Ulrich Menzel

 

Die Erneuerung des Westens und die Grenzen Europas

 

Über Joschka Fischers »Die Rückkehr der Geschichte« und die Paradoxien der Neuen Weltordnung

 

 

 

Sieben globale Herausforderungen hat Außenminister Fischer in seinem neuen Buch ausgemacht. Unser Autor meint jedoch, dass Fischer die fortwährenden Wirkungen der alten Herausforderungen zu wenig beachtet. Ein Spagat zwischen der realistischen Einsicht in die bestehenden internationalen Machtverhältnisse und der idealistischen Hoffnung auf das Projekt Europa reiche für eine »Erneuerung des Westens« nicht aus. Die Interessen und Widersprüche zwischen den USA und Europa seien dafür viel zu groß. Bevor man sich also Illusionen über die Rolle der UNO und Europas hingebe, müsse Europa erst einmal seine eigenen Verwerfungen zur Kenntnis und dann eine Konsolidierung in Angriff nehmen. Ohne soziales und militärisches Gewicht geht dies nicht.

 

Schon der Titel des Buches von Außenminister Fischer(1) Die Rückkehr der Geschichte. Die Welt nach dem 11. September und die Erneuerung des Westens kündigt an, was er nicht hält, und stiftet auf Grund des immanenten Eklektizismus Verwirrung statt Klarheit.(2) Der Obertitel annonciert eine Auseinandersetzung mit Francis Fukyamas Das Ende der Geschichte.(3) Diese findet im Buch aber gar nicht statt. Sie wäre auch nicht nötig, da Fukuyamas Aufsehen erregende These von 1992 sich schon lange durch die Geschichte erledigt hat. Über weite Strecken liest es sich eher wie ein »Anti-Kagan«(4) und damit wie eine kritische Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Neokonservatismus, wobei offenbar der liberale Interventionismus à la Robert Cooper(5) Pate gestanden hat. Jedenfalls wird Cooper überwiegend zustimmend und Kagan immer ablehnend zitiert. Dies kommt im Titel aber nicht zum Ausdruck. Der Untertitel wiederum suggeriert, dass der 11. September ein besonders einschneidendes Datum gewesen sei und seitdem sich alles geändert habe. Auch diese These hält einer ernsthaften Prüfung nicht stand. Die Untaten des Terrorismus gab es vor diesem Datum und haben sich seitdem ungerührt fortgesetzt. Geändert hat sich zwar vieles in den letzten Jahren, aber nicht seit 9/11, sondern eher seit 11/9 (1989), als die Berliner Mauer gestürmt wurde. Im zweiten Teil des Untertitels »Die Erneuerung des Westens« wird im Kontext mit 9/11 auch noch die Assoziation zu Huntingtons Bestseller geweckt, wo es im Untertitel heißt »Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert«.(6) Aber auch eine Auseinandersetzung mit Huntington findet der Leser nicht. Zwar wird das Thema Djihad/Terrorismus/neuer Totalitarismus breit thematisiert und auch als globale Herausforderung genannt, Huntingtons Folgerungen aber nicht weiter diskutiert. Beim Thema Djihad folgt der Autor eher Benjamin (nicht »Anthony« – sic!) Barber,(7) der mit seinem Djihad versus McWorld aber eine ganz andere Grundthese als Huntington verfolgt, nämlich nicht, dass sich die Zivilisationen unversöhnlich gegenüberstehen, sondern dass es beide Megatrends, die Verwestlichung beziehungsweise Amerikanisierung der Welt und die fundamentalistische Renaissance, gleichzeitig gibt.(8)

Das intensive name dropping aus dem Genre der Globaltheoretiker (Fukuyama, Kagan, Cooper, Huntington, Barber, Kaplan, Kepel u. a.) lässt einen ganz anderen Schluss zu. Es geht dem Autor sowie dem Verlag gar nicht so sehr um eine originelle These zu den gegenwärtigen globalen Fragen, sondern um das Heischen von Aufmerksamkeit, gestützt auf den Nachweis, dass man alle großen Bücher der letzten Jahre kennt und sie irgendwie verarbeitet hat.(9)

Wenn der Leser die Tour d’Horizon durch die aktuellen weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Baustellen mitgemacht hat und beim Fazit angelangt ist, muss er zudem mit Verwunderung feststellen, dass das, was der Autor als die sieben großen Herausforderungen des internationalen Systems identifiziert, im Buch teilweise gar nicht behandelt, allenfalls gestreift worden ist. Überzeugende Antworten auf etliche dieser Herausforderungen werden schon gar nicht gegeben. Ein Kernelement der angebotenen Lösungsvorschläge, gemeint ist die Rolle Europas, ist zudem schon wenige Wochen nach der Veröffentlichung in Turbulenzen geraten.(10)

