Die Veränderung des deutschen Parteienspektrums aus Sicht
der WählerInnen
In der Diskrepanz von Reformzumutungen bei der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, der forcierten Senkung von Einkommens- und Unternehmenssteuern und dem Ausbleiben von wirtschaftlichem Aufschwung und sinkender Arbeitslosigkeit sieht unser Autor den Schlüssel für das rot-grüne Scheitern in den Augen der Mehrheit der Wählerschaft. Dabei spielt auch die wahrgenommene »Gerechtigkeitslücke« eine paradoxe Rolle. Die Folge wird unter anderem eine Veränderung des Parteiensystems sein.
Im Verlauf der Jahre 2003
und 2004 baute sich in Deutschland eine durch viele Umfragen belegte negative
Stimmung auf. Drei Viertel aller Deutschen sorgten sich schließlich um die
Arbeitslosigkeit als größtes Problem und genauso viel waren der Meinung, ihre
persönliche Situation habe sich in den letzten fünf Jahren verschlechtert oder
sei gleich geblieben. Das sind erheblich mehr als in allen anderen Ländern der
erweiterten EU, von denen viele deutlich höhere Arbeitslosen- und Armutsraten
sowie einen sehr viel niedrigeren Lebensstandard aufweisen. (vgl. Europäische
Kommmission, Eurobarometer 62: »The public opinion in the european union«). In Deutschland glaubten mit weitem Abstand die
meisten Menschen, die Arbeitslosigkeit würde im Jahr 2005 in ihrem Land
zunehmen und die wirtschaftliche Situation würde sich verschlechtern.
Entscheidend für das politische Klima in Deutschland ist aber die Erwartung von
ebenfalls drei Viertel aller Bundesbürger, dass sich die negative
Wirtschaftslage auch in den nächsten fünf Jahren nicht bessern werde.
In dieser Grundstimmung
wurde im Herbst 2004 »Hartz Vier« eingeführt und scheinbar als erstes Resultat
davon wurde die Fünf-Millionen-Marke der Arbeitslosigkeit überschritten. Eine
nähere Analyse der wirtschaftlichen und politischen Lage schien angesichts der
nur zu offenkundigen Tatsachen von über 5 Millionen Arbeitslosen, weiter
bestehenden Finanzierungsproblemen der Sozialkassen und stark ansteigender
Staatsverschuldung überflüssig zu sein. Angesichts des ausbleibenden
Wirtschaftswachstums erschien insbesondere die Senkung des Spitzensteuersatzes
und der Unternehmenssteuern als sozial ungerechte Steuergeschenke für die
Reichen, und bei der anhaltenden Verunsicherung über die Sozialleistungen
wurden die bisherigen und gleich auch noch die künftig befürchteten weiteren
Einschnitte als sinnlose Opfer der sozial ohnehin schon schlecht Gestellten
wahrgenommen.
Die Grünen sind von diesem
Dilemma spürbar weniger betroffen. Das liegt zum einen daran, dass die Grünen
identitätsstiftende weitere Themen haben (Umwelt, Frieden, Minderheitenrechte),
sodass bei ihnen die Wirtschafts- und Steuerfragen weniger zentralen Stellenwert
haben als bei den Sozialdemokraten, und zum anderen auch daran, dass ihnen die
Rolle des »Reformmotors« eher honoriert wurde. Allerdings war der Widerstand
gegen die Agenda 2010 unter den Parteiaktiven nicht weniger verbreitet als in
der SPD. Entscheidend ist daher, dass die WählerInnen der Grünen sich in diesen
wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen, anders als beim Thema Frieden, ganz
unempfindlich zeigten.
