Die zweite Natur – oder über die Notwendigkeit einer ressourcenbegrenzten Wirtschaft
Unser Autor betrachtet
den Kapitalismus aus einer naturgeschichtlichen Perspektive, in der der zweite
Hauptsatz der Thermodynamik, also das Entropiegesetz, eine zentrale Rolle
spielt. Die kapitalistische Marktwirtschaft vermochte es, die externen
Energiequellen anzuzapfen und in scheinbar kostenlose Ressourcen zu verwandeln.
Aber die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Kapitalismus in nicht allzu ferner
Zukunft zu Tode siegt, weil er seine eigene Endlichkeit hervorproduziert, ist
ziemlich hoch. Nur eine ökologische Ökonomie kann diesem Prozess Grenzen
ziehen. Wäre die Einführung eines CO2-Budgets ein praktikabler
Schritt?
Den Industriekapitalismus,
der mit wachsendem Erfolg die Lebensgrundlagen auf der Erde aufzehrt, ist nur
zu verstehen, wenn man ihn als Wiedergänger der Natur begreift, die in einer
jahrmilliardenlangen Evolution auf der Erde entstanden ist. In dieser Perspektive
wird schlagartig deutlich, dass die Industriezivilisation wie eine zweite, vom
Menschen für den Menschen geschaffene Natur die erste Natur an den
biosphärischen Rand drängt, sie aushungert, austrocknet, ausräuchert. Die
haushohe Überlegenheit der zweiten Natur – des menschlichen Ökosystems – ist
die des gedopten Wettläufers: Sie hat und nutzt eine kurzfristig
unerschöpfliche Quelle billiger (d. h. mit minimalem Aufwand nutzbarer)
Energie; ihr evolutionäres Veränderungstempo ist dank der Kultur, also eines
immateriellen, symbolischen Vererbungs- und Selektionssystems, auf das
Vieltausendfache gesteigert; die Mobilisierung der Energie oder allgemeiner
gesagt der negativen Entropie ist so geschickt mit der symbolischen Spiegelwelt
von Geld und Kapital verkoppelt, dass exponentielles Wachstum vorprogrammiert
ist.
Im ersten Teil
(Untersuchung) skizziere ich die hervorstechendsten Merkmale, die die kapitalistische
Marktwirtschaft und die Natur verbinden; im zweiten Teil (Analyse/Diagnose)
zeige ich die Konstruktionsfehler auf, durch die sich die zweite Natur von der
ersten Natur unterscheidet und die sie zu einem rogue system, einem
entarteten Zerrbild der ersten Natur machen; im dritten Teil
(Therapievorschlag) stelle ich einige Überlegungen an, ob und wie diese zweite
Natur – nicht weniger gefährlich und bedrohlich als die erste – gebändigt
werden könnte (so wie die Menschen der Industrieländer die erste Natur weitgehend
gebändigt und in ihren Dienst gestellt haben).
Das ökonomische Prinzip
Das ökonomische Prinzip galt
schon einige Milliarden Jahre, bevor ein Ökonom es formulieren konnte. Seine
Forderung lautet: den größtmöglichen Effekt (z. B. Fortpflanzungserfolg) mit
geringstmöglichem Aufwand erzielen. Ein Organismus kann nur überleben, wenn der
Zugewinn an Energie oder Syntropie den Aufwand an Energie oder Syntropie
längerfristig übersteigt. In der menschlichen Wirtschaft entspricht dem das
Maximierungsverhalten des Kapitalisten, das Rationalkalkül, das Bestreben, mit
geringstmöglichem Aufwand ein größtmögliches Ergebnis zu erzielen.
Das Wirken des ökonomischen
Prinzips in der Natur lässt sich vor allem als Fehlanzeige beobachten: Eine
Art, die bei ihrer Nahrungssuche mehr Energie verbraucht als sie einsammelt,
hat keine Überlebenschance. Ihre Überlebenschancen steigen, wenn sie mit
relativ (auf die Konkurrenz bezogen) geringem Aufwand einen großen
Fortpflanzungserfolg erzielen kann (z. B. Bakterien oder Viren, die eine
Population befallen, die keine Resistenz gegen sie hat).(1)
Die vielen ausgestorbenen
oder aussterbenden Arten (rote Liste), die wir kennen, illustrieren die
Tatsache, dass der moderne (industrielle) Mensch mit seiner gezinkten Kostenrechnung
die evolutionär entstandenen Arten mit der Effizienz seiner
Energie-(umfassender: Syntropie-)Aneignung um ein Vielfaches übertrifft.
Zugriff auf Energie
Der gemeinsame »Urgrund« von
Wirtschaft und Natur, das fundamentale Gesetz, dem sie (ebenso wie alle
Bewegungen und Veränderungen in der physischen Welt) unterliegen, ist der
zweite Hauptsatz der Thermodynamik. Der zweite Hauptsatz, das Entropiegesetz,
besagt, dass die Entropie (das heißt die Menge nicht mehr nutzbarer Energie in
einem geschlossenen System) immer zunimmt. Das bedeutet, dass alle Bewegung und
Veränderung, die durch freie Energie verursacht wird, zum Erliegen kommt.
Entropie ist das unausweichliche Schicksal, dem alles, was existiert,
unterworfen ist: Zerfall, Niedergang, Einebnung, Tod. Diese Tendenz der
physischen Welt, von der Ordnung zur Unordnung, vom Konzentrierten zum Diffusen
überzugehen, wird durch den zweiten Hauptsatz beschrieben. Das bekannteste und
einleuchtendste Beispiel ist, dass aus jeder konzentrierten Energieform im Lauf
der Zeit gleichmäßig im Raum verteilte und damit nutzlose Abwärme wird.
Die physische Welt insgesamt
unterliegt dem zweiten Hauptsatz ohne Wenn und Aber; die Evolution und
Selbsterhaltung des Lebens (einschließlich menschlicher Kulturen) verdankt sich
der Selbstorganisation, die sich über das »Grundgesetz des Niedergangs«
(Christian Schütze) hinwegzusetzen scheint.
Die nicht-lineare
Thermodynamik, die von Ilya Prigogine in den Fünfziger- und Sechzigerjahren als
das physikalische Erklärungsmodell für das Phänomen Selbstorganisation
entwickelt wurde, ist die Antwort des letzten Jahrhunderts auf die ewige Frage
»Was ist Leben?«. In einem kaum beachteten Büchlein dieses Titels hat Erwin
Schrödinger 1944 die Frage prinzipiell beantwortet. Lebende Organismen
unterscheiden sich von der unbelebten Natur dadurch, dass sie innerhalb ihrer
Außengrenzen die Entropie verringern können. Gleichzeitig vermehrt sich die
Entropie in ihrer Umgebung um den gleichen Betrag, womit dem universal gültigen
Entropiegesetz Genüge getan ist.