 

Die sieben globalen Herausforderungen lauten: Der neue Totalitarismus in Form des gewaltbereiten Islamismus; die schwelenden Regionalkonflikte von der Westsahara über Palästina und den Kaukasus bis hin nach Kaschmir; der Staatszerfall in Afrika südlich der Sahara; die Proliferation von Massenvernichtungswaffen; der Aufstieg der neuen Mächte (China, Indien) und ihre Integration in das internationale System; die politische und soziale Gestaltung der Globalisierung; die Ausbreitung des westlichen Konsum- und Sozialmodells, ohne dabei die Welt ökologisch zu überfordern. Dem ist sicherlich zuzustimmen, auch wenn der Komplex globale Schattenwirtschaft, organisiertes Verbrechen und die Privatisierung von Gewalt unbedingt als achte Herausforderung hinzugerechnet werden sollte. Einzuwenden ist allerdings, dass die Prioritäten dieser Herausforderungen aus deutscher oder europäischer Sicht andere sind als aus amerikanischer. Die Frage der politischen und sozialen Gestaltung von Globalisierung steht hierzulande sicher ganz oben auf der Agenda. Dies hat sich gerade im Kontext der Europareferenden gezeigt. Der Außenminister schlüpft hier zu sehr in die Kleider seiner amerikanischen Amtskollegin, die sicherlich einen weiteren Horizont im Blick haben muss.

Die politische Bearbeitung dieser Herausforderungen soll sich auf drei Säulen stützen: Erstens die USA, deren Führungsrolle anerkannt wird; zweitens die UNO; und drittens, quasi das Fundament der UNO, die existierenden Regionalorganisationen, wobei die EU besonders herausgehoben wird, weil sie auf Grund ihres fortgeschrittenen Institutionalisierungsgrades als Modell für die übrigen Regionalorganisationen der Welt angepriesen wird. Die Grundidee lautet also: Ein fein austarierter Spagat zwischen (unvermeidlichem) Unilateralismus und (präferiertem) Multilateralismus, bei dem die EU die schwächelnde UNO zu stützen hat. Anders formuliert: Ein Spagat zwischen der realistischen Einsicht in die bestehenden Machtverhältnisse und der idealistischen Hoffnung auf das Projekt Europa.

Auffällig bei dieser Problemdefinition ist, dass eher die neuen Herausforderungen genannt werden und die alten, wie zum Beispiel die Entwicklungsprobleme der Länder, die weder gescheiterte Staaten noch Schwellenländer sind, keiner Erwähnung wert sind, dass das Thema Umwelt keinen systematischen Stellenwert hat und nur als Folge der Motorisierung Chinas Erwähnung findet, dass das Thema Menschenrechte nur im Zusammenhang mit dem neuen islamistischen Totalitarismus, aber nicht grundsätzlich thematisiert wird, dass das Thema Europa zwar breiten Raum einnimmt, dessen schon lange dahinschwärende Probleme aber offenbar im Grundsatz als gelöst angesehen werden. Dass die Ratifizierung der europäischen Verfassung scheitern könnte, wird zwar als Denkmöglichkeit genannt, aber nicht wirklich ernsthaft erwogen.

Wer also den Entwurf einer grünen Außenpolitik erwartet, sieht sich enttäuscht. Eher handelt es sich um eine Addition der neuen Gefahren, wie sie in der letzten nationalen Sicherheitsstrategie (NSS 2002) der amerikanischen Regierung identifiziert werden, mit den ganz alten Problemen der internationalen Beziehungen. Wie gehe ich damit um, dass neue mächtige Akteure wie China auf den Plan treten, die die überkommene Machtverteilung herausfordern und als wirtschaftlich potente Konkurrenten zu einer Bedrohung der etablierten Industrieländer werden? Überzeugende Antworten auf die alten und neuen Fragen findet man keine, wenn man unterstellt, dass der amerikanische Weg – militärische Prävention und Vorbereitung auf den künftigen Hegemonialkonflikt mit China durch ein abgespecktes Star-Wars-Programm – keine Option für Deutschland sein kann.

