Peter Lohauß

 

Erosion und Neuformierung

 

Die Veränderung des deutschen Parteienspektrums aus Sicht der WählerInnen

 

 

 

In der Diskrepanz von Reformzumutungen bei der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, der forcierten Senkung von Einkommens- und Unternehmenssteuern und dem Ausbleiben von wirtschaftlichem Aufschwung und sinkender Arbeitslosigkeit sieht unser Autor den Schlüssel für das rot-grüne Scheitern in den Augen der Mehrheit der Wählerschaft. Dabei spielt auch die wahrgenommene »Gerechtigkeitslücke« eine paradoxe Rolle. Die Folge wird unter anderem eine Veränderung des Parteiensystems sein.

 

Im Verlauf der Jahre 2003 und 2004 baute sich in Deutschland eine durch viele Umfragen belegte negative Stimmung auf. Drei Viertel aller Deutschen sorgten sich schließlich um die Arbeitslosigkeit als größtes Problem und genauso viel waren der Meinung, ihre persönliche Situation habe sich in den letzten fünf Jahren verschlechtert oder sei gleich geblieben. Das sind erheblich mehr als in allen anderen Ländern der erweiterten EU, von denen viele deutlich höhere Arbeitslosen- und Armutsraten sowie einen sehr viel niedrigeren Lebensstandard aufweisen. (vgl. Europäische Kommmission, Eurobarometer 62: »The public opinion in the european union«). In Deutschland glaubten mit weitem Abstand die meisten Menschen, die Arbeitslosigkeit würde im Jahr 2005 in ihrem Land zunehmen und die wirtschaftliche Situation würde sich verschlechtern. Entscheidend für das politische Klima in Deutschland ist aber die Erwartung von ebenfalls drei Viertel aller Bundesbürger, dass sich die negative Wirtschaftslage auch in den nächsten fünf Jahren nicht bessern werde.

In dieser Grundstimmung wurde im Herbst 2004 »Hartz Vier« eingeführt und scheinbar als erstes Resultat davon wurde die Fünf-Millionen-Marke der Arbeitslosigkeit überschritten. Eine nähere Analyse der wirtschaftlichen und politischen Lage schien angesichts der nur zu offenkundigen Tatsachen von über 5 Millionen Arbeitslosen, weiter bestehenden Finanzierungsproblemen der Sozialkassen und stark ansteigender Staatsverschuldung überflüssig zu sein. Angesichts des ausbleibenden Wirtschaftswachstums erschien insbesondere die Senkung des Spitzensteuersatzes und der Unternehmenssteuern als sozial ungerechte Steuergeschenke für die Reichen, und bei der anhaltenden Verunsicherung über die Sozialleistungen wurden die bisherigen und gleich auch noch die künftig befürchteten weiteren Einschnitte als sinnlose Opfer der sozial ohnehin schon schlecht Gestellten wahrgenommen.

Die Grünen sind von diesem Dilemma spürbar weniger betroffen. Das liegt zum einen daran, dass die Grünen identitätsstiftende weitere Themen haben (Umwelt, Frieden, Minderheitenrechte), sodass bei ihnen die Wirtschafts- und Steuerfragen weniger zentralen Stellenwert haben als bei den Sozialdemokraten, und zum anderen auch daran, dass ihnen die Rolle des »Reformmotors« eher honoriert wurde. Allerdings war der Widerstand gegen die Agenda 2010 unter den Parteiaktiven nicht weniger verbreitet als in der SPD. Entscheidend ist daher, dass die WählerInnen der Grünen sich in diesen wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen, anders als beim Thema Frieden, ganz unempfindlich zeigten.