Schrödinger bezeichnete die
Entropieverringerung als negative Entropie; heute hat sich im englischen
Sprachgebrauch low entropy eingebürgert, im deutschsprachigen Raum
spricht man auch von Syntropie (siehe die Erläuterung im Kästchen).(2)
Das in erster Linie physikalisch-chemische Theorem der Selbstorganisation, das
sich aus diesem revolutionären Erklärungsmodell entfalten konnte, stellt die
Erklärung von biologischen ebenso wie von gesellschaftlichen Prozessen auf eine
neue Grundlage und erlaubt eine elegante Verknüpfung von wirtschaftlichen und
physischen Vorgängen.
Die Selbstorganisation
beruht auf dem Zustandekommen von positiv rückgekoppelten Prozessstrukturen;
aus der Ursuppe dieser Prozessstrukturen mit ihrer (zuweilen fehlerhaften)
Replikationsfähigkeit emergiert Evolution, also das Überleben der Überlebensfähigsten
und die Entfaltung der Vielfalt des Lebens durch Anpassung an immer neue
Umweltherausforderungen.
Die Selektion der
Überlebensfähigen steht unter dem Gesetz, dass selbstorganisierende Systeme
oder Organismen nur unter den Bedingungen des oben genannten ökonomischen
Prinzips entstehen und fortdauern können. Die strenge Ökonomie der Natur gilt
unerbittlich für alle Kreaturen; sie ist die fundamentale Randbedingung, durch
die der Wettbewerb zwischen den Arten sowohl ermöglicht als auch eingegrenzt
wird – eingegrenzt durch den vorgegebenen Energiefluss der Sonneneinstrahlung
auf der Erdoberfläche (durchschnittlich 350 Watt pro Quadratmeter). Diese
Begrenzung ist der Kern der strengen Ökonomie der Natur; die Arbeit, die
notwendig ist, Energie von so geringer Dichte einzusammeln, verbraucht
ihrerseits Energie und erhöht die Entropie. Leben kann also nur auf dem
schmalen und prekären Grat entstehen und sich erhalten, in dem Energiegewinn
und der dafür notwendige Energieverbrauch einen positiven Saldo ergeben.
Dagegen hat die
Industriegesellschaft den Dreh gefunden, externe Energiequellen so elegant
anzuzapfen, dass diese so gut wie kostenlos für sie fließen. Mit dem Einsatz
exosomatischer (körperfremder) Energie – Kohle, Erdöl, Erdgas – verschafft sich
der Mensch im Wettbewerb um Nahrung und Lebensraum Vorteile gegenüber anderen Lebewesen,
die diese, wenn sie urteilen und sprechen könnten, wahrscheinlich als unlauteren
Wettbewerb oder als Verstoß gegen die Regeln im Kampf ums Dasein bezeichnen
würden. Tatsächlich wird sich im Verlauf der weiteren Geschichte zeigen, dass
die Mitbewerber, nachdem der Mensch einseitig die Regeln geändert hat, einfach
keine Chance mehr haben. Sie unterliegen nach wie vor dem ökonomischen Prinzip,
das ihren Anstrengungen um Selbsterhaltung und Fortpflanzung enge Grenzen
setzt, während der Mensch mit technischen Mitteln, durch Kolonisierung anderer
Organismen und die Nutzung exosomatischer Energie, diesen Spielraum stetig
erweitert und sich damit einen Energiezuschuss besorgt, der ihm eine Vermehrung
und Ausdehnung seines Lebensraums auf Kosten anderer Arten ermöglicht.
Für die Entwicklung und Erhaltung
(und den Niedergang) menschlicher Sozialverbände ist das ökonomische Prinzip
ebenso grundlegend wie für die ganze übrige belebte Natur, auch wenn die
Kostenrechnung des menschlichen Stoffwechsels mit der Natur durch die
kulturelle Überformung so kompliziert, so kreativ, ja geradezu hermetisch
geworden ist, dass man ihr nur auf Umwegen auf die Schliche kommt. Die
kapitalistische Wirtschaftsweise ist nichts anderes als die Ausformung dieses
Prinzips in ein kunstvolles Geflecht von Institutionen, Prozessen und Werten im
Bereich der gesellschaftlichen Organisation.
Wettbewerb
Ebenso wie in der Natur wird
der Zwang zur Maximierung/Optimierung in der Wirtschaft durch den Wettbewerb
konstitutiert, der seinerseits als emergentes Phänomen jeder Situation erscheint,
in der selbstorganisierende Systeme unter der Bedingung von Knappheit
evolvieren.
Das Darwin-Prinzip
Das evolutionäre Prinzip,
das durch Auslese zum Überleben der Fittesten führt, exekutiert die Ökonomie
der Natur: Überleben wird der, der mit dem geringstmöglichen Aufwand den
größtmöglichen Syntropiegewinn erzielt.
Der Wachstumszwang in der
Wirtschaft funktioniert nach der darwinistischen Vorgabe: Nur die Unternehmen
und nur die Länder, die am schnellsten wachsen, überleben. Technologische
Veränderungen geben kein Pardon: Wer sich weigert, sich ihnen anzupassen,
verschwindet von der Bildfläche.
Kostenrechnung
Das ökonomische Prinzip, die
Energiebilanz, die zumindest ausgeglichen, längerfristig aber immer positiv
sein muss, spiegelt sich in der Buchhaltung oder moderner gesagt: im
betrieblichen Rechnungswesen wider, deren letztes Ziel darin besteht, Aufwand
und Ertrag gegenüberzustellen und peinlich darauf zu achten, dass der Saldo
längerfristig immer positiv bleibt.
In diesem Vergleich zwischen
erster und zweiter Natur sollte man sich nicht davon beirren lassen, dass es in
der ersten Natur keine explizite Kosten-»Rechnung« gibt. Was der Mensch als
Hunger, Durst, Erschöpfung empfindet, könnte man vielleicht als das einem
Organismus eigene Analogon zur Kostenrechnung eines Unternehmens oder einer
Volkswirtschaft betrachten. Vermutlich gibt es auch bei höheren Tieren ein
ihrem Bewusstseinsniveau entsprechendes »Sammelgefühl« für die verschiedenen
physiologischen Signale, wie niedriger Blutzuckerspiegel und leerer Magen, die
die entsprechenden Verhaltensweisen wie Nahrungssuche auslösen. Bei niedereren
Lebewesen kann man wohl eine unmittelbare Verschaltung zwischen physiologischen
Parametern und Verhaltensmustern annehmen. In sozialen Gebilden, denen diese
physiologische Rückkopplung abgeht, muss eine eigenständige (symbolische)
Kostenrechnung an ihre Stelle treten – und sie kann sich natürlich nur bei
Einheiten entwickeln, die zur Symbolverarbeitung fähig sind.