Wenn die genannten globalen Herausforderungen so unterschiedlich gelagert sind, dann genügt nicht deren Aufzählung. Hinzu gehört auch deren systematische Verknüpfung. Nur wenn die Diagnose analytisch überzeugend ist, kann auch die vorgeschlagene Therapie überzeugen. Wie das Zusammenwirken von USA und UNO aussehen soll, bleibt nebulös. Dass es einer Reform der UNO bedarf, ist zwar in aller Munde. Verschwiegen wird aber, dass die amerikanische Regierung gänzlich andere Vorstellungen von einer Reform der UNO hat als die UNO-Vertreter selber. Dass die EU in einer multilateralen Welt eine wichtige Rolle spielt und auch Modellcharakter beanspruchen kann, ist unbestritten. Dieses Argument verschweigt aber, dass die EU sich seit längerem und nicht erst seit den gescheiterten Referenden in einer Krise befindet. Das Argument verschweigt auch, dass wichtige Akteure innerhalb der EU, ganz ähnlich wie innerhalb der UNO, über sehr divergierende Vorstellungen verfügen, wie es denn weitergehen soll mit Europa, mehr noch – wozu die EU überhaupt da ist. Das Vertrauen auf die anderen Regionalorganisationen schließlich verschweigt, dass viele unter ihnen wenig Substanz besitzen. Die westafrikanische Union etwa steht dem Phänomen des Staatszerfalls weitgehend hilflos gegenüber. Also – die Säulen des Multilateralismus haben derzeit so viel mit sich selber zu tun, dass ihr Beitrag zur Lösung der großen Herausforderungen nur gering sein kann.

Kurz – das Buch verspricht mehr, als es halten kann.(11) Wirklich gelungen ist das Buch nur im fünften Kapitel, wo es um Europa und seine kriselnden Beziehungen zu den USA geht. Hier gehen eigene politische Erfahrungen ein und hier finden sich auch die wenigsten Zitate.(12)

 

Kommen wir zur Sache selbst: Die USA, hier nur eine der gedachten Säulen der neuen Weltordnung à la Fischer, verfolgen aus ihrem Selbstverständnis heraus grundsätzlich keine multilaterale Politik. Dies gilt gleichermaßen für republikanische wie für demokratisch geführte Regierungen. Quasi multilateral agieren sie nur, wenn es in ihrem Eigeninteresse liegt. Im Kampf gegen den Terrorismus und die Proliferation von Massenvernichtungswaffen, sogar bei der »Transformation« des Nahen und Mittleren Ostens, setzen sie perspektivisch auf die militärische Karte. Sie sind zwar auf Grund ihrer Hightech-Rüstung unbesiegbar, produzieren aber eine wachsende Zahl von Selbstmordattentätern, die auf ihre Art genauso unbesiegbar, auf jeden Fall nicht abschreckbar sind. Damit haben sie einen ganz neuen Rüstungswettlauf von Elektronik versus Fanatismus in Gang gesetzt, eine Version vom Kampf der Kulturen, die selbst Huntington nicht im Sinne hatte. Die Alternative lautet demzufolge nicht, Rückkehr zum westfälischen Staatensystem oder Multilateralismus, sondern, das zeigt jeder gründliche Blick in die Geschichte, westfälisches Staatensystem oder hegemoniale Ordnung, um mit der hobbesschen Anarchie und dem fehlenden internationalen Gewaltmonopol umzugehen. Das kantsche Projekt des Staatenbundes ist immer nur Projekt geblieben. Wenn es Wirklichkeit wurde, wie im Falle des Völkerbundes oder der UNO, dann nur mit sehr begrenztem Einfluss und immer abhängig von der Stärke und dem Willen seiner mächtigsten Mitglieder.

Der vorläufig letzte große hegemoniale Ausscheidungskampf, der Kalte Krieg, hatte zum Resultat, dass der Herausforderer, die Sowjetunion, an der hegemonialen Überdehnung gescheitert und implodiert ist und dass die USA als einzig übrig gebliebene Supermacht am Beginn eines neuen Hegemoniezyklus stehen. Der neue hegemoniale Herausforderer steht schon in den Startlöchern. Es ist nicht Japan, wie in den 1980er-Jahren fälschlich angenommen wurde, sondern China, das als Schwellenland der dritten Generation auf dem besten Wege ist, das wirtschaftliche Vorbild Japan erfolgreich zu kopieren, wobei die quantitative Dimension der Exportoffensive unvergleichlich größer ist. Anders als Japan, das seine militärischen Ambitionen 1945 beenden musste, wird China in absehbarer Zukunft auch eine militärische Supermacht werden. Die atomaren Ambitionen bis hin zur bemannten Raumfahrt sind da, und China ist noch viel weniger als die USA bereit, sich irgendwelchen multilateralen Zwängen zu unterwerfen und Souveränität aufzugeben. Deswegen hat das Thema China für die USA langfristig mindestens den gleichen Stellenwert wie der Terrorismus.