Die Serie der Landtagswahlen
während der beiden rot-grünen Regierungsperioden zeigte dies sehr deutlich:
Zwischen der Landtagswahl im Februar 1999 in Hessen und der im September 2002
in Mecklenburg-Vorpommern verloren die Grünen in 15 aufeinander folgenden
Landtagswahlen kräftig an Wählerstimmen. Die meiste Zeit spielten die innergrünen
Konflikte um die Beteiligung an Auslandseinsätzen der Bundeswehr eine große
Rolle. Die SPD hingegen verlor zwar in der ersten Phase haushoch in den
ostdeutschen Ländern, hatte aber 1999 in Bremen, 2000 in Schleswig-Holstein,
2001 in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Berlin und als Ausnahme im Osten
sogar 2002 in Mecklenburg-Vorpommern durchaus beachtliche Erfolge bei den
Wählern.
In der nächsten Runde von zehn
Landtagswahlen zwischen der Wahl im Februar 2003 in Hessen und im Februar 2005
in Schleswig Holstein verloren die Grünen nicht mehr, sondern konnten ihre
Ergebnisse wieder leicht verbessern. Zum allgemeinen politischen Hintergrund
dieser Zeit gehörte der offene Widerstand der rot-grünen Bundesregierung gegen
den Irakkrieg der USA. Die negative Stimmung in wirtschaftlichen und sozialen
Fragen schlug sich bei den Grünen bei weitem nicht so deutlich nieder wie bei
der Sozialdemokratie. Die SPD verlor in diesen Landtagswahlen zehnmal in Folge
mit teils dramatischen Einbrüchen etwa 2003 in Niedersachsen, Hessen und Bayern
(-10,3% ; -14,5% ; -9,1%), 2004 im Saarland (-13,6%). Erst im Mai 2005 verloren
schließlich SPD und Grüne gleichzeitig bei den Landtagswahlen in
Nordrhein-Westfalen (wie schon im Jahre 2000), womit die letzte und
bundespolitisch wichtigste rot-grüne Landesregierungskoalition abgelöst wurde.
Die Erosion der
Mehrheitsfähigkeit von Rot-Grün ist ein längerer Prozess, der sich in den
Jahren 2003 und 2004 verstärkte, bis er schließlich im Mai 2005 kulminierte.
Insofern der Bundeskanzler selbst mit der Regierungserklärung vom März 2003
seine Regierungspolitik unter dem Schlagwort »Agenda 2010« zusammengefasst hat,
kann man zu Recht sagen, dass die Ursache der politischen Krise der SPD darin
liegt, dass die Agenda 2010 vom sozialdemokratischen Wählerpotenzial nicht als
sozialdemokratische Politik akzeptiert wurde. Schlimmer noch: Diese Politik
wurde unter dem Schlagwort »Hartz Vier« selbst zum Menetekel und Synonym für
Arbeitslosigkeit und Sozialabbau.
Die Folgen treffen die
Sozialdemokratie ins Mark. Der Bundeskanzler hat seiner Partei eine Politik
aufgezwungen, die nicht nur zum Verlust der Mehrheit führt – ein Regierungswechsel
ist in einer Demokratie grundsätzlich ein normaler Vorgang und ist auf lange
Sicht nicht zu vermeiden. Viel folgenreicher ist, dass er eine Politik zu
verantworten hat, die die Chancen für »Die Linkspartei« eröffnete und damit der
Westausdehnung der PDS den Weg bereitete. Damit ist eine möglicherweise
folgenreiche Wende im Parteienspektrum eingeleitet. Aus sich heraus wäre die
PDS eine Regionalpartei geblieben, die nahezu keinen Einfluss auf die
bundesweite Politik hat. »Die Linkspartei« im Parlament hätte aber eine
bundespolitische Legitimation, wäre eine dauerhafte Schwächung der SPD und wird
deren programmatischen Spielraum eingrenzen und nach links verschieben.
Plötzlich öffnet sich der Weg einer relevanten Linksabspaltung von der SPD.
Schon die bloße Vertretung im Bundestag wird – wenn die Linkspartei so lange
zusammenhält – für die ganze nächste Legislaturperiode die funktionellen
Beziehungen der bundesrepublikanischen Parteien durcheinander wirbeln. Rotgrün
wird nicht mehr die einzig mögliche Alternative zu Schwarz-Gelb sein, denn mit
einer weiteren Partei von bundesweitem Anspruch im Parlament ergeben sich
völlig andere mögliche Koalitionszusammensetzungen.