Die Kostenrechnung ist das
wichtigste, weil überlebenswichtige Steuerungsinstrument des Unternehmens. Die
Gegenüberstellung von Einnahmen und Ausgaben zeigt an, ob das Unternehmen
zumindest seine Kosten deckt. Ohne Kostenrechnung wäre ein Unternehmen blind
und in jedem Augenblick, ohne es zu wissen, vom Sturz in den Abgrund der Pleite
bedroht. Die Kostenrechnung ist das Organ, das überwacht, dass das ökonomische
Prinzip beachtet wird, weil seine Vernachlässigung – ebenso wie in der Sphäre
der Biologie – den Untergang bedeutet.
Investitionen
Investitionen, als
allererstes die Schaffung von Produktionsanlagen, sind die Voraussetzung dafür,
dass ein Unternehmen überhaupt produzieren kann. Viele weitere Investitionen,
nämlich in Marktforschung, Produktentwicklung, Konstruktion, Management, Informationstechnologie,
Finanzverwaltung, Vertrieb, um nur einige der wichtigsten zu nennen, sind
notwendig, wenn das Unternehmen einen Platz auf dem Markt finden soll. Nach
diesen Anfangsinvestitionen sind immer wiederkehrende Investitionen notwendig,
um abgenutzte Teile oder veraltete Maschinen zu ersetzen (s. u. Punkt
Abschreibung) und um durch Schulung und Weiterbildung des Personals, durch
organisatorische Veränderungen, durch die Verbesserung vorhandener und die
Entwicklung neuer Produkte die Marktposition zu erhalten.
Ein Maßstab für die
Gesundheit eines Unternehmens ist, wie viel Geld es (idealerweise aus dem
Cashflow, aber auch aus Krediten) für Investitionen bereitstellen kann.
Investitionen sind die notwendige Voraussetzung für die Erträge der Zukunft.
Die Investitionen des
Staates, für die wir mehr oder minder bereitwillig Steuern zahlen, dienen nicht
nur (wie Verkehrsmittel, Parks, Theater, Sportanlagen) dem Komfort und der
Lebensqualität, sondern sie sind auch (z. B. Infrastruktur, Bildungs- und Forschungseinrichtungen,
medizinische Versorgung, effiziente Verwaltung) die Grundlage für die künftige
Produktivität der Gesellschaft, also ihre Fähigkeit, Einkommen zu erzielen.
Gibt es so etwas wie
Investitionen in der Natur? Auch wenn wir dafür ganz andere Namen verwenden,
ist ganz offensichtlich, worum es sich handelt. Es ist zum Beispiel der
Wasserkreislauf, der dafür sorgt, dass die Süßwasservorräte der Erde immer
wieder mit frisch gereinigtem Wasser aufgefüllt werden; oder es ist der
Mutterboden, von dem die sauerstoffspendende Vegetationsdecke der Erde lebt,
und den sie ständig reproduziert. Ganz allgemein gesagt, es sind die
Syntropiegeneratoren, die dafür sorgen, dass das Syntropieeinkommen auch in
Zukunft fließt. Die Biosphäre als Ganzes ist die Investition, die Leben
ermöglicht.
Nun gehen beispielsweise vom
Kapital Mutterboden jedes Jahr 75 Milliarden Tonnen durch Erosion verloren.
Wenn Bodenerosion und Entwaldung mit dem heutigen Tempo noch 40 Jahre
weitergehen, wird es 2030 960 Milliarden Tonnen weniger Mutterboden geben (das
ist die doppelte Menge des Ackerbodens der USA) und 440 Millionen Hektar
weniger Wald (das entspricht der halben Landfläche der USA) (WWI 1990:184).
Wird es, wie in jedem
ordentlich geführten Unternehmen, durch Investitionen ersetzt? Nein! Humusboden
kann nicht erzeugt werden (außer durch die Kompostierung von Pflanzen). In der
Natur bildet sich ein Zentimeter Mutterboden in etwa 1000 Jahren. Die 6
Milliarden Hektar, die jedes Jahr verloren gehen, könnte die Natur also unter
geeigneten Bedingungen in etwa 20 bis 50 000 Jahren ersetzen.
Auch das Prinzip
Abschreibung (Wertminderung für Abnutzung und zwecks Erhaltung des
Sachkapitals) spiegelt das Nagen der Entropie wider – also die Tatsache, dass
alles, was sich bewegt oder bewegt wird, sich abnutzt, an Wert verliert, an
Entropie zunimmt.
Gradienten
Das entropische Gefälle, aus
dem sich die Aneignung der Syntropie speist, erscheint in der physischen und
chemischen Welt in Form von Temperaturunterschieden, Konzentrationsunterschieden,
relativer Häufigkeit, hoher Abundanz. (Darin drückt sich vor allem der zweite
Aspekt des Entropiegesetzes, die Tendenz zum Übergang von Ordnung zu Unordnung
aus).
Die überragend wichtige
Quelle negativer Entropie ist die Sonne, von der die Erde energiereiche Strahlung
(»freie Energie«) von 6000o C empfängt. Auf der Nachtseite der Erde
wird niederwertige Energie in Form von langwelliger Strahlung (im Bereich
irdischer Umgebungstemperaturen von +30 oder +40o C bis -60o
C) an den Weltraum abgegeben, der mit seiner Hintergrundstrahlung von -270o
C eine geeignete Senke für die Aufnahme dieser irdischen Abwärme darstellt.
Eine andere Syntropiequelle
sind hohe Konzentrationen von chemischen Verbindungen. Chemische Verbindungen
können diffundieren, sich von ihrer Quelle her ausbreiten; je weiter man von
der Quelle entfernt ist, desto schwächer ist die Konzentration der Substanz.
Indem sie diesen Prozess umkehren, können Organismen (wie z. B. Schleimpilze)
eine Nahrungsquelle finden, indem sie einem Konzentrationsgradienten nach oben
folgen, also sich immer in die Richtung bewegen, in der die Konzentration
zunimmt.
Genau diese Möglichkeit
nutzt und institutionalisiert die Marktwirtschaft, indem sie die Gradienten
zwischen Mangel und Überfluss im sozialen Prozess der Preisbildung abbildet und
damit zu einem funktionierenden Informations- und Steuerungsmittel macht.
Knappheit eines Gutes drückt sich in steigenden Preisen aus; diese lenken in
einer Population, die die kommerziellen Regeln verinnerlicht hat, Ressourcen
und Kapital in die Produktion der als knapp gemeldeten Güter.