Die Serie der Landtagswahlen während der beiden rot-grünen Regierungsperioden zeigte dies sehr deutlich: Zwischen der Landtagswahl im Februar 1999 in Hessen und der im September 2002 in Mecklenburg-Vorpommern verloren die Grünen in 15 aufeinander folgenden Landtagswahlen kräftig an Wählerstimmen. Die meiste Zeit spielten die innergrünen Konflikte um die Beteiligung an Auslandseinsätzen der Bundeswehr eine große Rolle. Die SPD hingegen verlor zwar in der ersten Phase haushoch in den ostdeutschen Ländern, hatte aber 1999 in Bremen, 2000 in Schleswig-Holstein, 2001 in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Berlin und als Ausnahme im Osten sogar 2002 in Mecklenburg-Vorpommern durchaus beachtliche Erfolge bei den Wählern.

In der nächsten Runde von zehn Landtagswahlen zwischen der Wahl im Februar 2003 in Hessen und im Februar 2005 in Schleswig Holstein verloren die Grünen nicht mehr, sondern konnten ihre Ergebnisse wieder leicht verbessern. Zum allgemeinen politischen Hintergrund dieser Zeit gehörte der offene Widerstand der rot-grünen Bundesregierung gegen den Irakkrieg der USA. Die negative Stimmung in wirtschaftlichen und sozialen Fragen schlug sich bei den Grünen bei weitem nicht so deutlich nieder wie bei der Sozialdemokratie. Die SPD verlor in diesen Landtagswahlen zehnmal in Folge mit teils dramatischen Einbrüchen etwa 2003 in Niedersachsen, Hessen und Bayern (-10,3% ; -14,5% ; -9,1%), 2004 im Saarland (-13,6%). Erst im Mai 2005 verloren schließlich SPD und Grüne gleichzeitig bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen (wie schon im Jahre 2000), womit die letzte und bundespolitisch wichtigste rot-grüne Landesregierungskoalition abgelöst wurde.

Die Erosion der Mehrheitsfähigkeit von Rot-Grün ist ein längerer Prozess, der sich in den Jahren 2003 und 2004 verstärkte, bis er schließlich im Mai 2005 kulminierte. Insofern der Bundeskanzler selbst mit der Regierungserklärung vom März 2003 seine Regierungspolitik unter dem Schlagwort »Agenda 2010« zusammengefasst hat, kann man zu Recht sagen, dass die Ursache der politischen Krise der SPD darin liegt, dass die Agenda 2010 vom sozialdemokratischen Wählerpotenzial nicht als sozialdemokratische Politik akzeptiert wurde. Schlimmer noch: Diese Politik wurde unter dem Schlagwort »Hartz Vier« selbst zum Menetekel und Synonym für Arbeitslosigkeit und Sozialabbau.

Die Folgen treffen die Sozialdemokratie ins Mark. Der Bundeskanzler hat seiner Partei eine Politik aufgezwungen, die nicht nur zum Verlust der Mehrheit führt – ein Regierungswechsel ist in einer Demokratie grundsätzlich ein normaler Vorgang und ist auf lange Sicht nicht zu vermeiden. Viel folgenreicher ist, dass er eine Politik zu verantworten hat, die die Chancen für »Die Linkspartei« eröffnete und damit der Westausdehnung der PDS den Weg bereitete. Damit ist eine möglicherweise folgenreiche Wende im Parteienspektrum eingeleitet. Aus sich heraus wäre die PDS eine Regionalpartei geblieben, die nahezu keinen Einfluss auf die bundesweite Politik hat. »Die Linkspartei« im Parlament hätte aber eine bundespolitische Legitimation, wäre eine dauerhafte Schwächung der SPD und wird deren programmatischen Spielraum eingrenzen und nach links verschieben. Plötzlich öffnet sich der Weg einer relevanten Linksabspaltung von der SPD. Schon die bloße Vertretung im Bundestag wird – wenn die Linkspartei so lange zusammenhält – für die ganze nächste Legislaturperiode die funktionellen Beziehungen der bundesrepublikanischen Parteien durcheinander wirbeln. Rotgrün wird nicht mehr die einzig mögliche Alternative zu Schwarz-Gelb sein, denn mit einer weiteren Partei von bundesweitem Anspruch im Parlament ergeben sich völlig andere mögliche Koalitionszusammensetzungen.