Mit dem künftigen Hegemonialkonflikt zwischen den USA und China korrespondiert in negativer Weise die Krise der UNO. Die anhaltende Debatte um die Reform der Vereinten Nationen ist ein Ausdruck dieser Krise. Sie suggeriert zudem den Eindruck, als bedürfe es nur einer konsequenten Umsetzung der Reformabsichten, und alles wird gut. Übersehen wird, dass die beteiligten Akteure sehr unterschiedliche Vorstellungen haben, was unter Reform der UNO zu verstehen ist. Die amerikanische Regierung, mehr noch der amerikanische Kongress, verstehen unter Reform der UNO deren Verschlankung. Zu teuer, zu bürokratisch, zu ineffizient. Der Hebel für eine UNO light ist die permanente Zurückhaltung eines Teils der Mitgliedsbeiträge immer genau bis zu der Grenze, dass man wegen Säumigkeit bei den Zahlungen nicht hinausgeworfen werden kann. Man hätte zwar gerne ein UN-Mandat für Militäroperationen, wenn sie im eigenen Interesse sind. Wenn es aber nicht zu haben ist, dann geht es auch ohne. Oder man stützt sich auf den Multilateralismus der Willigen.

Aus deutscher Perspektive versteht man unter Reform der UNO eine Erweiterung des Sicherheitsrats, um auf diese Weise einen ständigen deutschen Sitz, am besten ausgestattet mit Veto, zu ergattern. Wenn man es böswillig interpretiert, steht dahinter nicht mehr als »Wir sind wieder wer« und wollen da rein, wollen auch in der Champions League der Weltpolitik mitspielen. Wenn man es gutwillig interpretiert, dann ist es natürlich von Vorteil, über einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat den Multilateralismus zu stärken. Genau das wollen die USA aber nicht, und deshalb sind sie auch gegen eine deutsche ständige Mitgliedschaft, während sie im Falle Japans (wie früher Taiwans) sicher sein können, immer eine Stimme auf ihrer Seite zu haben. So kommt es, dass der amerikanische Freund dem deutschen Ansinnen misstraut und der ehemals schärfste Gegner, Russland, als einziger das deutsche Ansinnen öffentlich unterstützt. Auch dieses ist eine der vielen Paradoxien der Neuen Weltordnung.(13) Da aber China, gleichermaßen aus alter Feindschaft wie aus der Sorge, dass der amerikanische Block im Sicherheitsrat noch stärker wird, genauso strikt gegen einen japanischen Sitz ist, wird aus diesem Teil der »Reform« vermutlich gar nichts. Diese Form der Reform wäre für Länder wie Italien, Spanien, Pakistan oder Mexiko, die keine Aussicht auf einen Sitz haben, die zweitbeste Lösung.

Eine wirkliche Reform im Sinne der Stärkung der UNO und ihre Weiterentwicklung in Richtung Weltregierung will nur der Apparat mit Kofi Annan an der Spitze. Da dieses aber nicht weniger, sondern mehr Geld, nicht weniger Apparat, sondern immer neue Unterorganisationen, nicht weniger, sondern mehr Kompetenzen bis zu eigenen UN-Truppen bedeutet, selbst wenn man als Konzession gegenüber den USA die eine oder andere Verschlankung akzeptiert, weil man also mehr und nicht weniger Multilateralismus anstrebt, werden sich die USA, China, Russland und andere Mächte, bei denen die Behauptung unbedingter Souveränität höchste Priorität besitzt, sich dem entgegenstellen. Am Beispiel des Themas Reform der UNO lässt sich also exemplarisch demonstrieren, wie heterogen die Interessenlage der Akteure ist und wie gering die Chancen sind, dass die UNO tatsächlich zu einer Art Weltregierung fortentwickelt werden kann. Die nicht nur atmosphärischen Störungen im transatlantischen Verhältnis zeigen sich auch in der UNO-Debatte.

 

Damit sind wir beim dritten Pfeiler der fischerschen Weltordnung, den Regionalorganisationen, insbesondere der EU. Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen: Der Prozess der Europäischen Integration ist unbedingt notwendig, und es geht auch um viel mehr als nur einen gemeinsamen Markt. Dazu bedarf es einer starken EU, bei der im Zweifelsfalle auch das Mehrheitsprinzip Anwendung finden muss. Bevor allerdings weiter nationale Souveränität an europäische Institutionen abgegeben wird, muss klar sein, welchen Kurs Europa steuert. Derzeit klaffen Anspruch und Wirklichkeit auseinander wie bei der UNO – und nicht erst seit den gescheiterten Ratifizierungsverfahren in Frankreich und den Niederlanden. Die politische Klasse in Berlin hat schon gewusst, warum sie ein Referendum in Deutschland nicht wollte. Es hätte sich dann auch hierzulande gezeigt, dass Europa ein Elitenprojekt ist, das von breiten Teilen der Bevölkerung nicht mehr mitgetragen wird. Europa befindet sich schon seit langem in einer mehrfachen Krise. Einerseits handelt es sich um eine Komplexitätskrise, die aus dem Fortschritt der EU, der Erweiterung wie der Vertiefung gleichermaßen, resultiert, weil die Interessenlagen und die Ausgangsbedingungen der immer mehr Mitglieder auf immer mehr Politikfeldern immer größer werden. Auch hier zeigen sich die Grenzen Europas. So wie der UNO-Apparat sich immer weiter ausgedehnt hat, so lässt sich dieses auch für die EU konstatieren. Die fischersche Vierteilung der Mitgliedschaft in Überzeugungseuropäer (Kerneuropa), Vernunfteuropäer an der nördlichen Peripherie (Nettozahler) und Freiheitseuropäer oder Nettoempfänger (erste Generation in Südeuropa und zweite Generation in Osteuropa) ist durchaus überzeugend.