Knappheit und Abundanz
regeln die internationalen Handelsströme. Dort, wo sie nicht von der Natur in
Form von Rohstoffen und Bodenschätzen vorgegeben sind (Exporte der Agrar- und
Entwicklungsländer), werden sie durch den Know-how-Vorsprung der Industrieländer
künstlich geschaffen und aufrechterhalten (Exporte hochwertiger Industriegüter
aus den Industrieländern).
Bevölkerungsdynamik
Die zivilisierte Menschheit verhält
sich genau wie jede beliebige andere Population (z. B. von Algen, Bakterien
oder Hefepilzen), die sich bei Nahrungsmittelüberschuss explosiv vermehren, um
dann ebenso implosiv zusammenzubrechen (crash).
Die Ironie der Geschichte:
Im Gegensatz zu allen anderen Lebewesen hat der Mensch, nachdem er seit
Anbeginn der Zivilisation von einer malthusianischen Falle in die andere
taumelte, in der Neuzeit geniale Werkzeuge (Wissenschaft und Technologie)
entwickelt, die alle bisher geltenden geographischen und ressourcenmäßigen
Grenzen aufhoben – und sich damit eine Bevölkerungsexplosion von einer ganz
pikanten Qualität eingehandelt. Die Formel, die die immer wiederkehrenden
lokalen Zusammenbrüche durch den globalen Crash ersetzt, heißt IPAT:
Impact = Population x Affluence x Technology.
Das Ausmaß der
Naturzerstörung wird nicht wie bei Malthus allein durch das Wachstum der
Bevölkerung bestimmt, sondern durch das Produkt aus Bevölkerung und materiellem
Wohlstand oder Konsum gleich Ressourcenverbrauch. Das Wachstum der Weltbevölkerung
flacht sich zwar ab und wird möglicherweise bei 10 bis 12 Milliarden zum Stehen
kommen; wenn jedoch diese Weltbevölkerung mit der Ausbreitung des westlichen
Wirtschafts- und Konsummodells auch nur die Hälfte des Lebensstandards der Industrieländer
erreicht, wird sich der Naturverbrauch gegenüber heute versechsfachen (es sei
denn, der Faktor T, die Effizienz der Ressourcennutzung, wird auf das
Sechsfache gesteigert).
Take-off to self-sustaining growth
Mit diesen Begriffen
beschrieb der Klassiker der Wachstumstheorie Walt Rostow 1971 die Dynamik der
Volkswirtschaften der modernen Industrieländer im Gegensatz zu den vor sich hin
vegetierenden Ökonomien der vormodernen Entwicklungsländer. Weder Rostow noch
seinen Fachkollegen scheint es auch nur gedämmert zu haben, dass er damit
elementare Eigenschaften selbstorganisierender Systeme ansprach. Take-off
(abheben) ist im Sinne eines Anspringens (wie bei einem Motor) zu verstehen,
mit self-sustaining growth wird versucht, die ebenso rätselhafte wie
heiß begehrte Eigenschaft eines sich selbst nährenden, selbst tragenden
Wachstums begrifflich fassbar zu machen. Das sich selbst nährende Wachstum
erklärt Rostow damit, dass jetzt die Investitionen das Bevölkerungswachstum
übersteigen (»as a rise in the rate of investment to a level which regularly,
substantially and perceptibly outstrips population growth ...«), und den take-off
als den Augenblick, in dem ein exponentielles Wachstum beginnt (»when …
compound interest gets built into society’s structure« (Rostow 1971: 21)). Die
erste Erklärung verschiebt das Fragezeichen gerade mal um einen Satz, die
zweite ist nicht mehr als eine Tautologie.
Mit dem take-off,
sagt Rostow, beginnt die Wirtschaft exponentiell zu wachsen, weil sie jetzt
nach dem Zinseszinsprinzip wächst. Aber wieso konnte die Wirtschaft auf einmal
exponentiell wachsen, während sie vorher jahrtausendelang stagniert hatte oder
bestenfalls unendlich langsam vorankam? (Nach David Landes hat sich das
Pro-Kopf-Einkommen vom Jahr 1000 bis zum 18. Jahrhundert verdreifacht – d. h.
die Wachstumsrate war in dieser vergleichsweise dynamischen Periode etwa ein
Promille pro Jahr). Weil mit der industriellen Revolution das Kapital eine
völlig neue Qualität annahm, nämlich die Fähigkeit, Energie/Syntropie in den
Wirtschaftskreislauf hineinzusaugen.
Es wurde damit zu einem sehr
besonderen Stoff, den man nicht mit dem Kapital eines Kaufmanns im Mittelalter
verwechseln darf. Dieses Kapital schlägt gegenüber dem Kapital der vormodernen
Ära ein neues Kapitel der Naturgeschichte auf: Es lebt, es hat die Fähigkeit
erworben, der Entropie ein Schnippchen zu schlagen. Es versetzt eine Ökonomie
in die Lage, aus sich heraus zu wachsen: Es verleiht ihr die Potenz, die
lebende Organismen von toter Materie unterscheidet.
Es mag etwas frivol klingen,
aber der passende Wappenspruch des Kapitals der industriellen Revolution stammt
aus einem Kirchenlied: Tod, wo ist dein Stachel? Dieses Kapital besiegt die
Entropie, in dem es sich mit der Syntropie und den Syntropiegeneratoren vermählt.
Indem es, in einem Ölfeld investiert, niederentropische Energie zu Tage
fördert, mit der man ein Vielfaches an Energie aus der Erde pumpen kann, die
sofort das eingesetzte Kapital vermehrt, hat es die Eigenschaft eines
Lebewesens entwickelt, das von selber wächst, das sich auch – mit Hilfe des
kapitalistischen Marktes, in dem es lebt – selbst sein Futter sucht (so wie ein
Fuchs mit Hilfe der Duftstoffe in der Luft und ihrem Konzentrationsgefälle
seine Beute findet).