Die Bewertung dieser
Veränderung hängt nun aber ganz von der Einschätzung der ökonomischen Lage und
dem realen politischen Handlungsspielraum ab. Die düstere Einschätzung der
Wirtschaftslage quer durch alle Lager der Wählerschaft bezieht sich sehr
dezidiert nur auf kleine Ausschnitte des Gesamtbildes. Betrachten wir gesamtwirtschaftliche
Größen, stellt sich das Bild anders dar: Das Bruttonationaleinkommen je
Einwohner ist von 1991 bis 1997 nur um 4 Indexpunkte, von 1998 bis 2004 dagegen
um 9 Punkte gestiegen. Die Unternehmens- und Vermögenseinkommen stiegen seit
1998 um 19 Punkte, die Nettolöhne und Gehälter um 15 Punkte. Ganz im Gegensatz
zur verbreiteten Wahrnehmung, dass die Sozialleistungen umfassend gekürzt
worden wären, haben sie sich exorbitant vergrößert: die Leistungen der
Sozialversicherungen stiegen um 22 Punkte, die der Arbeitgeber und privaten
Sicherungssysteme um 27 Punkte und die der Gebietskörperschaften sogar um 38
Punkte. Im Jahr 2004 betrugen die Nettolöhne und Gehälter rund 600 Milliarden
Euro, die Unternehmens- und Vermögenseinkommen rund 470 Milliarden Euro und die
sozialen Leistungen 455 Milliarden Euro. Anders ausgedrückt: Auf jeden
verdienten Euro entfallen bereits fast 50 Cent an Sozialleistungen. Wer in
einer solchen Lage fordert, dass gesamtgesellschaftlich zunächst die
Sozialleistungen statt die Einkommen erhöht werden müssten, sieht die Welt nur
aus der Perspektive derjenigen, die individuell weniger Sozialleistungen
erhalten und beachtet dabei nicht, dass erheblich mehr Menschen von der
Umverteilung versorgt werden müssen, und vor allem nicht, wer das denn bezahlen
soll. Angesichts von bereits 455 Milliarden Euro Sozialleistungen ist auch die
Einführung einer Reichensteuer oder Vermögenssteuer von 1 bis 2 Milliarden Euro
leider nur ein Tropfen auf den heißen Stein und ändert nichts daran, dass das
Gros der Umverteilung von den Erwerbstätigen getragen werden muss. Das zentrale
wirtschaftliche Problem des Landes drückt sich nicht in zu geringen
Sozialleistungen, sondern vielmehr darin aus, dass es in den letzten fünf
Jahren zwar 300000
Bundesbürger mehr, aber 500000 Arbeitnehmer weniger gibt und darüber hinaus noch deutlich
kürzer gearbeitet wurde. Dennoch sind die Lohnkosten gestiegen – weniger
Erwerbstätige müssen wachsende Sozialleistungen finanzieren – und die
Arbeitnehmer haben erreicht, dass ihre Bruttolöhne schneller stiegen als ihre
Produktivität. Dies hat zur Folge, dass ein schrumpfendes Arbeitspotenzial bei
gesellschaftlich exorbitant steigenden Sozialleistungen auch noch zu steigenden
Lohnstückkosten beschäftigt wird.
Für jedwede Regierungspolitik
folgen aus dieser Entwicklung entscheidende Restriktionen: Die Steuereinnahmen
gehen zurück oder nehmen weniger zu, die Sozialleistungen explodieren aus Sicht
des Staatshaushalts und treiben die Lohnnebenkosten in die Höhe, die
Finanzierungsprobleme des Renten- und Gesundheitswesens verschärfen sich und
vor allem steckt die Wirtschaft in einem negativen Zirkel von stagnierendem
Konsum und sinkenden Investitionen. Die Schulden der öffentlichen Haushalte
stiegen allein von 2001 bis 2003 von 30000 auf 35000 Euro je Erwerbstätigen und werden bis 2005
wahrscheinlich noch beschleunigt gewachsen sein.
