatsache, dass es veraltet ist, bedeutet noch
lange nicht, dass die Franzosen diese Lage akzeptieren und bereit sind, sich
den Herausforderungen der heutigen Welt zu stellen.«
Über Ostmitteleuropa spricht Verheugen in seiner Rede mit Hochachtung:
»Diese Millionen Menschen haben Europa die Freiheit wiedergeschenkt. Diesen
Millionen Menschen in den mittel- und osteuropäischen Reformstaaten schulden
wir in Wahrheit, dass heute ein großer Teil des Kontinents stabil ist und sich
auf schnellem Aufholkurs befindet. Wie wäre denn die Lage in Deutschland, wenn
dieses Ziel nicht erreicht worden wäre, wenn wir direkt vor unserer Haustür
keine Wettbewerber hätten, die uns auch auf dem einen oder anderen Gebiet mal
herausfordern, sondern ein Gebiet der Hoffnungslosigkeit, der Armut, der
Zweitklassigkeit.«
Die EU-Verfassung liegt
derzeit in Polen wie auch in den anderen ostmitteleuropäischen Ländern auf
einem Umfragetief. Der Motivmix ist ein anderer als in Frankreich oder den
Niederlanden. Adam Michnik bezeichnet die Verfassung als »gestorben«, andere
wollen Teile von ihr recyceln; Adam Krzeminski würde sie gern durch ein
Referendum angenommen sehen, um den stotternden deutsch-französischen
Zweitakter durch »eine polnische Einspritzpumpe vielleicht wieder auf Trab (zu)
bringen« (Zeit, 16.6.). Vielleicht wäre ein Check durch die Argumente
der nennenswerten politischen Kräfte aller EU-Staaten sinnvoll, um die
EU-Bürger mit der Vielzahl der Positionen vertraut zu machen. Es macht auch
wenig Sinn nach Sündenböcken zu jagen – immer findet sich, je nach
Zielvorstellung, ein hässlicher Kapitalist mit dicker Zigarre oder eben ein
polnischer Klempner. »Wir wollen eine Gesellschaft, die keinen ausklammert«,
fordert dagegen der tschechische EU-Sozialkommissar Vladimir Spidla (Zeit,
25.5.), und Erhard Eppler sieht den Königsweg darin, »Markt und Staat ins Lot
bringen« (FR, 17.6.), um die Bürger wieder für die EU zu gewinnen.
»Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur«, Ausgabe
4/05.