Wohlgemerkt: Auch das
Kapital früherer Zeiten konnte einen Ertrag bringen. Das Geld, das ein Kaufmann
in Antwerpen in ein Schiff investierte, das nach Indien segelte, um Pfeffer und
andere Gewürze zurückzubringen, konnte einen hohen Ertrag bringen – es konnte
sich verdoppeln und verdreifachen. Es konnte ebenso gut als Ganzes verloren
gehen, wenn das Schiff nicht zurückkam. Jetzt musste es, sollte das Geschäft
weitergehen, durch neues, über lange Zeit zusammengespartes Geld ersetzt
werden.(3)
Der Vorgang der
Kapitalbildung war mit der industriellen Revolution, beginnend in einigen
Wirtschaftsbereichen wie in der Textilindustrie, zu einem Selbstläufer
geworden. Was heute ganz selbstverständlich von einem gut gehenden Unternehmen
als innerer Wertzuwachs, als Selbstfinanzierungskraft, als Eigenkapitalbildung
erwartet wird, war angelaufen: »... when compound interest gets built into
society’s structure« – der Vorgang also, dass ein Unternehmen so viel Gewinn
erwirtschaftet, dass auch nach Abschreibungen, Zuführung zu den Rücklagen für
Investitionen, Prämien an die Mitarbeiter und Ausschüttung an die Aktionäre
noch so viel Überschuss bleibt, dass sich Jahr für Jahr das Eigenkapital, die
verdeckten Reserven, der innere Wert des Unternehmens erhöht. Das Kapital hat
die Fähigkeit zur Selbstvermehrung erworben – es »heckt«, wie Marx es etwas
altväterlich ausdrückte, es kriegt Junge – es tut etwas, was nur Lebewesen
können.
Die Fähigkeit des Kapitals,
und damit der industriellen Ökonomie, fossile Energie zu mobilisieren, erklärt
auch, weshalb jetzt die Nettoinvestitionen dauerhaft das Bevölkerungswachstum
übersteigen können. Nicht nur konnten die Investitionen, dank der üppig
sprudelnden Energiequellen, billiger – also mit immer weniger menschlichem
Arbeitseinsatz – aufgebaut werden; gleichzeitig mit der Quantität wuchs die
Qualität des eingesetzten Kapitals. Am Eisen, dem wichtigsten Material der
beginnenden industriellen Revolution, lässt sich das besonders deutlich
demonstrieren.
Als nach unendlich vielen
mühsamen Versuchen endlich die Erschmelzung von Eisen mit Kohle möglich wurde,
kam ein weiterer der vielen Verstärkungszyklen in Gang, aus denen der take-off
hervorging: Von jetzt an konnten Dampfpumpen und Dampfmaschinen an den
Kohleschächten eingesetzt werden und damit die Produktivität des Bergbaus um
ein Vielfaches erhöhen, und die neuen, viel größeren Eisenwerke siedelten sich
über den Kohleflözen an, wo ihnen der Brennstoff auf Jahrzehnte sicher war. Die
knarzenden Holzteile von Wasserrädern und Hammerwerken wurden durch Eisen- und
später Stahlteile ersetzt, die nicht nur viel haltbarer waren, sondern vor
allem auch den Wirkungsgrad der Maschinen vervielfachten.
Damit – mit der üppig
fließenden fossilen Energie und der durch sie ermöglichten stürmischen
Entwicklung der industriellen Technik – entkam das neue Zivilisationsmuster dem
ewigen Nagen der Entropie, das die alte Welt am Boden gehalten hatte, und die
Verkopplung des sich selbst vermehrenden Kapitals mit diesen sich gegenseitig
verstärkenden Rückkopplungsschleifen befeuerte die himmelwärts strebenden
Wachstumskurven, die zum Sinnbild des industriellen Zeitalters wurden.
Die Biosphäre und ihre
Subsysteme, die Ozeane, die Wälder, die Atmosphäre, der Wasserkreislauf, aber
auch der Boden, jeder gesunde Bach, Fluss oder See, ein Moor, ein Watt, ein
Mangrovenwald und ein Korallenriff sind Systeme, die negative Entropie oder
Syntropie generieren und die man deshalb als Syntropiegeneratoren bezeichnen
könnte.
Die menschliche Wirtschaft
dagegen ist ein Syntropieverbraucher, und als moderner Industriekapitalismus
verbraucht sie Syntropie (und nicht nur Energie) in gigantischen Mengen. Wie
ein monströser Staubsauger, der seine Saugarme wie eine schier unendliche Zahl
von Tentakeln über die ganze Welt ausstreckt, saugt er Syntropie aus den Tiefen
der Erde (Öl und Gas und Grundwasser), von der Oberfläche (Mutterboden, Süßwasser,
Regenwälder), aus dem Meer (100 Millionen Tonnen lebendes Protein pro Jahr).
Die Reichtumsmaschine, die
auf der einen Seite die Autos, die Ferienhäuser und die Urlaubsreisen, die
Windsurfer und die Netsurfer, die Fernsehprogramme und die Rockkonzerte, die
Parfums und die Anzüge, die CDs und die Shrimpcocktails ausspuckt, saugt auf
der anderen Seite in gigantischen Schlucken den Lebenssaft des Planeten ein:
mit der Gewalt eines Tornados jeden Tag 4 000 Tonnen Fische aus dem Meer, jede
Stunde verschlingt sie fünfzig bis hundert Pflanzenarten, in jeder Minute 50000
Tonnen fruchtbare Erde.
Damit sind die
Syntropiegeneratoren um ein Vielfaches überfordert. Verschmutzte Seen und Flüsse,
die kein Wasser mehr reinigen können, sinkende Grundwasserspiegel, zerstörte
Moore und Mangrovenwälder, absterbende Korallenriffe, erodierte Berghänge,
wachsende Wüsten, ölverschmutzte Küsten sind die Folge.
Es handelt sich um eine
kulturell induzierte gesellschaftliche Bulimie; der Patient frisst sich voll
mit kostbarer Energie/Syntropie, um sich anschließend in die Umwelt auszukotzen,
damit die nächste Fress- und Sauftour beginnen kann. Nicht von ungefähr stützt
sich die Metapher auf eine suchtbesetzte Verhaltensstörung. Sie weist
damit darauf hin, dass sich die notwendigen Veränderungen nicht durch gutes
Zureden, durch Drohungen oder Seelenmassage herbeiführen lassen, sondern nur
durch einen selbst verordneten, schmerzhaften Entzug.
Arthur Koestler hat den
Menschen als Irrläufer der Evolution beschrieben. In Analogie dazu könnte man
den Industriekapitalismus als rogue system bezeichnen (Rogue: Einzelgängertier,
das getrennt von der Herde lebt, das seine sozialen Instinkte verloren hat und
das zum Beispiel im Gegensatz zu seinen Artgenossen Menschen anfällt). Das egoistische
Gen, das er verkörpert und das überall, wo er hinkommt, verheerte Lebensgrundlagen
und verwüstete Gesellschaften hinterlässt, ist das Verwertungsprinzip (Monetäre
Wertschöpfung durch Umwandlung von Syntropie in Entropie). Er konkurriert mit
der Natur um den begrenzten Lebensraum – die Lebewesen und Ökosysteme haben
gegen den mit fossilen Brennstoffen gedopten Läufer keine Chance. Im Gegensatz
zur Biosphäre, die als Netzwerk und in Kreisläufen organisiert ist,
funktioniert er nach dem Durchlaufprinzip (Energie und Rohstoffe: in – Abraum,
Abfälle, Abwärme: out). Das ist darauf zurückzuführen, dass er an der
Lebenszeit des Planeten gemessen gerade erst vor einer Sekunde aufgetaucht und
im Gegensatz zur Biosphäre nicht evolutionär ausgetestet ist. Der Test läuft –
wir haben das zweifelhafte Privileg, dabei zu sein.