Zum Zweiten handelt es sich um eine Legitimations- beziehungsweise Identitätskrise. Dabei geht es nicht nur um die Frage nach den kulturellen Grenzen Europas, die für potenzielle weitere Beitrittskandidaten eine Rolle spielt, es geht im Kern um die Frage nach dem Sinn der EU. Tony Blair hat die Alternative durchaus klar formuliert: Soll die EU eine Wirtschaftsgemeinschaft sein oder bleiben, die mit dem Problem der Globalisierung umzugehen hat, also Europa fit machen soll für den Weltmarkt? Oder handelt es sich um ein politisches Projekt, das Frieden stiftet in Europa, Demokratie und Menschenrechte bei den Mitgliedern durchzusetzen hilft und als multilateral agierender Akteur diese Ziele auch anderswo durchsetzen will, wozu es auch einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik mit eigenem militärischem Unterbau bedarf? Spanien, Portugal, Griechenland und sogar die Türkei, obwohl noch gar nicht Mitglied, sind die Beispiele, dass die EU nicht nur Wirtschaftsunion ist, sondern auch in politischer Hinsicht Beachtliches geleistet hat.

Welche der beiden Richtungen in der EU sich durchsetzen wird, ist nicht nur eine Frage, welche Regierung in welchem Mitgliedsland gerade an der Macht ist. Sie hängt auch davon ab, welches der verschiedenen beiden Lager durch die jeweiligen Erweiterungsrunden gestärkt wird. Kommt es zu politischen Verschiebungen quer durch Europa wie derzeit in Richtung Konservatismus, gibt es nicht nur entsprechende politische Gewichtsverlagerungen im Rat, sondern auch in der Kommission. Der letzte personelle Austausch hat auch dort einen Swing von rot-grün in Richtung neoliberal bewirkt. Das gilt für die Ersetzung von Prodi durch Baroso, es gilt aber auch für etliche andere Kommissarinnen und Kommissare.

Die Legitimitätskrise der EU wird dadurch noch vertrackter, dass es nicht nur um die grundsätzliche Alternative: Wirtschaftliche Union versus Politische Union geht, sondern auch durch den Umstand, dass beide Ziele in Widerspruch zueinander stehen und die Folgen dieses Widerspruchs von der Bevölkerung auszuhalten sind. Dies lässt sich an der letzten Runde der Osterweiterung noch viel deutlicher wahrnehmen als an der früheren Runde der Süderweiterung. Alle politischen Argumente sprechen für die Osterweiterung. Wirtschaftlich spricht aber keineswegs alles dafür. Gewinner sind (möglicherweise) die neuen Beitrittsländer über Transferleistungen, besseren Marktzugang nach Westeuropa und dessen Investitionen. Gewinner sind auch die westeuropäischen Unternehmen, die Fertigung nach Osteuropa auslagern. Verlierer sind aber die westeuropäischen Beschäftigten, deren Arbeitsplätze bei Lohnunterschieden von zum Beispiel 1:8 (zwischen Polen und Deutschland) hochgradig gefährdet sind. Dies verstärkt die strukturelle Arbeitslosigkeit, die durch Rationalisierung und fernöstliche Konkurrenz (die Lohnunterschiede zu China betragen sogar 1:30) sowieso schon an zwei Fronten aufgebaut wird. Die neoliberale Vorstellung, alle in Westeuropa freigesetzten Arbeitskräfte könnten zu Entwicklungsingenieuren und EDV-Spezialisten umgeschult werden oder in Dienstleistungsberufe abwandern, ist kindisch, zumal auch schon Dienstleistungstätigkeiten in großem Stil ausgelagert werden und Entwicklungsingenieure und EDV-Spezialisten auch aus Indien und China rekrutiert werden können. Folglich wird Europa bei der betroffenen Bevölkerung nicht als ein Projekt wahrgenommen, das Globalisierung politisch gestaltet und deren negative Folgen abfedert, sondern als ein Projekt, das Globalisierung geradezu forciert und damit die negativen Konsequenzen erst heraufbeschwört. Damit steht aber das europäische Sozialmodell, der rheinische Kapitalismus, ein korporatistisches Politikverständnis wie in Deutschland oder der französische Etatismus zur Disposition, Traditionen, die in angelsächsischen Ländern eben nicht zu finden sind. Hier liegt der eigentliche Grund, warum die europäische Verfassung bis auf weiteres gescheitert ist.