Je nach politischer Farbe
werden für diesen in der Tat bejammernswerten Zustand auf der einen Seite
»Heuschrecken«, die Globalisierung und der Neoliberalismus oder auf der anderen
Seite der inflexible Arbeitsmarkt, die Gewerkschaften sowie zu hohe Löhne und Sozialleistungen
verantwortlich gemacht. Landes- und Bundesregierungen von PDS, Grünen, SPD,
CDU, CSU bis FDP versuchen die Staatshaushalte zu konsolidieren, die Ausgaben
zu begrenzen – das heißt Sozial- und andere Leistungen zu kürzen, die
Wirtschaft zum Investieren zu ermuntern und die so genannten wirtschaftlichen
Rahmenbedingungen zu verbessern – das heißt Abgaben, Vorschriften und
Arbeitnehmerrechte mehr oder weniger stark zurückzunehmen. Insofern alle
Möglichkeiten der Gestaltung der Gesellschaft durch Verbesserung sozialer
Leistungen, Ausbau der Infrastruktur, Durchsetzung weiterer Regulierungen,
Subventionierung erwünschter und Verbot unerwünschter wirtschaftlicher
Aktivitäten stark beschnitten sind, sehen wir auch eine Tendenz zur Selbstabschaffung
der Politik in der Exekution der Sanierungspolitik. Selbst der allseits
begrüßte Abbau von »Bürokratisierung« ist eine Rücknahme der politischen
Rückwirkung der Gesellschaft auf die Marktgesellschaft.
Hoch entwickelte und
demokratische Sozialstaaten wie Deutschland stehen im weltweiten Wettbewerb in
einer schwierigen Rolle. Auf der einen Seite drängen die exportorientierten
Unternehmen auf eine Liberalisierung des Welthandels und auf
Investitionsfreiheit im Rest der Welt, auf der anderen Seite setzt auch nur die
Aufrechterhaltung der hohen Sozialstandards eine wirtschaftliche
Spitzenposition voraus. Damit werden die Sozialleistungen selbst zu einer
Funktion im weltweiten Wettbewerb, insofern sie faktisch nur für den Sieger in
der Globalisierung bezahlbar bleiben. Derselbe Prozess führt allerdings
Billigkonkurrenz ins Land und führt zu EU-weitem Druck auf Angleichung von
Sozialstandards und rechtlichen Regelungen. Angleichung der Regulierungen heißt
für die Spitze aber immer Reduktion – ein Aufholen zu einer besseren
Entwicklung ist zunächst die Chance der weniger begüterten. Unter anderem auch
deshalb wird der Erweiterungsprozess der Union von den Arbeitnehmern der
»alten« EU-Länder so skeptisch beurteilt.
In demokratischen
Wohlfahrtsstaaten kann sich die Mehrheit über den Wahlmechanismus zwar nicht
unmittelbar Bedürfnisbefriedigung verschaffen, sie kann sich aber immer insofern
durchsetzen, als sie Regierungen abwählt, wenn deren Politik im Ergebnis ihren
grundlegenden Erwartungen nicht entgegenkommt. Es ist als politische Konstante
davon auszugehen, dass bei intakten demokratischen Verhältnissen die Mehrheit
nicht auf Dauer dem Abbau sozialer Rechte, erworbener Ansprüche und der
Verschlechterung ihrer Lebensqualität zustimmt.