Müssen wir also, um
menschliches Leben unter menschenwürdigen Bedingungen zu retten, das
kapitalistische Monster erschlagen? Hören wir die Fanfaren der Weltrevolution?
Zwei einfache Antworten:
– Es wird keine
Weltrevolution geben, die überwältigende Mehrheit der Menschheit will den
Kapitalismus; soweit sie nicht alle Hoffnung aufgegeben haben, träumen sie davon
und von nichts anderem.
– Selbst wenn es möglich
wäre, wäre es nicht wünschenswert: Es gibt kein anderes System, das so viel
Wohlstand und Sicherheit für so viele Menschen schaffen kann; das so viel
menschliche Dynamik, Erfindungsgabe, Innovationsfreude mobilisieren kann; das
die Menschen so in ihrer Mehrheit von tierischer Plackerei, von Hunger,
Unterernährung und verheerenden Krankheiten befreien kann; und das so viel
Intelligenz in die Produktions- und Verteilungsprozesse saugen und damit eine
unerhörte Produktivität und Effizienz schaffen kann.
– Wenn wir also den Tiger
Kapitalismus nicht töten können und wollen, müssen wir auf andere Weise dafür
sorgen, dass er uns nicht frisst, indem wir ihn zähmen und dressieren, das
heißt lenken und begrenzen, damit er die und nur die Kunststücke macht, die für
die Menschen und ihre Kultur nützlich und unschädlich sind. If you can’t beat
it, tame and harness it.
Begrenzen und lenken
Die notwendige Therapie liegt
auf der Hand: Drosselung der Zufuhr von Nahrung/Treibstoff/Kalorien/Syntropie.
Im Fall der Ökonomie, die den gesellschaftlichen Stoffwechsel mit der Natur
organisiert, heißt eingebaute Nachhaltigkeit eingebaute Syntropie-Drossel oder:
ressourcenbegrenzte Wirtschaft. Weder gutes Zureden noch Ökosteuer können eine
Wirtschaft drosseln, deren Stoffwechsel aus dem symbolischen Raum gesteuert
wird.
Um diese These zu verstehen,
muss man sich die Funktionsweise der kapitalistischen Wertschöpfungsmaschine in
ihrer Verkoppelung mit der physischen Welt vor Augen führen. Der
Wertschöpfungszyklus beginnt damit, dass Kapital in Produktionsanlagen, Rohstoffe
und Löhne investiert wird. Produktion und Vermarktung laufen nur dank der Energie/Syntropie,
die sie aus der Biosphäre absaugen. Diesen kostenlosen Input verwandeln sie in
Wertschöpfung, die nun wieder in weitere Produktionsfaktoren zur Erzeugung weiterer
Wertschöpfung investiert werden kann.
Während nun die Produktion
und die Inputs in die Produktion zu einem wesentlichen Teil aus der realen
Sphäre stammen (Energie, Arbeit, Rohstoffe, Infrastruktur), ist die Wertschöpfung,
die aus ihr hervorgeht, symbolischer Natur. Handelt es sich doch um den monetären
Überschuss der Einnahmen über die Ausgaben. Das ist nun der Punkt, an dem
die Wirtschaft zu einer Voodoo-Ökonomie wird. Die monetären Gewinne aus der
modernen Konsumwirtschaft haben nur sehr wenig mit den realen Inputs zu tun –
sie werden vom Markt und von den Präferenzen der Marktteilnehmer bestimmt.
Jenseits der Grundbedürfnisse sind diese Präferenzen jedoch immaterieller –
psychologischer, sozialer, sozialpsychologischer – Natur. Die Preise, die für
Markenartikel, Videospiele, Fernreisen, für einen Werbeauftritt von Michael
Schumacher oder Naomi Campbell bezahlt werden, werden nicht vom materiellen
Input, sondern von immateriellen Faktoren wie Faszination, Identitätssuche,
Bekanntheitsgrad, Markenimage, Neugier, Sehnsucht, Minderwertigkeitsgefühle,
Kompensationsbedürfnisse und so weiter bestimmt. Dagegen kann das dafür
eingenommene Geld wie jedes andere Geld für den Erwerb von realen Ressourcen
eingesetzt werden. Wenn man diese Verwandlung von immateriellen, imaginären
Bedürfnissen in hartes Geld – gleich Ansprüche an reale Ressourcen – mit dem unverstellten
Blick eines Beobachters von einem anderen Stern betrachtet, erkennt man
unmittelbar, dass es sich um einen faulen Zauber handelt. Es kann sich nur um
Zauber handeln, weil zwei Sphären kausal miteinander verkoppelt werden, die in
der realen Welt streng voneinander getrennt funktionieren; und der Schwindel
muss binnen relativ kurzer Frist auffliegen, weil die beiden Sphären absolut
inkommensurabel sind: Die physische Welt, an die sich die Ansprüche richten,
ist begrenzt, die immateriellen, imaginären Bedürfnisse, aus denen die
Ansprüche erwachsen, sind unbegrenzt vermehrbar.
Will man das die
Lebensgrundlagen aufzehrende Wachstum stoppen, muss erst einmal dieser Motor
ausgebaut werden, der sich ständig weiter selbst beschleunigt, weil er starr
mit seiner Treibstoffpumpe verbunden ist. Das könnte zum Beispiel so aussehen,
dass das Tauschmittel, mit dem man reale Ressourcen erwerben kann, strikt nach
oben begrenzt wird (als Grundversorgungsbudget etwa in Form eines CO2-Kontingents);
Geld im herkömmlichen Sinn (als unbegrenzt vermehrbares Tausch-,
Wertspeicherungs- und Investitionsmittel) ist auf den Bereich der (unbegrenzt
vermehrbaren) Luxusbedürfnisse beschränkt.4 Zwischen beiden Sphären
gibt es keine Konvertibilität.
Auf diese Weise bleibt
einerseits der Syntropieverbrauch des menschlichen Wirtschaftens auf das
zulässige (nachhaltige) Budget beschränkt, und andererseits der Anreiz erhalten,
Intelligenz in eine immer effizientere Nutzung des gegebenen Budgets zu investieren,
ohne dabei (wie in einem monetären System unvermeidlich) gleichzeitig die Ansprüche
an die realen Ressourcen zu erhöhen.