 

Während die Konturen rot-grüner Außenpolitik der letzten Jahre durchaus zu erkennen sind, hapert es an der politischen Gestaltung von Globalisierung. Es genügt nicht, diese als zentrale Herausforderung zu identifizieren. In den beiden Legislaturperioden der alten Regierung ist hier zu wenig proaktiv geschehen. Die ganze Hartz-Diskussion ist im Grunde nur Ausdruck defensiven Verhaltens und konzentriert sich zudem einseitig auf Kostenentlastung der Unternehmen zu Lasten der Beschäftigten.

Vor allen anderen drängenden Fragen geht es deshalb aus deutscher oder kerneuropäischer Sicht um zwei Komplexe: Wie lässt sich Globalisierung so gestalten, dass das europäische Sozialmodell, damit der innere Friede und die demokratische Stabilität, nicht verloren geht? Eine neoliberale Strategie à la Tony Blair gefährdet alle drei Faktoren. Am Ende hätten wir dann womöglich doch wieder Weimarer Verhältnisse. Dass wir bis dato dagegen trotz höherer Arbeitslosigkeit als in den Dreißigerjahren immun waren, liegt ja gerade an der stabilisierenden Wirkung des Sozialstaats. Der zweite Komplex dreht sich um die Frage: Wie halten wir, sprich Kerneuropa, es mit dem amerikanischen Freund? Für die Briten stellt sich diese Frage nicht. Lieber der zweite in der Welt, als der dritte in Europa. Für die Osteuropäer, namentlich Polen, stellt sich diese Frage auch nicht, weil in der Unterordnung unter die amerikanische Hegemonie die beste Garantie gegen eine russische Renaissance gesehen wird.

Diese beiden auf den ersten Blick separaten Komplexe sind – das macht die Sache nicht unbedingt einfacher – miteinander verwoben. Wenn das (kern-)europäische Sozialmodell verteidigt werden soll, bedarf es einer aktiven Industriepolitik, die auch für den Dienstleistungssektor zu gelten hat, um dem Globalisierungsdruck standzuhalten. Wie man dies sehr effektiv trotz WTO-Mitgliedschaft betreiben kann, das haben Japan und seine Nachfolger in Ost- und Südostasien seit Jahrzehnten vorgemacht. Dass Industriepolitik nicht national, sondern in europäischem Rahmen anzusetzen hat, versteht sich von selbst. Für die Agrarpolitik hat die EU diese Fähigkeit lange demonstriert, auch wenn die europäischen Bauern es ihr viel zu wenig danken.

In der entwicklungspolitischen Diskussion hat die Forderung, sich nicht ungehemmt dem Weltmarkt auszusetzen, Tradition. Die ostasiatische Erfolgsgeschichte von Japan bis China zeigt, dass man sehr wohl eine Weltmarktorientierung mit einem temporären Schutz des Binnenmarkts, einer selektiven Dissoziation, verbinden kann. Friedrich List hat bereits Mitte des 19. Jahrhunderts das theoretische Argument mit Blick auf die Länder der zweiten Stufe (nämlich Kerneuropa) gegenüber Großbritannien formuliert. Ein Protektionismus auf Zeit sollte die eigenen produktiven Kräfte wecken, um gegenüber Großbritannien wettbewerbsfähig zu werden. Kerneuropa ist in etlichen Branchen dabei, auf die zweite Stufe zurückzufallen. Auch in dieser Situation macht ein Protektionismus auf Zeit seinen Sinn. Europa mit seinem gewaltigen Binnenmarkt ist schon fast eine Welt für sich – wie die USA oder China übrigens auch, deren Außenorientierung relativ gesehen nur sehr gering ist. Die Exportquoten der europäischen Länder würden sofort radikal schrumpfen, wenn man den innereuropäischen Handel nicht als Außen- sondern als Binnenhandel verbuchte, wie umgekehrt die Außenhandelsquote, sagen wir Baden-Württembergs, nach oben schießen würde, würde man sie separat erfassen. Die Zeit wird benötigt, um das durch die Osterweiterung dramatisch gewachsene Binnengefälle in Europa auszugleichen. Dass das möglich ist, zeigen die Fälle früherer Beitrittsländer wie Spanien oder Irland.