 

Die wirtschaftlichen Ursachen der politischen Krise

Die Bewertung dieser Veränderung hängt nun aber ganz von der Einschätzung der ökonomischen Lage und dem realen politischen Handlungsspielraum ab. Die düstere Einschätzung der Wirtschaftslage quer durch alle Lager der Wählerschaft bezieht sich sehr dezidiert nur auf kleine Ausschnitte des Gesamtbildes. Betrachten wir gesamtwirtschaftliche Größen, stellt sich das Bild anders dar: Das Bruttonationaleinkommen je Einwohner ist von 1991 bis 1997 nur um 4 Indexpunkte, von 1998 bis 2004 dagegen um 9 Punkte gestiegen. Die Unternehmens- und Vermögenseinkommen stiegen seit 1998 um 19 Punkte, die Nettolöhne und Gehälter um 15 Punkte. Ganz im Gegensatz zur verbreiteten Wahrnehmung, dass die Sozialleistungen umfassend gekürzt worden wären, haben sie sich exorbitant vergrößert: die Leistungen der Sozialversicherungen stiegen um 22 Punkte, die der Arbeitgeber und privaten Sicherungssysteme um 27 Punkte und die der Gebietskörperschaften sogar um 38 Punkte. Im Jahr 2004 betrugen die Nettolöhne und Gehälter rund 600 Milliarden Euro, die Unternehmens- und Vermögenseinkommen rund 470 Milliarden Euro und die sozialen Leistungen 455 Milliarden Euro. Anders ausgedrückt: Auf jeden verdienten Euro entfallen bereits fast 50 Cent an Sozialleistungen. Wer in einer solchen Lage fordert, dass gesamtgesellschaftlich zunächst die Sozialleistungen statt die Einkommen erhöht werden müssten, sieht die Welt nur aus der Perspektive derjenigen, die individuell weniger Sozialleistungen erhalten und beachtet dabei nicht, dass erheblich mehr Menschen von der Umverteilung versorgt werden müssen, und vor allem nicht, wer das denn bezahlen soll. Angesichts von bereits 455 Milliarden Euro Sozialleistungen ist auch die Einführung einer Reichensteuer oder Vermögenssteuer von 1 bis 2 Milliarden Euro leider nur ein Tropfen auf den heißen Stein und ändert nichts daran, dass das Gros der Umverteilung von den Erwerbstätigen getragen werden muss. Das zentrale wirtschaftliche Problem des Landes drückt sich nicht in zu geringen Sozialleistungen, sondern vielmehr darin aus, dass es in den letzten fünf Jahren zwar 300000 Bundesbürger mehr, aber 500000 Arbeitnehmer weniger gibt und darüber hinaus noch deutlich kürzer gearbeitet wurde. Dennoch sind die Lohnkosten gestiegen – weniger Erwerbstätige müssen wachsende Sozialleistungen finanzieren – und die Arbeitnehmer haben erreicht, dass ihre Bruttolöhne schneller stiegen als ihre Produktivität. Dies hat zur Folge, dass ein schrumpfendes Arbeitspotenzial bei gesellschaftlich exorbitant steigenden Sozialleistungen auch noch zu steigenden Lohnstückkosten beschäftigt wird.

Für jedwede Regierungspolitik folgen aus dieser Entwicklung entscheidende Restriktionen: Die Steuereinnahmen gehen zurück oder nehmen weniger zu, die Sozialleistungen explodieren aus Sicht des Staatshaushalts und treiben die Lohnnebenkosten in die Höhe, die Finanzierungsprobleme des Renten- und Gesundheitswesens verschärfen sich und vor allem steckt die Wirtschaft in einem negativen Zirkel von stagnierendem Konsum und sinkenden Investitionen. Die Schulden der öffentlichen Haushalte stiegen allein von 2001 bis 2003 von 30000 auf 35000 Euro je Erwerbstätigen und werden bis 2005 wahrscheinlich noch beschleunigt gewachsen sein.