Das Geld/Kapital, das sich
vorwiegend im »imaginären« Raum vermehrt und vervielfältigt, wird also in
seinem Zugriff auf diesen imaginären Raum beschränkt. Für den Zugriff auf die
begrenzten realen Ressourcen wird ein stabiles, d. h. nicht vermehrbares
Tauschmittel geschaffen, durch das die Nutzung des Naturvermögens zuverlässig
kontrolliert und gesteuert werden kann.
Für die praktische
Verwirklichung dieses Konzepts bietet sich ein persönliches Budget von CO2-Emissionen
an. Dafür spricht eine Reihe guter Gründe.
»Eine neue Ökonomie würde
nicht blindlings jedem Wachstum um jeden Preis hinterherjagen. Sie würde
erkennen, dass andauerndes Wachstum auf einem begrenzten Planeten unmöglich ist
und dass sie, wenn sie langfristig angelegt sein will, das Konzept des Genug
verinnerlichen muss.« (Donella Meadows) Aber wie soll der Wirtschaftsprozess
die Lebenserhaltungssysteme schonen, wenn er von dort überhaupt keine Steuerungssignale
bekommt?
Wenn wir unseren
Naturverbrauch an ein begrenztes Budget von CO2-Emissionen anbinden,
wird ein operationaler und verifizierbarer Begriff von Nachhaltigkeit als Steuerungsinstrument
in die Wirtschaft eingebaut. Unsere Nutzung von Ressourcen und Lebenserhaltungssystemen
wird dann nicht bestimmt durch das, was wir durch menschliche Anstrengung,
Pfiffigkeit und Kapital maximal in Bewegung setzen können, sondern was, im
Sinne eines Budgets, maximal an realen Mitteln (»Einkommen« aus Naturvermögen
auf nachhaltiger Basis) zur Verfügung steht.
Da menschliches Wirtschaften
sehr stark durch den Verbrauch von Energie charakterisiert ist (vorhandene
Stoffe werden durch den Einsatz von Energie in nützliche Produkte umgewandelt),
kann man in einer ersten groben Annäherung den Energieeinsatz als Orientierungshilfe
für die Absteckung des »straflos« verfügbaren ökologischen Raums nehmen. Das
Treibhausgas CO2 ist, da es bei allen Verbrennungsprozessen
entsteht, stark repräsentativ für den Energieverbrauch und damit für das Volumen
der industriellen Umwandlungsprozesse. Entsprechend spiegelt es auch in grober
Annäherung die bei diesen Prozessen bewegten Materialströme und die
freigesetzten Fremd- und Schadstoffe und damit die Belastung der natürlichen
Systeme wider. Das bedeutet, dass diese Belastung ganz generell durch die
Begrenzung des CO2-Ausstoßes wirksam verringert werden kann.
Was jedoch in ganz
besonderem Maß für CO2 als Maßstab für ein nachhaltiges Wirtschaften
spricht, ist die Tatsache, dass sich die globale CO2-Emission, die
langfristig zulässig ist, ohne dass die Lebenserhaltungssysteme des Planeten
geschädigt werden, ziemlich genau bestimmen lässt und dass darüber unter
seriösen Wissenschaftlern ein hohes Maß an Übereinstimmung herrscht. Die
zulässige globale CO2-Emission, die von der IPCC (Intergovernmental
Panel for Climate Control) ebenso wie von der Enquête-Kommission des
Bundestages ihren Berechnungen für die Verhütung einer globalen Erwärmung
zugrunde gelegt werden, liegt bei circa 11 Milliarden Tonnen pro Jahr.
Wenn wir davon ausgehen,
dass eine nachhaltige Wirtschaft auf Dauer nur auf der Grundlage einer
gerechten Verteilung möglich ist, errechnet sich aus diesem Kontingent bei
einer Weltbevölkerung von sechs Milliarden Menschen ein persönliches Budget von
zwei Tonnen CO2 pro Kopf und pro Jahr.
Der »Verbrauch« (d. h. die
Emission) von CO2 liegt heute in den Industrieländern bei 11 bis 13
Tonnen pro Einwohner, in den USA bei 23 Tonnen, in den meisten Ländern des
Südens unter, zum Teil weit unter zwei Tonnen pro Jahr.
Wenn man das zulässige
Budget menschlichen Wirtschaftens auf der Erde für das praktische tagtägliche
Verhalten der Menschen wirksam machen will, liegt nichts näher, als dieses
Budget wie ein zur Verfügung stehendes Jahreseinkommen zur Grundlage der Verbraucherausgaben
zu machen, das heißt, es als ein zweites, an eine reale Ressource gebundenes
Zahlungsmittel einzusetzen. Aus diesem Budget muss bei jedem Einkauf der CO2-»Verbrauch«
bezahlt werden, der bei der Erzeugung der entsprechenden Güter und der Bereitstellung
der entsprechenden Dienstleistung verursacht wurde.
Für die praktische
Einführung eines CO2-Budgets sind alle technischen Voraussetzungen
vorhanden. Das persönliche Guthaben, das selbstverständlich nicht über Nacht
auf 2 Tonnen CO2 reduziert, sondern im Verlauf von 30 bis 40 Jahren
von heute 12 Tonnen Schritt für Schritt auf 2 Tonnen schrumpfen würde, ist auf
der persönlichen Magnetstreifen- oder Chipkarte gespeichert. Der Laser-Scanner
im Supermarkt oder an der Tankstelle liest neben dem Strichcode für den Preis
einen zweiten Strichcode für den CO2-Gehalt vom Etikett der Waren
oder vom Kassenzettel ab, und das angeschlossene Kartenterminal belastet die
eingelegte Karte entsprechend.
Selbstverständlich müsste in
der Berechnung der CO2-Belastung, ebenso wie bei den Plänen für eine
Energiesteuer, die Atomenergie mit einem entsprechenden (CO2-)Äquivalent
berücksichtigt werden – schließlich geht es bei dem CO2-Budget
vordringlich um die Begrenzung der Stoffströme und Stoffumwandlungen, die durch
den Energieeinsatz zustande gebracht werden.
Der verständliche Einwand,
dass ein solches CO2-Kontingent uns in eine Wirtschaft mit
Lebensmittelkarten zurückwirft, trifft nicht zu. Mit einem CO2-Kontingent
werden keine einzelnen Waren zugeteilt, sondern ein zwar begrenztes, aber
völlig frei verfügbares Budget. Die aus Kriegs- und Nachkriegszeiten bekannten
Bezugsscheine und Lebensmittelkarten sind dagegen eine Zuteilung bestimmter
Dinge. Sie lauten auf ein halbes Pfund Butter, ein Paar Herrenschuhe, 10 Liter
Benzin. Daher ihre Verwandtschaft mit einer Zentralverwaltungswirtschaft – mit
ihrer Schwerfälligkeit, ihren Ungerechtigkeiten, ihren Absurditäten und der
Folge, dass man nie oder selten das bekommt, was man wirklich braucht.