Unter diesen Bedingungen
besteht das Problem der Politik darin, dass die wirtschaftlich erzwungenen
Anpassungsmaßnahmen der Institutionen nicht zu einer Schlechterstellung der die
Politik tragenden gesellschaftlichen Gruppen führen dürfen, sondern auch reale
Verbesserungschancen eröffnen müssen. Kompliziert wird dies dadurch, dass das
Bündel der realistischen Anpassungsmaßnahmen im Kern nicht den grundlegenden
Zielen konservativer, sozialdemokratischer oder grüner Politik entspricht. Als
quasi Ersatzhandlung ist in allen politischen Lagern ein Hang zur inhaltsleeren
Zuspitzung oder wechselseitigen Beschimpfung zu beobachten, mit dem die im
Grunde identischen Maßnahmen mal als Heilswerkzeug für den eigenen Kurs
gepriesen, mal als Teufelswerk des politischen Gegners verunglimpft werden. Das
deutsche politische System gibt mit seinem Föderalismus dafür über den
Bundesrat ein Instrument in die Hand, um Maßnahmen zu blockieren, die man an
anderer Stelle selbst verlangt oder gar umgesetzt hatte. Ein Teil der zunehmenden
Politikverdrossenheit geht auf das Konto des politischen Betriebs selbst.
Unter den in
Wohlfahrtsdemokratien einzukalkulierenden Wählerreaktionen muss eine erfolgreiche
Politik irgendetwas »Besseres« für die Sanierungspolitik »geben«. Das »Bessere«
wäre – wie es in Großbritannien unter Tony Blair möglich war – eine deutliche
Senkung der Arbeitslosenrate und eine soziale Aufwärtsmobilität, hinreichend
zur Bewahrung der politischen Loyalität der Mehrheit. Die gleiche Funktion
könnte – wie es eher Haider in Österreich verkörperte – eine Steigerung des
nationalen Selbstgefühls erfüllen.
Auf keinen Fall darf die
Sanierungspolitik gegen die grundlegenden Werte und Überzeugungen derjenigen
verstoßen, die sie politisch tragen sollen. Das hat sich allerdings Gerhard
Schröder leisten wollen. Nachträglich stellt sich als der entscheidende Fehler
heraus, dass das Gerechtigkeitsgefühl der potenziellen Wähler und der Partei
gröblich verletzt wurde, als der Spitzensteuersatz dermaßen gesenkt wurde und
die Vermögensteuer abgeschafft blieb. Es wurde völlig unterschätzt, dass ein
Teil der Arbeitslosenhilfeempfänger geradezu den moralischen Kern der eigenen
Klientel darstellt – Arbeitnehmer, die nach einem langen Arbeitsleben gegen
ihren Willen und unverschuldet arbeitslos waren, deren einzige Hoffnung auf ein
menschenwürdiges Leben der Sozialstaat ist, die aber in der Verunsicherung der
Umsetzung von Hartz Vier meinten, sie würden nunmehr gedemütigt und in die
Armut herabgedrückt. Die gleichzeitige Zuspitzung auf Steuersenkung auf der
einen und Sozialleistungseinschränkung auf der anderen Seite hatte den Bogen
weit überspannt. Die Entfremdung zwischen schröderschem Kurs und Partei und
Fraktion hat im Übrigen eine längere Geschichte: Einzelgesetze wurden im
Parlament gegen die eigene Fraktion mit Rücktrittsdrohungen und
Kanzlermehrheiten durchgesetzt, Clement wurde als Verbündeter im Kabinett als
Superminister installiert, Schröder trat als Parteivorsitzender zurück um freie
Hand zu haben. Da aber die Differenz eben den politischen Kurs betraf und nicht
dessen Kommunikation, konnte auch Müntefering hier nichts ausrichten. Im
traurigen Endergebnis wird ein größerer Teil des sozialdemokratischen
Wählerspektrums freigesetzt.
Den Unionsparteien und der
FDP fallen also Früchte in den Schoß, die sie nicht selbst verdient haben. In der
Wahrnehmung der Mehrheit der Wähler galten sie wegen ihrer größeren Nähe zur
»Wirtschaft« schon immer auch als kompetenter in wirtschaftlichen Fragen. Die
Union ist als mehrheitsfähige Volkspartei der Idee der sozialen Gerechtigkeit
verpflichtet – die Vorstellung, die SPD habe diese Idee allein für sich
gepachtet, gehört ins Arsenal parteipolitischer Polemik. Aus Sicht vieler
Wähler ist das Auswechseln einer in der Wirtschaftsankurbelung erfolglosen
Regierung durch eine wirtschaftsnähere Regierung nicht unbedingt irrationaler
als etwa die Idee, durch Hartz Vier würden mehr Arbeitsplätze geschaffen.