Je nach politischer Farbe werden für diesen in der Tat bejammernswerten Zustand auf der einen Seite »Heuschrecken«, die Globalisierung und der Neoliberalismus oder auf der anderen Seite der inflexible Arbeitsmarkt, die Gewerkschaften sowie zu hohe Löhne und Sozialleistungen verantwortlich gemacht. Landes- und Bundesregierungen von PDS, Grünen, SPD, CDU, CSU bis FDP versuchen die Staatshaushalte zu konsolidieren, die Ausgaben zu begrenzen – das heißt Sozial- und andere Leistungen zu kürzen, die Wirtschaft zum Investieren zu ermuntern und die so genannten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu verbessern – das heißt Abgaben, Vorschriften und Arbeitnehmerrechte mehr oder weniger stark zurückzunehmen. Insofern alle Möglichkeiten der Gestaltung der Gesellschaft durch Verbesserung sozialer Leistungen, Ausbau der Infrastruktur, Durchsetzung weiterer Regulierungen, Subventionierung erwünschter und Verbot unerwünschter wirtschaftlicher Aktivitäten stark beschnitten sind, sehen wir auch eine Tendenz zur Selbstabschaffung der Politik in der Exekution der Sanierungspolitik. Selbst der allseits begrüßte Abbau von »Bürokratisierung« ist eine Rücknahme der politischen Rückwirkung der Gesellschaft auf die Marktgesellschaft.

 

Widersprüche der Sanierungspolitik in Wohlfahrtsdemokratien

Hoch entwickelte und demokratische Sozialstaaten wie Deutschland stehen im weltweiten Wettbewerb in einer schwierigen Rolle. Auf der einen Seite drängen die exportorientierten Unternehmen auf eine Liberalisierung des Welthandels und auf Investitionsfreiheit im Rest der Welt, auf der anderen Seite setzt auch nur die Aufrechterhaltung der hohen Sozialstandards eine wirtschaftliche Spitzenposition voraus. Damit werden die Sozialleistungen selbst zu einer Funktion im weltweiten Wettbewerb, insofern sie faktisch nur für den Sieger in der Globalisierung bezahlbar bleiben. Derselbe Prozess führt allerdings Billigkonkurrenz ins Land und führt zu EU-weitem Druck auf Angleichung von Sozialstandards und rechtlichen Regelungen. Angleichung der Regulierungen heißt für die Spitze aber immer Reduktion – ein Aufholen zu einer besseren Entwicklung ist zunächst die Chance der weniger begüterten. Unter anderem auch deshalb wird der Erweiterungsprozess der Union von den Arbeitnehmern der »alten« EU-Länder so skeptisch beurteilt.

In demokratischen Wohlfahrtsstaaten kann sich die Mehrheit über den Wahlmechanismus zwar nicht unmittelbar Bedürfnisbefriedigung verschaffen, sie kann sich aber immer insofern durchsetzen, als sie Regierungen abwählt, wenn deren Politik im Ergebnis ihren grundlegenden Erwartungen nicht entgegenkommt. Es ist als politische Konstante davon auszugehen, dass bei intakten demokratischen Verhältnissen die Mehrheit nicht auf Dauer dem Abbau sozialer Rechte, erworbener Ansprüche und der Verschlechterung ihrer Lebensqualität zustimmt.