Notwendig ist also eine »Erneuerung des Westens« im Sinne einer Erneuerung des europäischen Industrie- und Sozialmodells. Unter dem Westen wird aber nicht Greater Europe (also unter Einschluss Nordamerikas, Australiens und anderer Siedlerkolonien) verstanden, sondern Europa beziehungsweise Kontinentaleuropa, wenn die Briten nicht wollen. Das Projekt muss lauten: Die Angleichung der Lebens- und Arbeits- und damit auch der Einkommensverhältnisse in Europa bei gleichzeitiger Dämpfung der asiatischen Konkurrenz. Von Japan oder China lässt sich da trotz WTO-Mitgliedschaft viel lernen, die große Fantasie bei der Kreierung nichttarifärer Handelshemmnisse zeigen. Erst wenn diese Binnenkonsolidierung geleistet und die Krisenbranchen wieder ins Lot gebracht worden sind, kann auch der Erweiterungsprozess fortgesetzt werden. Es ist durchaus fraglich, ob trotz Verabredung Bulgarien und Rumänien tatsächlich demnächst Mitglied werden. Ohne Konsolidierungsleistung nach innen wird die Legitimität des Projekts Europa bei der Masse der Bevölkerung weiter abnehmen.

 

Damit kommen wir zum anderen Komplex. Eine große Befürchtung amerikanischer Politiker und Publizisten war und ist die Sorge, dass die EU zur Spaltung des Westens führt. In gewisser Weise tut sie das auch. Aus amerikanischer Perspektive ist die Alternative zur EU die Deckungsgleichheit der Reichweite sicherheitspolitischer und wirtschaftspolitischer Institutionen, also NATO plus Atlantische Freihandelszone statt EU plus GASP. So wie die USA sich auf keinem einzigen Politikfeld ihre Souveränität wirklich substanziell beschneiden lassen wollen, sind sie letztlich auch nicht bereit, sich der WTO zu unterwerfen. Dafür gibt es das Amt des Handelsbeauftragten, der im Zweifelsfalle auch bilateral wirtschaftliche Interessen durchzusetzen hat, wie der amerikanisch-japanische oder neuerdings der amerikanisch-chinesische Handelskonflikt immer wieder unter Beweis stellt. Hier wird, wenn es sein muss, auch sicherheitspolitischer Druck ausgeübt, um wirtschaftliche Ziele zu erreichen. Auch gegenüber Europa sind die Amerikaner in Handelsfragen keineswegs zimperlich und gar keine Überzeugungsneoliberalen, wenn es um strategische Branchen wie den Flugzeugbau geht.

Also: Die vielfältigen Interessenkonflikte zwischen Europa und den USA, die sich in der Handels- wie in der Sicherheitspolitik zeigen, müssen ausgehalten werden. Das Pendant zu einer europäischen Industrie- und Agrarpolitik ist die GASP, die sich auf Integration im militärischen Sektor zu stützen hat. Das beginnt bei der Rüstungskooperation und endet bei einer europäischen Armee. Beides muss nicht per se gegen die USA gerichtet sein, sollte aber europäischen Interessen folgen, ganz so, wie die USA selbstverständlich ihrerseits verfahren. Ein wirtschaftlich und sozial wieder gefestigtes Europa, das auch sicherheitspolitisches Gewicht hat, ist ein viel ernst zu nehmenderer Partner im Umgang mit den genannten großen globalen Herausforderungen. Wenn ich Multilateralismus will, wenn ich das europäische Sozialmodell behaupten will, wenn ich Frieden, Demokratie und Menschenrechte weltweit fördern will, dann muss ich auch ein eigenes und eigenständiges Gewicht haben, das ich in die Waagschale werfen kann.

 

 

1

Joschka Fischer: Die Rückkehr der Geschichte. Die Welt nach dem 11. September und die Erneuerung des Westens, Köln 2005.