Ein CO2- oder
Ressourcenbudget hat mit Bezugsscheinen nur ein Merkmal gemein: die Begrenzung
der Ansprüche. Ansonsten sind sie ebenso frei verwendbar wie Geld, das heißt,
dass sie nicht anders als Geld Angebot und Nachfrage auf dem Markt wirksam
werden lassen und nicht anders als Geld die Allokation der Ressourcen steuern
(und zwar zugunsten von Energie- und Rohstoffeinsparungen, Wiederverwendung,
geschlossenen Kreisläufen, erneuerbaren Energien). Sie sind in der Tat ein
reines Tauschmittel, erfüllen also die Funktion von Geld nach seiner ursprünglichen
Bestimmung, d. h. ohne die Fähigkeit zur Vermehrung durch Wertschöpfung. Vor
allem aber bedeuten sie eine Absage an die Aneignung dessen, was man selbst
nicht braucht, was jedoch infolge dieser Aneignung den anderen,
Ausgeschlossenen zum Leben fehlt.
In dieser elementaren
Hinsicht ist die Ressourcenwährung die globale Landreform. Es geht darum, die
Ansprüche der einen so weit zu beschränken, dass den anderen Raum bleibt oder
frei gemacht wird zum Leben.
Ein CO2-Budget
kann natürlich nicht von heute auf morgen eingeführt werden, sondern es wird im
Verlauf von 40 Jahren von den heutigen 11 Tonnen pro Kopf auf 2 Tonnen
schrumpfen, also pro Jahr um eine Vierteltonne oder um 2,5 Prozent. Schon heute
ist abzusehen, dass das Budget einer Person zum Beispiel im Jahre 2020 noch 7
Tonnen betragen wird.
Damit ist der Einstieg
geschaffen in die langfristigen Strukturänderungen, ohne die es dem Einzelnen
sehr schwer und oft unmöglich ist, seinen persönlichen Lebensstil, seinen
Energieverbrauch, seine Autonutzung, seine Ess- und Urlaubsgewohnheiten zu ändern.
Die Einführung der CO2-Wirtschaft
ist erst einmal eine Notbremse, um die rasende, bewusstlose Fahrt in den
Abgrund zu stoppen, oder der Hebel, den man ziehen muss, um vor dem Crash mit dem
Schleudersitz auszusteigen. Sie schafft die materiellen Randbedingungen, die
einen nachhaltigen Umgang mit den Lebensgrundlagen fördern – anstatt ihn, wie
unter den Bedingungen einer entfesselten Marktwirtschaft, zu bestrafen.
Kasten:
Syntropie – das ist, qualitativ gesehen, der Abstand vom
thermodynamischen Gleichgewicht. Wenn sie sich als potenzielle Energie
darstellt, die in einem Wasserreservoir gespeichert ist, oder als chemische
Energie, die in Kohle oder Erdöl steckt, kann man sie auch mit einem
kommensurablen Maß (kWh, kcal, MJ) quantifizieren. Wenn es sich um ein
Ökosystem handelt, kann man unter Umständen seine Biomasseproduktion pro Zeiteinheit
in Zahlen angeben – aber damit hat man ja offensichtlich nur einen ganz begrenzten
Aspekt der Gleichgewichtsferne des Systems erfasst. Was bei dieser eindimensionalen
Maßzahl unter den Tisch fällt, ist die Fähigkeit des Systems, seine Position
fern vom Gleichgewicht gegen Störungen zu verteidigen und aufrechtzuerhalten,
ja diese Position erst einmal über die Zeit zu erreichen und gegebenenfalls (im
gleichgewichtsfernen Raum, ohne ins Gleichgewicht zurückzustürzen)
weiterzuentwickeln. Diese wesentliche Eigenschaft des Systems lässt sich
prinzipiell nicht messen, ja nicht einmal erschöpfend beschreiben, weil
selbstorganisierende Systeme fern vom thermodynamischen Gleichgewicht dadurch
gekennzeichnet sind, dass ihr Verhalten nicht aus den Anfangsbedingungen
abgeleitet werden kann. Für die Selbsterhaltungs- oder Regenerationsfähigkeit
von Ökosystemen können wir also bestenfalls »defensive« Parameter angeben, das
heißt Einflussgrößen, Immissionen, Entnahmen, die nicht überschritten werden dürfen,
wenn das Funktionieren des Systems nicht gefährdet werden soll.
1
Oder: Warum sind Pandas vom Aussterben bedroht? Weil sie nur
von Bambus leben können, wegen der geringen Energieausbeute 14 Stunden am Tag
fressen müssen und sterben, wenn man ihnen dafür keine Ruhe lässt.
2
Der Begriff Syntropie als Ersatz für Negentropie,
negative Entropie, verringerte Entropie wurde von Hans Peter Dürr
eingeführt. Auch wenn dies die korrekten naturwissenschaftlichen Termini sind,
widerstrebt es dem gesunden Menschenverstand, Begriffe mit einem negativen
Vorzeichen für etwas zu verwenden, was man auch als den Lebenssaft der Biosphäre
bezeichnen könnte.
3
Man darf sich nicht davon beirren lassen, dass der Kaufherr
möglicherweise noch einen weiteren Beutel Gold besaß, mit dem er sich an einer
neuen Expedition beteiligen konnte. Dieses Geld stammte aus einer stagnierenden
Wirtschaft, in der die Schuldner, die dem Kaufmann die Zinsen zahlten, die sich
schließlich zu einem Beutel Gold summierten, die Bauern und kleinen Handwerker,
sich jeden Heller vom Mund absparen mussten.
4
In diesem imaginären Bereich darf sich der Wettbewerb, darf sich
die Schumpeter-Dynamik unbegrenzt austoben – als ein Spiel, das offenbar vielen
Menschen Spaß macht, ihr Leben bereichert und würzt, aber dem man doch, wenn
man bei Verstand ist, unter keinen Umständen den Zugriff auf die Sphäre des
Lebensnotwendigen gestatten darf: Natürlich wird es Tote geben (Verhungerte,
Verdurstete, Erfrorene), wenn ich mit dem Geld, das ich im Bereich des
Imaginären verzehn-, verhundert-, vertausendfachen kann, mit demjenigen um das
Lebensnotwendige (Land, Wasser, Nahrung) konkurrieren darf, der immer nur das
Einfache verdienen kann, weil er mit seinen eigenen Händen im Subsistenzbereich
arbeitet.
»Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur«, Ausgabe
4/05.