Unter diesen Bedingungen besteht das Problem der Politik darin, dass die wirtschaftlich erzwungenen Anpassungsmaßnahmen der Institutionen nicht zu einer Schlechterstellung der die Politik tragenden gesellschaftlichen Gruppen führen dürfen, sondern auch reale Verbesserungschancen eröffnen müssen. Kompliziert wird dies dadurch, dass das Bündel der realistischen Anpassungsmaßnahmen im Kern nicht den grundlegenden Zielen konservativer, sozialdemokratischer oder grüner Politik entspricht. Als quasi Ersatzhandlung ist in allen politischen Lagern ein Hang zur inhaltsleeren Zuspitzung oder wechselseitigen Beschimpfung zu beobachten, mit dem die im Grunde identischen Maßnahmen mal als Heilswerkzeug für den eigenen Kurs gepriesen, mal als Teufelswerk des politischen Gegners verunglimpft werden. Das deutsche politische System gibt mit seinem Föderalismus dafür über den Bundesrat ein Instrument in die Hand, um Maßnahmen zu blockieren, die man an anderer Stelle selbst verlangt oder gar umgesetzt hatte. Ein Teil der zunehmenden Politikverdrossenheit geht auf das Konto des politischen Betriebs selbst.

Unter den in Wohlfahrtsdemokratien einzukalkulierenden Wählerreaktionen muss eine erfolgreiche Politik irgendetwas »Besseres« für die Sanierungspolitik »geben«. Das »Bessere« wäre – wie es in Großbritannien unter Tony Blair möglich war – eine deutliche Senkung der Arbeitslosenrate und eine soziale Aufwärtsmobilität, hinreichend zur Bewahrung der politischen Loyalität der Mehrheit. Die gleiche Funktion könnte – wie es eher Haider in Österreich verkörperte – eine Steigerung des nationalen Selbstgefühls erfüllen.

 

Die Veränderung des Parteienspektrums

Auf keinen Fall darf die Sanierungspolitik gegen die grundlegenden Werte und Überzeugungen derjenigen verstoßen, die sie politisch tragen sollen. Das hat sich allerdings Gerhard Schröder leisten wollen. Nachträglich stellt sich als der entscheidende Fehler heraus, dass das Gerechtigkeitsgefühl der potenziellen Wähler und der Partei gröblich verletzt wurde, als der Spitzensteuersatz dermaßen gesenkt wurde und die Vermögensteuer abgeschafft blieb. Es wurde völlig unterschätzt, dass ein Teil der Arbeitslosenhilfeempfänger geradezu den moralischen Kern der eigenen Klientel darstellt – Arbeitnehmer, die nach einem langen Arbeitsleben gegen ihren Willen und unverschuldet arbeitslos waren, deren einzige Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben der Sozialstaat ist, die aber in der Verunsicherung der Umsetzung von Hartz Vier meinten, sie würden nunmehr gedemütigt und in die Armut herabgedrückt. Die gleichzeitige Zuspitzung auf Steuersenkung auf der einen und Sozialleistungseinschränkung auf der anderen Seite hatte den Bogen weit überspannt. Die Entfremdung zwischen schröderschem Kurs und Partei und Fraktion hat im Übrigen eine längere Geschichte: Einzelgesetze wurden im Parlament gegen die eigene Fraktion mit Rücktrittsdrohungen und Kanzlermehrheiten durchgesetzt, Clement wurde als Verbündeter im Kabinett als Superminister installiert, Schröder trat als Parteivorsitzender zurück um freie Hand zu haben. Da aber die Differenz eben den politischen Kurs betraf und nicht dessen Kommunikation, konnte auch Müntefering hier nichts ausrichten. Im traurigen Endergebnis wird ein größerer Teil des sozialdemokratischen Wählerspektrums freigesetzt.

Den Unionsparteien und der FDP fallen also Früchte in den Schoß, die sie nicht selbst verdient haben. In der Wahrnehmung der Mehrheit der Wähler galten sie wegen ihrer größeren Nähe zur »Wirtschaft« schon immer auch als kompetenter in wirtschaftlichen Fragen. Die Union ist als mehrheitsfähige Volkspartei der Idee der sozialen Gerechtigkeit verpflichtet – die Vorstellung, die SPD habe diese Idee allein für sich gepachtet, gehört ins Arsenal parteipolitischer Polemik. Aus Sicht vieler Wähler ist das Auswechseln einer in der Wirtschaftsankurbelung erfolglosen Regierung durch eine wirtschaftsnähere Regierung nicht unbedingt irrationaler als etwa die Idee, durch Hartz Vier würden mehr Arbeitsplätze geschaffen.