Der Wahlkampf findet in
einer Stimmung statt, in der die Wähler ganz auf das Problem der
Arbeitslosigkeit und der befürchteten sozialen Schlechterstellung fixiert sind.
Das eröffnet wie kaum zuvor die Möglichkeit, an soziale Vorurteile zu
appellieren, also an vergangene bessere Zeiten zu erinnern, mehr Umverteilung
zu fordern und Sündenböcke (Ausländer und Reiche) zu finden. Das rechtsradikale
Potenzial der Wählerschaft – immerhin 10 bis 15 Prozent – ist dafür genauso
empfänglich wie ein Teil des sozialdemokratischen.
Gelingt es der Linkspartei,
sich in der nächsten Legislaturperiode als bundesweite Kraft zu behaupten,
werden sich die funktionellen Beziehungen der Parteien möglicherweise stärker
ändern als die Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik der Regierung.
Die wichtige Veränderung
liegt nicht so sehr darin, dass Wähler von SPD und Grünen zur Linkspartei
übergehen, sondern in der Folge, dass die mögliche zukünftige Mehrheitsfähigkeit
von Rot-Grün erschwert wird, solange im gleichen politischen Lager noch eine weitere
Partei im Bundestag vertreten ist. Eine erneute rot-grüne Mehrheit auf
Bundesebene ist dann genauso wenig zu erwarten wie in den Ländern Ostdeutschlands
und Berlins, weil die durch die Linkspartei gebundenen Wähler immer eher aus
dem Wählerpotenzial von SPD und Grünen als aus dem der Unionsparteien oder FDP
kommen. Daran ändert auch nichts, dass möglicherweise in Westdeutschland
überwiegend bisherige Nichtwähler die Linkspartei wählen.
Das Bild einer möglichen
Dreierkoalition mit eindeutig linker Ausrichtung erscheint sofort. Wenn es
nicht direkt von den Protagonisten selbst angestrebt wird, wird es schon von
den Wahlkämpfern von Union und FDP an die Wand gemalt werden. Damit scheint
eine absolut überholte Rechts-Links-Polarisierung des Parteienspektrums zu
drohen. Die SPD müsste zudem die Linkspartei (zum Mindesten im Westen) als
Abspaltung empfinden und sich für deren Wähler mit entsprechenden programmatischen
Zugeständnissen anbieten (wie schon geschehen).
Das bundesrepublikanische
Parteienspektrum würde damit überraschenderweise ein wenig demjenigen von
Berlin ähnlicher. Bezeichnend hier ist allerdings, das der rot-rote Senat
durchaus nicht als links erscheint und die PDS in Berlin eine äußerst
restriktive Sanierungspolitik mitträgt und selbst den Wirtschaftssenator
stellt, der sich anerkanntermaßen um jede Förderung der Berliner Unternehmen
bemüht. Insofern ist die weitere Entwicklung der Linkspartei als populistische
Alternative überhaupt noch nicht ausgemacht. Auf der anderen Seite ist eine
weitere Besonderheit des Berliner Parteienspektrums die absolute Schwäche der
CDU, die auf der Bundesebene in gar keiner Weise gegeben ist.
Angesichts der Stimmung in
der Wählerschaft ist es in der Tat schwierig, im Jahr 2005 mit anderen als
wirtschafts- und sozialpolitischen Themen durchzudringen. Der Eigensinn der
gewachsenen, meist korporativ gesicherten Umverteilung und sozialstaatlicher
Absicherung in der Bundesrepublik Deutschland hat sich gegen die harschen
Zwänge internationaler Konkurrenz und angesichts der weltweiten Mobilität des
Kapitals bislang sowohl gegen kohlsche als auch gegen schrödersche Reformen
überraschend stark behauptet. Die nächste Bundesregierung wird es dabei nur
noch schwerer haben.
»Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur«, Ausgabe
4/05.