2

Warum meinen so viele Politiker, sie müssten in ihrer aktiven Zeit Bücher schreiben und darin zu den ganz großen Fragen dieser Welt Stellung nehmen? Jeder, der selber einmal ein wissenschaftliches, das heißt empirisch fundiertes Buch verfasst hat, weiß, wie viel Zeit das kostet, wie viel Jahre eigener Forschung, wie viel Erfahrung und wie viel intensive Lektüre und kritische Auseinandersetzung mit der Arbeit anderer dafür aufgewendet werden muss. Das gilt umso mehr, wenn es sich um einen großen Wurf handelt, eine »Meistererzählung«, wie es die Historiker nennen. Nur schwer vorstellbar ist es, dass ein Politiker, noch dazu ein viel beschäftigter und dauernd auf Reisen befindlicher Außenminister, diese Zeit erübrigen kann. Sie reicht gerade zur Lektüre von möglichst kurz gehaltenen »Executive Summaries«, die ein Referent zusammengestellt und in die Mappe gelegt hat, die im Flugzeug oder zwischen zwei Sitzungen überflogen wird. Wer kennt nicht die Bilder der Minister auf der Regierungsbank im Plenarsaal, die, statt den Abgeordneten zu lauschen, Akten durcharbeiten – ein deutlicher Hinweis auf ein strapaziertes Zeitbudget.
Deshalb – Politiker sollten das Bücherschreiben lieber den professionellen Publizisten und Wissenschaftlern überlassen und, sofern sie etwas zu sagen haben, ihre Erfahrungen nach ihrer aktiven Zeit bilanzieren, wenn sie auch die Zeit und die Muße dazu haben. Das neue Buch von Erhard Eppler (Auslaufmodell Staat?, Frankfurt am Main 2005) unterstreicht diese Aussage in jeder Hinsicht.
Wenn ein Politiker (oder sein Verleger) dennoch meint, er müsse so ganz nebenbei auch noch Bücher schreiben, muss er sich auf das verlassen, was andere für ihn zusammengetragen oder zusammengeschrieben haben, die, weil auch sie unter Zeitdruck stehen, nicht wirklich tief in die Thematik haben eindringen können. Das Verfallsdatum solcher Bücher ist rasch überschritten, ihre Wirkung rasch verpufft.

3

Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte, München 1992.

4

Robert Kagan: Macht und Ohnmacht. Amerika und Europa in der neuen Weltordnung, Berlin 2003.

5

Robert Cooper: The Breaking of Nations: Order and Chaos in the Twenty-first Century, London 2003.

6

Samuel P. Huntington: Der Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München 1996.

7

Benjamin R. Barber: Jihad vs. McWorld, New York 1995.

8

Vgl. dazu auch Ulrich Menzel: Globalisierung versus Fragmentierung, Frankfurt am Main 2001.

9

Über das Zitieren der großen Namen hinaus ist dann so viel Eigenes gar nicht mehr notwendig. Auch kompositorisch ist einiges mit heißer Nadel gestrickt, wenn nach ausufernden Exkursen nur durch schwerfällige Floskeln der rote Faden wieder aufgenommen wird.

10

Wenn die Halbwertzeit eines Buches, das einen so großen Anspruch formuliert, so gering ist, muss die Frage erlaubt sein, ob es tatsächlich den analytischen Tiefgang besitzt, den das Thema verlangt. In der freien Rede ist Fischer allemal besser.

11

Die Kapitel 1–4 und 6 sind eher eine Zitatensammlung mit überleitenden Zwischentexten nach dem Motto: Zehn Bücher gelesen und daraus ein elftes gemacht. Nahezu alle derzeit prominenten Autoren werden reichlich zitiert, in extensiver Weise sogar noch in den Anmerkungen. Der schon bei der Begutachtung des Titels geäußerte Verdacht verstärkt sich bei der Lektüre: Hier waren fleißige Zuarbeiter am Werk, deren Lesefrüchte arrangiert wurden. Der Autor hätte sie in Fußnote eins doch immerhin dankend erwähnen sollen. So drängt sich der haut goût des intellektuellen Parvenüs auf.

12

Eine Durchsicht des Literaturverzeichnisses ergibt einen weiteren überraschenden Befund. Die Masse der zitierten Autoren ist eher dem Lager des Neorealismus oder gar des klassischen Realismus von Niebuhr, Morgenthau und Dehio bis Kissinger zuzurechnen. Deshalb ist viel die Rede von Geopolitik, vom westfälischen Staatensystem, von strategischen Interessen, von Sicherheit und Gleichgewicht. Selbst das heikle Thema Türkeibeitritt zur EU wird in diesen Kategorien behandelt. Vertreter liberaler oder gar grüner Positionen finden sich kaum. Hier liegt vielleicht die Erklärung für den paradoxen Befund, dass das Buch auf weite Strecken realistisch argumentiert, obwohl es doch den Multilateralismus stark machen will. Die aufgeführten liberalen, linken oder grünen Argumente wirken eher aufgesetzt. Prägt also trotz aller gegenteiligen Beteuerungen das Amt den Autor, oder offenbaren sich hier dessen latente machtpolitische Neigungen?

13

Ulrich Menzel: Paradoxien der Neuen Weltordnung, Frankfurt am Main 2004.

 

 

»Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur«, Ausgabe 4/05.