Der Wahlkampf findet in einer Stimmung statt, in der die Wähler ganz auf das Problem der Arbeitslosigkeit und der befürchteten sozialen Schlechterstellung fixiert sind. Das eröffnet wie kaum zuvor die Möglichkeit, an soziale Vorurteile zu appellieren, also an vergangene bessere Zeiten zu erinnern, mehr Umverteilung zu fordern und Sündenböcke (Ausländer und Reiche) zu finden. Das rechtsradikale Potenzial der Wählerschaft – immerhin 10 bis 15 Prozent – ist dafür genauso empfänglich wie ein Teil des sozialdemokratischen.

Gelingt es der Linkspartei, sich in der nächsten Legislaturperiode als bundesweite Kraft zu behaupten, werden sich die funktionellen Beziehungen der Parteien möglicherweise stärker ändern als die Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik der Regierung.

Die wichtige Veränderung liegt nicht so sehr darin, dass Wähler von SPD und Grünen zur Linkspartei übergehen, sondern in der Folge, dass die mögliche zukünftige Mehrheitsfähigkeit von Rot-Grün erschwert wird, solange im gleichen politischen Lager noch eine weitere Partei im Bundestag vertreten ist. Eine erneute rot-grüne Mehrheit auf Bundesebene ist dann genauso wenig zu erwarten wie in den Ländern Ostdeutschlands und Berlins, weil die durch die Linkspartei gebundenen Wähler immer eher aus dem Wählerpotenzial von SPD und Grünen als aus dem der Unionsparteien oder FDP kommen. Daran ändert auch nichts, dass möglicherweise in Westdeutschland überwiegend bisherige Nichtwähler die Linkspartei wählen.

Das Bild einer möglichen Dreierkoalition mit eindeutig linker Ausrichtung erscheint sofort. Wenn es nicht direkt von den Protagonisten selbst angestrebt wird, wird es schon von den Wahlkämpfern von Union und FDP an die Wand gemalt werden. Damit scheint eine absolut überholte Rechts-Links-Polarisierung des Parteienspektrums zu drohen. Die SPD müsste zudem die Linkspartei (zum Mindesten im Westen) als Abspaltung empfinden und sich für deren Wähler mit entsprechenden programmatischen Zugeständnissen anbieten (wie schon geschehen).

Das bundesrepublikanische Parteienspektrum würde damit überraschenderweise ein wenig demjenigen von Berlin ähnlicher. Bezeichnend hier ist allerdings, das der rot-rote Senat durchaus nicht als links erscheint und die PDS in Berlin eine äußerst restriktive Sanierungspolitik mitträgt und selbst den Wirtschaftssenator stellt, der sich anerkanntermaßen um jede Förderung der Berliner Unternehmen bemüht. Insofern ist die weitere Entwicklung der Linkspartei als populistische Alternative überhaupt noch nicht ausgemacht. Auf der anderen Seite ist eine weitere Besonderheit des Berliner Parteienspektrums die absolute Schwäche der CDU, die auf der Bundesebene in gar keiner Weise gegeben ist.

Angesichts der Stimmung in der Wählerschaft ist es in der Tat schwierig, im Jahr 2005 mit anderen als wirtschafts- und sozialpolitischen Themen durchzudringen. Der Eigensinn der gewachsenen, meist korporativ gesicherten Umverteilung und sozialstaatlicher Absicherung in der Bundesrepublik Deutschland hat sich gegen die harschen Zwänge internationaler Konkurrenz und angesichts der weltweiten Mobilität des Kapitals bislang sowohl gegen kohlsche als auch gegen schrödersche Reformen überraschend stark behauptet. Die nächste Bundesregierung wird es dabei nur noch schwerer haben.

 

»Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur«, Ausgabe 4/05.